10:15
Um zehn Uhr zwanzig machte Paul Leonhardts Laptop mit einem lauten Pling ihrem Warten ein Ende. In dem Raum wurde es schlagartig still, doch wenig später meldete Sebastian Lauks Handy schnurrend die Ankunft einer SMS. Dann schrillte eines der Telefone, und das laute Klingeln fraß sich wie eine Kreissäge mitten hinein in ihr erschrockenes Schweigen.
Schon nach dem zweiten Klingeln presste Klein den Hörer an sein Ohr, meldete sich knapp mit seinem Nachnamen und lauschte schweigend den Worten des Anrufers.
»Mannheim. Zentrum«, rief er in den Flur. »Der Kontakt dauerte circa fünf Sekunden. Er hat das Handy von Martina Arnold benutzt.«
Im gegenüberliegenden Büro sprangen Kohlmann und Rodeberger von ihren Plätzen auf. Das Dezernat für Gewaltdelikte lag im dritten Stock, und seine Räume waren die kleinsten des gesamten Gebäudes. Pro Raum fanden lediglich zwei Beamte Platz, die jeweils ein Team bildeten und denen unterschiedliche Aufgaben zugeteilt waren. Die SOKO war daher über sämtliche Stockwerke des Präsidiums verteilt.
Leonhardt, der gerade von der Toilette zurückgekehrt war und der sich das Zimmer mit Klein teilte, rannte eilig zu seinem Schreibtisch und ließ sich so hart auf die Sitzfläche des Stuhles fallen, dass ein besorgniserregendes Krachen zu hören war. Noch bevor das Geräusch zwischen den Wänden des Büros verhallt war, rasten seine Finger bereits geschäftig über die Tasten des Keyboards. Auf dem Bildschirm öffneten sich fast zeitgleich mehrere Fenster: ein Stadtplan von Mannheim, auf dem leuchtend rote Punkte die Position der Handymasten markierten, eine Auflistung mehrstelliger Zahlen, ein Fenster mit Zeichen, die einer fremdartigen Sprache zu entstammen schienen, sowie eine Kopie der SMS, deren Text direkt an ihn weitergeleitet worden war, so dass Lena Böll die Nachricht nicht einmal abrufen musste, sondern sie direkt vom Bildschirm ablesen konnte.
Was soll das, Böll? Willst du mich provozieren? Oder gibt es in Mannheim neuerdings Wölfe und Bären?
»Na schön. Mal sehen«, rief Leonhardt in breitem kurpfälzischem Dialekt. »Die Standorterkennung ist ausgeschaltet, aber er war in drei verschiedene Funkzellen eingeloggt, also reicht uns GSM aus. Wird dennoch schwierig werden, ihn aufzustöbern. Dort wimmelt es von Menschen, und es ist wohl kaum anzunehmen, dass er geduldig wartet, bis wir seine genaue Position bestimmt haben werden.« Während er sprach, verrichteten seine Finger ungebremst ihren Dienst, so als verfügte sein Gehirn über zwei voneinander unabhängige Hirnregionen, von welchen die eine für komplexe Computerprobleme und die andere für dialektlastige Gespräche zuständig war.
Lena Böll löste ihren Blick widerwillig von der Nachricht, deren Bedeutung sich ihr vorerst verschloss. »In Ordnung. Katja, Chris und Rodeberger gehen los und versuchen, ihn zu finden. Sobald wir seine exakte Position kennen, geben wir euch umgehend Bescheid. Martina Arnold benutzte ein himmelblaues Samsung. Also haltet die Augen offen und befragt die Passanten, ob ihnen zur betreffenden Zeit jemand auffiel, der so ein Teil in den Händen gehalten hat.«
Katja Bleskjew, Christian Kohlmann und Robin Rodeberger waren so schnell verschwunden, dass selbst der Chef einer Feuerwehreinheit keinen Grund zum Meckern gefunden hätte. In dem Raum blieben nur drei Personen zurück: Lena Böll, Paul Leonhardt und Markus Klein, dessen Job es war, die Polizeiwachen und Streifenwagen zu koordinieren. Trotz der von ihr vorgebrachten Argumente hatte ihr Mildenberger lediglich fünf Mitarbeiter zugestanden. Der Rest der Teams arbeitete unter Krügers Leitung weiterhin daran, die unzähligen Hinweise und Zeugenaussagen abzuarbeiten. Sie hatte kampflos eingewilligt, ihm aber immerhin das Zugeständnis abgerungen, ihr Leonhardt auszuleihen, der gewöhnlich in einem separaten Gebäude in der Steubenstraße einen aussichtslosen Krieg gegen das organisierte Verbrechen führte. Sie hatten sich in drei nah beieinanderliegenden Büros eingenistet, zwei davon mit Durchgangstür, so dass sie ständig miteinander kommunizieren konnten.
