13:20
Max Romberg saß in der Küche auf dem Barhocker und musterte die Titelseite der Tageszeitung, die ungeöffnet vor ihm auf der Marmorplatte lag.
Ein Land im Freudentaumel.
Die Schlagzeile des Tages. Darüber ein Bild von drei jungen Fußballfans, die ausgelassen in ein Handy jubelten. Zwei Männer und eine Frau. Die Männer trugen verspiegelte Sonnenbrillen, was ihnen das Aussehen lachender Insekten verlieh. Alle drei hatten sich die Deutschlandfahne bunt auf beide Wangen geschminkt, doch bei einem der Männer waren von den Flaggen nur noch verwischte Spuren zu erkennen. Die Frau trug zwei weitere Fahnen dicht über dem Dekolleté und Romberg fragte sich, ob sie diese selbst aufgetragen hatte oder ob es einer ihrer Begleiter gewesen war. Sie hielt das Handy mit gestrecktem Arm von sich weg, und alle lachten mit weitgeöffneten Mündern in die Linse des Handys. Als würden sie einen Gott anbeten.
Sich selbst fotografieren, wo auch immer man sich befand. Eine merkwürdige Marotte, die sich ausbreitete wie die Pest. Gelebter Narzissmus. Jederzeit. Überall. Sich selbst konservieren. Digitale Mumifizierung. Das eigene Leben wurde nicht mehr im Gehirn abgespeichert, sondern in Form mittelmäßiger Bilder auf einer winzigen Speicherkarte. Weißt du noch, damals? Nein, aber wenn du möchtest, kann ich gern die entsprechende Datei aufrufen.
Er zündete sich eine Zigarette an und saugte den Rauch so tief in seine Lungen, dass es schmerzte.
Eine digitale Vergangenheit. Die man in Ruhe ordnen und sortieren konnte. Bilder, die nicht ins Konzept passen wollten, wurden einfach ausrangiert. Im virtuellen Papierkorb geschreddert. Das eigene Leben als kreatives Produkt. Die Kontrolle über das, an was man sich erinnern wollte, an das, was ins Gedächtnis eingelassen wurde, komplett in der eigenen Hand.
Ein faszinierender Gedanke.
Laura, als sie ihm entglitt. Ihre weit aufgerissenen Augen. Dieses Bild, das ihn seit Jahren quälte. Und das er dennoch niemals würde löschen wollen.
Westerwelle will Kurs halten, stand links von den Handyjüngern.
Eine Banalität. Auf der Titelseite. Eine Meldung, die nicht das Geringste auszusagen schien.
Unnütze Bilder. Unnütze Meldungen. Unnütze Äußerungen.
Willkommen im Reich der Ahnungslosen.
Tropensturm lässt Experten bangen.
Sommer zeigt sich von seiner besten Seite.
CDU fasst gute Vorsätze.
Verletzter überlebt vier Tage in Schlucht.
Romberg hielt inne, öffnete die Zeitung an der betreffenden Stelle und suchte nach dem Artikel. Im Harz war ein Radfahrer bei hohem Tempo in ein Schlagloch geraten, vom Weg abgekommen und in eine zehn Meter tiefe Schlucht gestürzt. Dort lag er vier Tage lang, schwerverletzt und bewegungslos, bis er schließlich von zwei anderen Sportlern gefunden wurde. Diese hatten seine am Rand des Abgrunds liegende Sonnenbrille entdeckt, nachgesehen und den hilflosen Mann am Boden der Schlucht entdeckt. Ein glücklicher Zufall. Hunderte von Helfern hatten über Tage vergeblich gesucht. Selbst Hubschrauber mit Wärmebildkameras hatten den Vermissten nicht aufspüren können.
Eine Sonnenbrille! Eine gottverdammte Sonnenbrille! Manchmal musste man eben einfach nur Glück haben.
