10:01

Max Romberg saß auf dem Fahrersitz und rauchte. Er hatte seinen Wagen im Schatten geparkt und die vorderen Scheiben heruntergelassen, so dass die Hitze gerade noch auszuhalten war. Neben ihm auf dem Beifahrersitz lag die Liste mit den Kennzeichen. Gold hatte sie ihm schon gegen acht Uhr vorbeigebracht. Zu seiner Überraschung hatte er nicht angerufen und ein Treffen vereinbart, sondern frühmorgens an seiner Haustür geklingelt.

»Ich bin’s: die Wunschfee«, hatte er gesagt und laut gelacht, aber in seinen Augen lag deutlich sichtbar die Sorge, einen unverzeihlichen Fehler zu begehen.

Als Gold zwei Espresso und drei Zigaretten später wieder gegangen war, hatte sich Romberg umgehend die Liste vorgenommen. Es überraschte ihn, wie einfach es war. Unter den insgesamt achtundneunzig Kennzeichen fand er nur zwei Renault Laguna. Er unterstrich die Adressen mit einem roten Kugelschreiber. Zusätzlich markierte er noch einige andere mit einem Bleistift: Weitere Kombis anderer Hersteller, nur für den Fall, dass er sich doch in der Marke geirrt haben sollte.

Nur zwei Adressen! Was eben noch unerreichbar schien, wirkte nun plötzlich wie ein Kinderspiel! Fast zu einfach!

Wenn das Meer zurückweicht, musst du um dein Leben laufen!

Bevor er nach Speyer aufgebrochen war, hatte er noch mehrere wichtige Anrufe erledigt. Nur für den Fall, dass er wider Erwarten heil davonkam. Danach war er noch ein letztes Mal in den Keller hinabgestiegen und hatte den Deckel der Tiefkühltruhe geöffnet. Eine halbe Stunde lang hatte er ununterbrochen geredet und Carola Lauk alles erzählt. Als er auf ihre Haut drückte, war sie noch immer kühl, aber nicht mehr steinhart gefroren.

Kurz bevor er die Haustür öffnete, drehte er sich ein letztes Mal um. »Bis dann«, flüsterte er noch, aber weder Maren noch Laura sagten ein Wort.

Neben der Liste auf dem Beifahrersitz lag eine Umhängetasche. Darin lag die Pistole, die ihm Gold besorgt hatte, eine Heckler & Koch P30. Außerdem zwei Ersatzmagazine mit jeweils fünfzehn Schuss. »Das sollte reichen«, hatte Gold gesagt. Dann hatte er ihm nüchtern die Funktionsweise erklärt und darauf bestanden, dass Romberg es vorführte und ihm bewies, dass er es auch wirklich verstanden hatte. Am Ende hatte ihn Gold überraschend umarmt und war eilig gegangen. Romberg war gerührt, aber auch beunruhigt gewesen. Anscheinend hielt es auch Gold durchaus für denkbar, dass er die kommenden Stunden nicht überleben würde. Dabei hatte er sich auf dem Schießstand wacker geschlagen. Anfangs hatte er sich mit der Waffe schwergetan, doch nach zwei Stunden Training hatte Gold ihn gelobt und ihm zugestanden, einen Gegner aus einigen Metern Entfernung spielend ins Jenseits befördern zu können.

Romberg beobachtete nervös das Haus. Die erste der beiden Adressen. Es sah aus wie andere Häuser auch. Nur wenige Meter davon entfernt stand der Wagen, ein schwarzer Laguna, was eigentlich nur bedeuten konnte, dass sich der Fahrer im Haus befinden musste.

Nur zwei Adressen! Somit gab es nur noch drei Möglichkeiten. Entweder er stand schon jetzt vor dem Haus des Mörders. Oder der Täter wohnte an der zweiten Adresse der Liste. Oder aber sie waren beide unschuldig, und er hatte sich doch bei der Nummer oder dem Wagentyp getäuscht. Spätestens in einigen Stunden würde er es wissen. Dann würde er die Polizei anrufen, und man würde den Täter verhaften, und alles würde doch noch ein gutes Ende nehmen. Ihm blieb noch ausreichend Zeit. Es würde niemand zu Schaden kommen. Selbst die Pistole würde er vermutlich nicht brauchen. Er griff nach einem der Riemen der Umhängetasche und zog ihn so weit nach oben, dass der Stoff ihm folgte und er ins Innere der Tasche spähen konnte. Die Waffe war vollkommen schwarz. Auf der Unterseite war eine Warnung eingeprägt. Warning: Not a toy. Misuse can cause fatal injury. Before using read owner’s manual. Er schüttelte lächelnd den Kopf. Gab es tatsächlich Menschen, die darauf hingewiesen werden mussten, dass es sich bei einer Neun-Millimeter-Pistole nicht um ein Spielzeug handelte?

Während er sich schwitzend die nächste Zigarette ansteckte, öffnete sich an der Vorderfront des Hauses die Tür. Eine Frau Ende Fünfzig trat auf die oberste Stufe der kleinen Treppe, welche den Höhenunterschied zum Vorgarten überbrückte. Sie war unglaublich dick, was ihre Kleidung noch zusätzlich unterstrich, und ihre Haare glänzten fettig in der Morgensonne. Als sie die Treppe hinabstieg, ohne sich umzudrehen und die Tür zu schließen, war klar, dass er jetzt gleich erscheinen würde, der Mann, der eventuell vier Frauen getötet hatte und auch Carola Lauk. Romberg saß bewegungslos im Wagen, unfähig sich zu rühren oder auch nur an der Zigarette zu ziehen. Doch der Mann, welcher kurz darauf über die Türschwelle trat und einige Worte mit seiner abstoßenden Ehefrau wechselte, war nicht das, was sich Romberg erwartet hatte. Er war gewiss schon weit in den Sechzigern. Sein Gang wirkte müde und vorsichtig, so als sei jeder einzelne seiner Schritte mit unerträglichen Schmerzen verbunden, und auch der Stock, auf den er sich stützte, zeigte an, dass es ihm schwerfiel zu gehen.

War es denkbar, dass dieser Mann brutale Morde beging? Dass seine Krankheit nur Fassade war und dass es ihm seit Monaten gelang, seine Frau zu täuschen oder diese sogar seine Mitwisserin war? Er dachte an das im »Mannheimer Morgen« veröffentlichte Täterprofil. Wohl eher nicht.

Das Paar erreichte den schwarzen Laguna. Während sich die Frau auf den Beifahrersitz quetschte, ging ihr Mann mit versteinerter Miene zur Fahrerseite, legte seinen Stock auf den Rücksitz und stieg unter Schmerzen ein.

Als sie losfuhren, wartete Romberg noch mehrere Minuten ab. Dann stieg er aus, warf die Zigarettenkippe auf die Straße, hängte sich die Umhängetasche über die Schulter und betrat eilig den Vorgarten des Hauses. Während er um das Haus herum zur Rückseite ging, suchten seine Augen nach einem brauchbaren Stein.