Leonhardt war wichtig, denn er war ein ausgewiesener Experte in Sachen Handyortung. Letztendlich würde alles davon abhängen, den Täter bei der Übermittlung von Nachrichten möglichst rasch zu orten und ihn dort, wo er sich aufhielt, einzukreisen. Bis auf eine Ausnahme hatten alle Opfer Handys bei sich getragen, Carola Lauk sogar einen kleinen Laptop mit internettauglichem USB-Stick. Lena Böll war daher davon ausgegangen, dass der Mörder diese Geräte für die Übermittlung seiner Botschaften benutzen würde. Folglich hatten sie die Nummern an die Telefongesellschaften weitergeleitet, mit der dringenden Bitte, jede Kontaktaufnahme umgehend zu melden. Mit dem Anbieter des Internet-Sticks hatten sie zusätzlich vereinbart, den Verbindungsaufbau zu verzögern, natürlich nur in einem Umfang, der den Täter nicht misstrauisch werden ließ.
Den schwierigsten Teil, die Koordination der Aktion mit Hessen und Rheinland-Pfalz, hatte ihr Mildenberger abgenommen. Nach endlosen Telefonaten wurden sämtliche Polizeireviere in einem Umkreis von siebzig Kilometern in Alarmbereitschaft versetzt, und auch die Besatzungen der Streifenwagen waren darüber informiert, dass sie jederzeit damit rechnen mussten, ohne Wenn und Aber einen bestimmten Punkt anzusteuern.
Im Hintergrund telefonierte Klein bereits mit dem im Erdgeschoss untergebrachten Polizeiposten und erläuterte mit ruhiger Stimme die Situation. »Ja, genau. Ein Mann zwischen fünfundzwanzig und vierzig. Ohne Begleitung.«
Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Fünf Sekunden. Das konnte nur bedeuten, dass er die SMS schon vorher eingetippt hatte, und zwar an einer Stelle, an der er nicht geortet werden konnte. In einem Keller, einem Parkhaus oder einem Tunnel zum Beispiel. Der Kerl war wirklich schlau.
»Mit einem himmelblauen Samsung-Handy«, ergänzte Klein sanft. Er war die Ruhe selbst. »Wahrscheinlich bewaffnet und hochgradig gefährlich.«
Sie schaute hinüber zu Leonhardt. Auf dem Stadtplan waren inzwischen drei bunte Kreise zu sehen, die sich im südlichen Teil des Markplatzes überlappten. Bei einer Lokalisierung per GMS war es möglich, anhand der Zeit, welche die Funksignale vom Sendemast zum Gerät und wieder zurück benötigten, den Abstand vom jeweiligen Mast zu bestimmen. Je nach Distanz ergab sich dadurch bei jedem der Kreise ein unterschiedlicher Radius. Da beim Versenden der SMS Signale von drei verschiedenen Masten empfangen worden waren, musste Leonhardt lediglich überprüfen, wo sich die Linien der Kreise kreuzten, und schon erhielt er – auf circa hundert Meter genau – die Position des Kontakts.
Sie schaute auf ihre Uhr. Etwa zwei Minuten. Unendlich viel Zeit, wenn man jemanden einzukreisen versucht.
