05:21
Mit einer entschlossenen Bewegung trat er nach vorn, ergriff Carolas Knie und drückte sie kraftvoll zusammen. Keine Leichenstarre, dachte er, als sie mit einem dumpfen Geräusch gegeneinanderstießen, was bedeutete, dass sie noch nicht lange tot sein konnte. Ihr Körper war erstaunlich sauber, und sie roch, als hätte sie unlängst geduscht. Der Duft setzte eine Erinnerung in ihm frei, die er nicht sofort einzuordnen vermochte. Zögernd begriff er, dass es der Geruch seines eigenen Duschgels war, ein typischer Männerduft, den er erst seit einigen Wochen benutzte.
Ich muss verrückt sein, dachte er, das mit den Knien war ein unverzeihlicher Fehler, als er aber zwei Schritte zurücktrat, war er mit der erzielten Wirkung zufrieden. Die rotgeschminkten Schamlippen wurden nun durch die aneinanderliegenden Oberschenkel verborgen, wodurch die Szene weniger anstößig wirkte. Könnte der Mörder ihn jetzt sehen, würde er vermutlich toben vor Wut. Die Beamten der Spurensicherung allerdings auch. Ob er denn noch zu retten sei, würden sie ihn kopfschüttelnd fragen, ob er denn nicht lese oder fernsehe und daher nicht wisse, dass man an einem Tatort nichts anzufassen habe, unter keinen Umständen, auch nicht aus Mitleid oder aufgrund der eigenen Biographie und erst recht nicht auf Anweisung halluzinierter Stimmen. Mit etwas Glück würden sie dennoch nicht gleich den Täter in ihm sehen, sondern nur einen alten Trottel, der in einem Anfall von Mitgefühl wertvolle Spuren vernichtet hatte.
Der Specht hatte sein Hämmern inzwischen eingestellt, und es war nur noch das Zwitschern der Vögel zu hören. Er schaute hinüber auf den Parkplatz, auf dem schon bald die Jogger ihre Wagen abstellen würden. Selbst jetzt in der Morgendämmerung war die Luft schwül und warm. Tagsüber war die Hitze kaum auszuhalten. Wer Sport trieb und es zeitlich einrichten konnte, nutzte daher die frühen Morgenstunden. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.
Zeit?
Wofür?
Er musste die Polizei anrufen.
Dass er die Position der Leiche verändert hatte, war schlimm, aber nicht unbedingt unverzeihlich. Die Situation war immer noch zu retten. Sein Handy lag zu Hause auf dem Küchentisch. Wenn er Hilfe herbeirufen wollte, würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als das Mädchen für einige Minuten allein zurückzulassen.
Diese Augen.
Blau wie das Meer.
Sein Blick fiel auf das Klebeband, das ihre Mundöffnung luftdicht verschloss. Erneut trat er dicht an sie heran. Unmittelbar vor der Bank ging er in die Hocke, schielte – um besser sehen zu können – über den oberen Rand seiner Brille hinweg, strich mit Zeigefinger und Mittelfinger zart über ihre linke Wange und fuhr vorsichtig mit dem Fingernagel unter den Rand des Bandes. Als er ein kleines Stück des Materials zu fassen bekam, presste er die Fingerspitzen fest aneinander und zog vorsichtig an. Während sich das Band widerspenstig von der Haut löste, kam das bläuliche Rot der Lippen zum Vorschein.
Was tust du da bloß? Du machst einen furchtbaren Fehler.
Als er kurz die Augen schloss, sah er in der Dunkelheit seines Schädels Marens Gesicht – völlig unversehrt, doch im selben Moment, als ihm dies auffiel, setzte bereits die Verwesung ein. Armer Max, sagte sie traurig, und es war unglaublich viel Liebe in ihrer Stimme, aber inzwischen war ihr Gesicht aufgequollen und von Gasblasen übersät, und er riss erschrocken die Augenlider nach oben.
Carola Lauk schaute ihn weiterhin an.
Mit einem kleinen Ruck zog er das Band vollständig ab. Er knüllte es achtlos zu einer Kugel zusammen und steckte es in die Hosentasche. Carolas Mund stand leicht offen. Er konnte die Spitze ihrer Zunge sehen. Behutsam strich er über ihr Haar.
