11:25
Der Schlüssel klapperte hektisch im Schloss. Dann wurde die Tür aufgerissen, so heftig, dass sie erschrocken zusammenzuckte. Sie begriff sofort, dass etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Jenseits der Tür musste etwas vorgefallen sein. Aber was? Als Kurt näher kam, sah sie sein Gesicht. Er hatte Angst! Seine Ruhe und Überheblichkeit waren mit einem Mal verschwunden, und er stürzte auf sie zu, als sei sie seine letzte Chance. Der linke Ärmel seines T-Shirts war blutverschmiert. Er rannte zu dem der Tür abgewandten Ende der Liege und duckte sich keuchend hinter ihren Kopf. Erschrocken begriff sie, dass er sie als Deckung benutzte. Die Waffe, mit der er auf die Tür zielte, schwebte nur wenige Zentimeter über ihrem Gesicht. Sie fürchtete sich vor dem Knall.
»Was ist los?«, fragte sie leise.
»Halt die Klappe!«, motzte er sie an.
Draußen blieb es still.
Hatte ihn die Polizei doch noch gefunden? Formierte sich dort draußen gerade eine schwer bewaffnete Spezialeinheit und besprach flüsternd das weitere Vorgehen? Würden gleich Tränengasgranaten hereingeworfen werden oder Blendgranaten oder beides zugleich?
»Wir haben Besuch«, erklärte er leise. Es sollte lässig klingen, aber sie konnte sehen, wie der Lauf seiner Waffe zitterte. Sie starrte auf sein T-Shirt. Kurt war verletzt. Dieser sadistische Dreckskerl blutete.
Endlos lange blieb es still, dann zerriss ein lauter Knall die Stille. Sie bäumte sich erschrocken auf, und ihr Herz raste wie wild, aber nichts geschah. Anscheinend hatte draußen auf der Treppe jemand geschossen. Ohne Ziel, einfach nur so, um sich Respekt zu verschaffen. Das Zittern der Pistole, die über ihrem Kopf schwebte, nahm deutlich zu. Dennoch schien sich Kurt der anrückenden Übermacht nicht ergeben zu wollen.
Ich werde sterben, dachte sie. Er wird mich auf keinen Fall gehen lassen, sondern mich im letzten Moment doch noch töten. Nur so. Um posthum recht zu behalten.
Draußen auf der Treppe war ein klackerndes Geräusch zu hören. Es klang wie eine Murmel, die Stufe für Stufe in den Keller hinunterrollte.
»Hör sofort damit auf, du Arsch!«, schrie Kurt. »Komm raus und lass dich blicken, oder ich werde sie auf der Stelle töten!«
Von seiner linken Schulter tropfte Blut auf ihr Ohr.
Die Murmel oder was auch immer schlug noch zwei Mal auf, dann wurde es still. »Hörst du? Ich bringe die Schlampe um!«
Er sprach mit einer Einzelperson! Das war nicht die Polizei! Aber wer war es dann? Wer wäre so verrückt, allein hier aufzutauchen? Nur um sie zu retten? Lena Böll? Katja? Ihr Vater? Du musst verrückt sein, dachte sie. Und: Das ist völlig unmöglich!
Dann war da plötzlich eine Bewegung im Türrahmen, nur eine Stofftasche, doch Kurt schoss hektisch los – direkt neben ihrem Ohr.
Wenn ich diesen Tag überlebe, werde ich ein Leben lang taub sein, dachte sie.
Wer war da draußen nur?