»Und? Hast du’s?«
»Aber klar doch«, knurrte Leonhardt, dessen Haut trotz der Anspannung und der mörderischen Hitze erstaunlicherweise nicht glänzte. Die Räume des Dezernats für Gewaltdelikte waren nicht nur die kleinsten, sondern auch die heißesten des Präsidiums, was ihn jedoch kaum zu beeindrucken schien. Er deutete auf jene Stelle des Stadtplans, die von den Umrissen von Sankt Sebastian eingenommen wurde. »Vor oder innerhalb der Kirche, würde ich sagen.«
Mit einem Mal war sie sich ihrer Sache absolut sicher. »Okay, das passt zu dem Typ. Er war oder ist in der Kirche.« Sie wandte sich an Klein. »Falls sie ihn dort nicht mehr antreffen … wovon ich ausgehe … soll einer von ihnen im Gebäude bleiben und jeden dort Anwesenden befragen, ob er unseren Mann gesehen hat.«
»Geht klar.«
Während Klein die drei Externen und die Uniformierten informierte, starrte Lena Böll auf den Bildschirm.
Was soll das, Böll? Willst du mich provozieren? Oder gibt es in Mannheim neuerdings Wölfe und Bären?
Fehlerfreies Deutsch. Keine Rechtschreibfehler. Selbst beim Verfassen einer SMS verwandte der Täter keine Abkürzungen und hielt sich akkurat an die Regeln. Ein gebildeter Pedant.
Was den Inhalt betraf, so schien der Text keinerlei Sinn zu ergeben. Ebenso wenig der Zeitpunkt oder die Kontaktaufnahme selbst. Seine bisher einzige Botschaft hatte er an Carolas Vater geschickt. Es war daher naheliegend gewesen, dass er – um Kontakt aufzunehmen – erneut die gleiche Nummer wählen würde. Zumindest in diesem Punkt hatte sie recht behalten. Allerdings hatte sie angenommen, dass er sich mehrere Tage Zeit lassen würde. Ihm musste klar sein, dass er sich mit jeder Kontaktaufnahme einem hohen Risiko aussetzte. Dass er jetzt nochmals aus der Anonymität heraustrat und sich erneut exponierte, legte nahe, dass er unter erheblichem Druck stehen musste. Sie begriff nur nicht, wieso. Der Text der SMS jedenfalls schien es keineswegs wert zu sein, dieses Risiko einzugehen. Warum also hatte er sie verschickt?
»Er hat die SMS schon vorher eingetippt«, wandte sie sich an Leonhardt. »An irgendeinem Ort, an dem das Handy kein Netz finden konnte. Wenn wir Glück haben, in einem der Parkhäuser. Das heißt, wir brauchen sämtliche Parkhaus-Videos. Übernimmst du das?«
»Für eine schöne Frau wie dich doch immer wieder gerne.«
Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Klein grinste, doch sie verkniff sich eine Reaktion. Männer waren einfach dämlich, und wenn man als Frau erfolgreich kooperieren wollte, musste man diese Tatsache als unveränderlich akzeptieren und über solche Kleinigkeiten großmütig hinwegsehen. Schon als sie dreizehn war, hatte ihr Vater sie vorgewarnt. »In ein paar Jahren wird dich jeder Mann anstarren«, hatte er gesagt, »verstehst du, wirklich jeder! Glaub mir, es wird keinen geben, der nicht davon träumen wird, eine Nacht mit dir zu verbringen, aber die meisten werden nur dein Äußeres sehen, und nur wenige werden auch das lieben, was du in Wirklichkeit bist, und es auf Dauer mit dir aushalten.« Er hatte leider recht behalten. Was ihre Beziehungen anbelangte, war ihr Leben ein einziges Desaster.
Sie griff sich Sebastian Lauks Handy. Sollte sie antworten? Oder ihn weiterhin ignorieren? Seine Botschaft bestand aus drei Fragen, und falls er sich nochmals einloggte, würde ihn das Lesen ihrer Antworten aufhalten und ihnen zusätzliche Zeit verschaffen.