Was wohl der Radfahrer zukünftig über digitalen Narzissmus denken würde? Das Gleiche wie zuvor? Oder das Gleiche wie er? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber mit Sicherheit würde er Rombergs Skepsis besser nachvollziehen können als die meisten anderen Menschen.
Neben dem Artikel über den verunglückten Radfahrer standen winzig klein gedruckt die Horoskope für die unterschiedlichen Tierkreiszeichen. Für Romberg war Astrologie nichts weiter als hirnloser Humbug, aber er las dennoch bei Stier:
Sie handeln nach ganz bestimmten Gesichtspunkten und steuern damit auch sehr zielsicher auf ein erwünschtes Ereignis zu. Damit lässt sich dann auch das Chaos ordnen, das sich am Arbeitsplatz aufgebaut hat. Sie haben nichts zu verbergen und sollten daher auch nicht Ihre Meinung zurückhalten. Gehen Sie recht offen mit der Situation um, denn in der jetzigen Lage können Sie sich das erlauben!
Was wohl der Verfasser dieser erstaunlichen Voraussage dazu sagen würde, wenn Romberg ihn anriefe und ihm seine gegenwärtige Situation schildern würde? Meinen Sie wirklich, ich sollte meinem Bruder von der Leiche in meiner Tiefkühltruhe erzählen? Kann ich mir das ernsthaft erlauben?
Natürlich nicht, hörte er Maren sagen.
Oder glaubte er nur, dass sie es sagen würde, wenn sie es sagen könnte?
Romberg schaute aus dem Fenster. Die Zahl der Deutschlandfahnen hatte noch zugenommen. Er konnte sich nicht erinnern, in dem blassen Wohnviertel jemals so viele Farben gesehen zu haben.
Das Fußballspiel war der Hammer gewesen, so spannend, dass er zuweilen vergessen hatte, was sich am Morgen zugetragen hatte. Erst lange nach Mitternacht war er nach Hause zurückgekehrt. Er war sofort in den Keller hinabgestiegen und hatte erleichtert festgestellt, dass Carola noch immer da war. Der Hase natürlich auch. Danach hatte er stundenlang gepokert und über zweihundert Dollar gewonnen. Um vier Uhr morgens war er erschöpft ins Bett gefallen, in der Nacht aber mehrmals aus dem Schlaf aufgeschreckt. Einmal hatte er geglaubt, im Erdgeschoss Stimmen und tapsende Schritte zu hören, aber er hatte nicht gewagt, nach dem Rechten zu sehen. Trotz seiner Furcht war er am Ende wieder eingeschlafen.
Leise Stimmen und tapsende Schritte. Hatte er sich das wirklich nur eingebildet?
Er ließ sich über die Kante des Barhockers rutschen, ging durch den Flur zur Kellertür und griff zögernd nach der Klinke. Behutsam öffnete er die Tür. Die Treppe, die steil nach unten führte, war leer.
»Hallo?«, fragte er leise und bemerkte, wie sich die Haut seiner Unterarme mit winzigen Erhebungen überzog.
Ich muss verrückt sein, dachte er, und: Die Toten sind tot.
»Hallo?«
Die steile Treppe endete an einer weiß verputzten Wand, vor der ein schmaler Gang nach links und nach rechts in die Kellerräume führte. Den linken hatten sie früher als Vorratsraum genutzt. Inzwischen standen die Regale leer. Im rechten Raum fand sich jede Menge unnützes Gerümpel, das er schon längst hätte auf den Sperrmüll werfen sollen, aber der Gedanke, dass die Vergangenheit – so unnütz sie auch war – davongeschleppt und auf Flohmärkten verschachert werden könnte, war ihm unerträglich gewesen.
Warum spielte das überhaupt eine Rolle?
Die Toten sind tot. Die Vergangenheit ist vergangen. Das Leben ist jetzt. Ihm fiel Janis Joplin ein. Tomorrow never happens, man. It’s all the same fucking day, man!
Was, wenn der Mörder ihn doch beobachtet hatte und wenn er zurückgekehrt war?