»So ist es besser«, flüsterte er leise.
Als er bemerkte, dass er auf eine Reaktion wartete, schüttelte er ungläubig den Kopf. Noch einmal drehte er sich um die eigene Achse, aber noch immer war niemand zu sehen.
»Keine Sorge. Ich bin gleich zurück«, sagte er, überrascht über die Zärtlichkeit in seiner Stimme. »Ich muss dringend die Polizei informieren.« Dann wandte er sich ab und rannte los.
Für das entfernte Klebeband würde er sich gegenüber der Polizei ebenfalls rechtfertigen müssen. Aber das war leicht. Er würde einfach behaupten, er sei sich nicht sicher gewesen, wie es tatsächlich um sie stand, und habe ihr Luft verschaffen wollen. Was sogar zutraf – irgendwie. Das mit dem Klebeband war jedenfalls leichter zu verstehen als sein Einfall mit den Knien. Für einen Trottel würden sie ihn trotzdem halten. Gewiss auch für verdächtig. Sie würden sein Haus durchsuchen und seine Fingerabdrücke sichern und natürlich auch DNA. Aber trotzdem würde sich zu den beiden anderen Morden keinerlei Verbindung herstellen lassen. Dass Carola nach seinem Duschgel roch, war allerdings merkwürdig. Ein Zufall. Der allerdings – wie sie feststellen würden – nichts zu bedeuten haben musste.
Carola Lauks Körper würden sie abtransportieren. Um sie in der Gerichtsmedizin obduzieren zu lassen. Der Gedanke, dass man sie aufschneiden würde, versetzte ihm einen Stich. In seinem Innern war da plötzlich dieses merkwürdige Gefühl. Das Gefühl, Einspruch erheben zu wollen.
Als er wenige Minuten später schweißnass den Eingang seines Hauses erreichte, zögerte er kurz. Das Handy lag im Erdgeschoss. Auf dem Küchentisch. Das wusste er genau. Er musste nur die Haustür aufschließen. Das war alles. Aufschließen. Dann ein paar Schritte bis zur Küche gehen. Sieben oder acht. Nach dem Handy greifen und anrufen. Mehr nicht, einfach nur anrufen.
Hallo, mein Name ist Romberg. Max Romberg. Ich möchte ein Verbrechen melden.
Mehr nicht.
Sie würden ihn befragen, ihn zur Rede stellen und verdächtigen, aber das würde ihn nicht ernsthaft beunruhigen. In einem Leben wie dem seinen spielte das eigene Befinden längst keine Rolle mehr. Sie würden die verbleibenden Spuren rund um den Tatort sichern, das Mädchen obduzieren und die Eltern informieren. Alles würde seinen Gang gehen. Carola würde aus seinem Leben verschwinden, als wäre sie niemals da gewesen. So wie die anderen auch. So als hätte er dies alles nur geträumt, nur ein Traum mehr, ein Traum von vielen, so wie er sie Nacht für Nacht träumte, so wie er ihn auch in der letzten Nacht geträumt hatte, als er schweißgebadet aufgeschreckt war, und natürlich war jemand gestorben, denn letztendlich starb immer jemand, seit Jahren schon. Seine Träume waren nicht nur willkürliche Zuckungen der Großhirnrinde, nicht nur Ausdruck einer verschlungenen Symbolik. Sie waren viel mehr als das. Sie waren Boten, die von der Vergangenheit erzählten, in einer Weise, die oft wirklicher war als die Wirklichkeit, so dass er beides kaum noch auseinanderhalten konnte, denn die Grenze zwischen der Welt außerhalb und innerhalb seines Kopfes war während einer einzigen Woche für immer zusammengebrochen, und so sehr sich Carmen Mingus auch bemüht hatte, sie gemeinsam mit ihm wieder aufzurichten, es war ihr nicht gelungen.
Hilf mir!
Er musste sich beeilen.