»Wir haben einen Streifenwagen am Wasserturm, einen an der Kurpfalzbrücke und einen weiteren am Schloss«, erklärte ihr Klein. »In einigen Minuten machen wir vermutlich auch die Brücke nach Ludwigshafen dicht. Ob das allerdings ausreichen wird, bleibt abzuwarten. Das wirkt alles recht sinnlos. Als versuchte man, einen Hering mit einem Netz aus quadratmetergroßen Maschen einzufangen.«
»Machen Sie sich keine Gedanken!«, tröstete sie ihn. »Sie machen das wirklich gut.«
Als sie Mildenberger mitgeteilt hatte, dass sie sich Klein in ihrem Team wünschte, hatte er sie verständnislos angestarrt. »Klein? Sind Sie sich wirklich sicher? Sie erwarten doch hoffentlich nicht, ein einziges Stück Rhabarberkuchen hätte ihn dauerhaft kuriert?«
Sie hatte lachend den Kopf geschüttelt. »Nein, wohl kaum. Aber auf der Suche nach einem Serientäter kann mir ein Mann wie Klein von großem Nutzen sein.«
»Ach ja? Wie das?«
»Er denkt einfach drauflos. Ungefiltert. Lässt jeden Gedanken zu. In solchen Fällen ist das von essentieller Bedeutung. Und er hat Mumm. Er mag mich für eine blöde Tussi halten, aber ich bin mir sicher, dass er mich dennoch niemals im Stich lassen würde.«
Im selben Moment ertönte erneut ein Pling, und in einem Fenster erschienen weitere Zahlen. Leonhardt begann, hektisch zu tippen. »Verflucht. Er ist tatsächlich schon wieder drin.«
Über seine Schultern hinweg schaute sie auf den Bildschirm, wo sich neue Kreise formierten.
»Breite Straße«, sagte er. »Er bewegt sich schnurstracks auf die Kurpfalzbrücke zu.«
Die Breite Straße war eine der Hauptachsen der Innenstadt. Sie teilte das Wappen der Mannheimer Quadrate in zwei gleich große Hälften und erstreckte sich geradlinig vom Schloss bis zur Kurpfalzbrücke, wo sich ihm jede Menge Fluchtmöglichkeiten bieten würden.
»Verdammt. Wo sind die anderen?«
Klein zuckte ratlos mit den Schultern. »Noch immer in Richtung Marktplatz unterwegs. Soll ich sie zu ihm umleiten?«
»Klar. Was bleibt uns anderes übrig? Aber nur zwei von ihnen. Einer soll zur Kirche gehen und klären, ob wir dort Spuren sichern können. Die beiden anderen sollen unbedingt vorsichtig sein. Mit dem Kerl ist nicht zu spaßen.«
»Geht klar.«
»Ach ja, und noch etwas.«
»Ja?«
»Der Wagen an der Kurpfalzbrücke soll sein Blaulicht und die Sirene einschalten.«
»Verstehe«, murmelte Klein, der inzwischen zwei Hörer in den Händen hielt und kurz zögerte, in welchen von beiden er hineinsprechen sollte. Sie konnte hören, wie er Rodeberger anwies, die Kirche zu überprüfen, und Bleskjew und Kohlmann zu der großen Neckarbrücke schickte. Rodeberger hatte einige Kilo zu viel auf den Rippen, und Langlauf war nicht unbedingt seine Stärke. Klein hatte die Lage komplett im Griff.
Eine Minute lang herrschte qualvolles Schweigen.
»Er ist immer noch auf der Breiten Straße«, stellte Leonhardt sachlich fest.
»Wahrscheinlich tippt er eine Antwort ein«, erwiderte Lena Böll.
»Bist du dir sicher?«, fragte Klein, und sie wunderte sich, dass er sie duzte, aber dann stellte sie fest, dass er ins Telefon sprach. »Okay, sorg dafür, dass niemand etwas anfasst. Ich schicke dir umgehend die SPUSI vorbei.« Rodeberger war in der Kirche offensichtlich fündig geworden.
Ein erneutes Pling.
Ich gebe dir 24 Std., dann werdet ihr es bereuen!
»Er simst gerade«, schrie Klein in das Telefon. »Könnt ihr ihn sehen?« Die Enttäuschung in seiner Mimik machte Fragen überflüssig. »Sie sind noch immer zu weit weg.«
???, schrieb sie zurück, aber Paul Leonhardt schüttelte bedauernd den Kopf.
»Er ist weg.«
»War er in der Kirche?«, fragte sie Klein.
Er nickte. »Wir wissen sogar, wo er saß. Klingt nicht schlecht, finden Sie nicht?«
»Ja«, antwortete sie leise, aber ihre Gedanken schweiften ab. »›Ich gebe dir 24 Stunden.‹ Was um alles in der Welt will dieser Arsch von uns?«