Bist du verrückt geworden, dachte Romberg. Zurückgekehrt? Wohin? In deinen gottverdammten Keller?
»Hallo?«
Als er den Fuß auf die oberste Stufe setzen wollte, schrillte das Telefon. Er zuckte zusammen, und sein Puls begann zu rasen. Nicht jetzt, befahl er sich selbst, und sein Herz schien ihm tatsächlich zu gehorchen. Er schloss die Tür, schob den Riegel vor und ging eilig ins Wohnzimmer, wo auf dem Couchtisch zwischen Büchern und Zeitschriften das Mobilteil lag.
»Ja?«
»Ich bin’s«, sagte Achim. »Bevor ich losfahre, wollte ich nur sichergehen, dass du auch wirklich zu Hause bist. In zwanzig Minuten könnte ich da sein. Geht das für dich in Ordnung?«
»Ja, bestens«, antwortete Romberg, der völlig außer Atem war.
»Bist du in Ordnung? Du klingst, als wärst du gerade einen Marathon gelaufen.«
»Ich war im Garten«, erwiderte er knapp. Er hasste es, Achim anlügen zu müssen. Einen der wenigen Menschen, die ihm noch etwas bedeuteten. Erneut spielte er mit dem Gedanken, ihm alles zu erzählen, aber während er noch zögerte, legte Achim auf.
Achims Gesicht, das ihn traurig angeschaut hatte, als er in Frankfurt durch die gläserne Schiebetür in die große Wartehalle getreten war. Allein. Alles, was er damals mit sich zurückgebracht hatte, waren Marens und Lauras Reisekoffer gewesen. Seinen eigenen hatte er in dem zerstörten Hotel zurückgelassen. Was keinen Sinn zu ergeben schien, für ihn aber selbstverständlich gewesen war. Er selbst war noch da. In seinem eigenen Koffer befand sich nichts weiter als wertlose Gegenwart. In Marens und Lauras Koffern dagegen lagerte besitzerlos die Vergangenheit, unnütz zwar, aber unbezahlbar. Die Koffer waren alles, was er von ihnen hatte in Sicherheit bringen können. Auch Marens schönes Sommerkleid, das jetzt Carola trug.
Achims erste Worte: »Ich weiß nicht, was ich …« Dann Schweigen. Achims Tränen. Achims Arme, die ihn umschlangen und ihn minutenlang nicht loslassen wollten. Sie hatten sich immer gut verstanden, und schon als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen. Aber vielleicht war ihr Treffen am Frankfurter Flughafen, dieser Moment völliger Ohnmacht und Hilflosigkeit, auch gleichzeitig ihr Moment größtmöglicher Nähe gewesen. Als ihn Achim umarmte, diesen Fremden, den Romberg nicht kannte und mit dem er ganz von vorn anfangen musste.
Er ging zurück in die Küche und zog ein großes japanisches Fleischmesser aus dem Block. Dann ging er zurück zur Kellertür, schob den Riegel beiseite und stieg die Treppe hinab.
Er machte einen raschen Schritt nach rechts, überzeugte sich davon, dass der Raum leer war, und schaute flüchtig unter den Stauraum unter der Treppe. Dann betrat er den ehemaligen Vorratsraum.
Nichts.
Er näherte sich der Tiefkühltruhe. Als er den Deckel anhob, lag Carola genauso da, wie er sie auch nach seiner Rückkehr nach Hause vorgefunden hatte. Die geöffneten Augen an die Decke gerichtet und Lauras verrückten Hasen im Arm.
»Weißt du, Hopser«, sagte Romberg leise. »Ich bin froh, dass wenigstens du noch lebst.«
Carola Lauk sah aus wie eine Grimm’sche Prinzessin, die darauf wartete, von einem edlen Prinzen wachgeküsst zu werden. Romberg berührte vorsichtig ihre rechte Wange und strich zärtlich über die kalte Haut.
Tote sind tot, dachte er und schloss vorsichtig den Deckel der Tiefkühltruhe.