Er lief zur Garage und schob das graue Metalltor nach oben. Im selben Moment verfluchte er sich dafür, den Raum nicht schon längst ausgeräumt zu haben. Vorbei an Altkleidersäcken und Kartons mit Geschirr, an abgefahrenen Reifen und dicken Zeitungsstapeln watete er zwischen allerlei Gerümpel hindurch bis zur hinteren Wand. Trotz des heillosen Durcheinanders fand er auf einem wackligen Metallregal prompt, wonach er suchte: eine zusammengefaltete Plastikfolie, die er vor etwa zwei Jahren gekauft hatte, um bei der dringend erforderlichen Renovierung seines Wohnzimmers den Parkettboden abzudecken. Zu der Renovierung war es bis heute nicht gekommen. Er sah einfach nicht ein, wozu.
Das Brennen in seinem Mund ließ allmählich nach, aber die Wirkung der Chilischote hielt erstaunlich lange an, und noch immer ging von seiner Zunge und seinem Gaumen eine schier unerträgliche Hitze aus. Er stolperte zur Rückseite des Wagens, öffnete die Heckklappe und legte den gesamten Kofferraum sorgfältig mit der auseinandergefalteten Plastikfolie aus.
»Das wirst du bereuen«, warnte er sich selbst, aber er war bereits zu entschlossen, als dass er sich von solchen Einwänden noch hätte aufhalten lassen. Er dachte an Achim, seinen Bruder, der mittags vorbeikommen würde, um ihn zum Public Viewing abzuholen. England gegen Deutschland. Um sechzehn Uhr. Das Achtelfinale. Bis dahin blieb ihm noch jede Menge Zeit. Für die Bergung von Carola Lauk dagegen blieben ihm nur noch wenige Minuten.
Er lachte höhnisch auf. Hatte er tatsächlich gerade Bergung gedacht?
Als er den Wagen rückwärts auf die Straße manövrierte, den Vorwärtsgang einlegte und auf den Waldrand zufuhr, hoffte er, dass niemand so früh wach wäre, um sein Tun beobachten und später bezeugen zu können. Gleichzeitig war er sich bewusst, dass dies schon längst keine Rolle mehr spielte. Nachdem er die Häuser hinter sich gelassen hatte, gab er Gas und erreichte kurz darauf den Parkplatz, auf dem sich an den Wochenenden Hunderte von Wagen drängten. Er parkte rückwärts ein, sprang aus dem Auto und öffnete mit zitternden Händen die Heckklappe. Zwischen den Blättern hindurch konnte er Carola auf der Bank sitzen sehen. Der Hirsch und die Rehe waren spurlos verschwunden. Mit eiligen Schritten stapfte er zwischen den Bäumen hindurch über Wurzeln und morsche Äste hinweg auf sie zu. Als er sie erreichte, sah er gerade noch, wie eine große Ratte im Gebüsch verschwand.
Hatte das Mistvieh sie etwa gebissen?
Einen Moment lang zögerte er, wie er sie anfassen sollte. Dann ergriff er ihre Arme, ging vor ihr in die Hocke und zog sie dicht an sich heran, so dass ihr Oberkörper über seine rechte Schulter kippte. Er ließ die Arme los, ergriff ihre nackten Oberschenkel und richtete sich keuchend auf. Sein T-Shirt klebte nass auf der Haut. Jeder, der ihn so sah, musste ihn für den Mörder halten. Niemand, ganz gleich, was er auch immer als Entschuldigung vorbringen würde, würde ihm jetzt noch Glauben schenken. Während er Carola Lauk zum Wagen trug, wurde ihm erschrocken bewusst, dass er überall Spuren hinterlassen hatte. Aber es gab kein Zurück mehr. Sie zu beseitigen, würde Zeit kosten und nur das Risiko erhöhen, beobachtet zu werden.
»Gleich bist du in Sicherheit«, sagte er laut, und erneut roch es nach Schlick, und er hörte die Geräusche der Brandung und er sah Lauras Gesicht vor sich und er hörte sie schreien, aber dann fiel ihm auf, dass die Haut unter seinen Handflächen keinerlei Wärme mehr verströmte, und er begriff widerwillig, dass Carola Lauk tot war.