12:37
Als Manfred Gold den Biergarten betrat, war Romberg gerade damit beschäftigt, eine Weißwurst fachmännisch von ihrer Pelle zu befreien. Ohne Hast legte er sein Messer beiseite, zog sich die Brille von den Ohren, klappte sie behutsam zusammen und steckte sie in das Außenfach seiner Umhängetasche. Nur für den Fall, dass Gold ihn angreifen würde. Dass er ihn hier nochmals treffen könnte, im Biergarten des »Domhofs«, war naheliegend gewesen. Er hatte sich davon dennoch nicht abschrecken lassen, sondern das Risiko bewusst in Kauf genommen. Golds Körperhaltung und sein Gang ließen nichts Gutes erahnen, aber er verspürte keinerlei Angst. Als Gold einen der Stühle an der Lehne ergriff und ihn schwungvoll vom Tisch wegzog, steckte derart viel Kraft in seiner Bewegung, dass es schien, als wollte er ihn quer durch den Biergarten schleudern. Er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift Denken hilft, was sein Handeln günstig zu beeinflussen schien, denn er rammte die Beine des Stuhls kräftig in den Kies und setzte sich anstandslos hin.
»Hallo, Gold.«
»Grüß dich, Romberg!«
Gold griff in seine Hosentasche, zog ein blaues Handy heraus und hielt es so dicht vor Rombergs Gesicht, dass die Konturen verschwammen. Sein Zeigefinger zuckte, und das Handy begann zu sprechen: »Gold, du gottverdammter Wichser! Ich dachte, du bist mein Freund. Fahr zur Hölle, du Arsch!«
Vom Nebentisch starrte ein alter Mann demonstrativ angewidert zu ihnen herüber, doch als Golds Blick sich in den seinen bohrte, schaute er eilig zur Seite.
»Du hast mich einen gottverdammten Wichser genannt«, knurrte Gold.
»Stimmt.«
»Und mich als Arsch beschimpft.«
»Korrekt.«
»Das war nicht nett«, sagte Gold.
»Ich weiß. Die Wahrheit ist eben nicht immer angenehm.«
Gold ließ ihn nicht aus den Augen und registrierte wachsam jede seiner Bewegungen. »Es gab eine Zeit, da hätte ich mir so etwas auf keinen Fall bieten lassen.«
»Ach wirklich?«, spottete Romberg. »Was soll das werden? Willst du mich einschüchtern? Na, dann pass mal gut auf! Wichser! Wichser! Wichser!«
Er sprach so laut, dass es jeder im Lokal deutlich hören konnte. Der Biergarten war gut besucht. Ein bunt gemischtes Publikum. Schwitzende Touristen und schwitzende Einheimische, zwei Familien mit Kindern, schwitzende Rentner und schwitzende Geschäftsleute. Der Kellner, der unweit von ihnen den einzigen freien Tisch eindeckte, schien kurz mit dem Gedanken zu spielen, einzuschreiten, war aber weise genug, von diesem Vorhaben Abstand zu nehmen.
»Treib es bloß nicht zu weit!«, drohte Gold. Unter dem Stoff seines T-Shirts war jeder einzelne Muskel zu erkennen, so als wäre er wie ein Kugelfisch in der Lage, sich bei Erregung aufzupumpen.
»Sonst was? Willst du mich töten? Oder mich fürs Erste nur verprügeln?«
Ich muss verrückt sein, dachte Romberg. Selbst wenn Gold ihm nur ein paar Knochen brechen würde, würde dies seinen Plan, Carolas Mörder aufzustöbern, zwangsläufig dauerhaft ruinieren.
Gold lachte verächtlich auf. »Dich töten? Was sollte das bringen? Du bist doch schon tot. So wie ich. Und das weißt du genau.«
Hinter Rombergs Brustbein war eine Bewegung zu spüren. So als läge dort verborgen ein Tier, welches gerade seine Lage veränderte. Draußen auf der Straße schrie jemand. Nur so. Zum Spaß. Das Tier sprang auf.
»Arschloch«, knurrte Romberg leise.
»Weißt du, was einen Mann wirklich gefährlich macht?«, fragte Gold. Inzwischen schien ihn die Szene zunehmend zu amüsieren. Seine Muskeln fielen entspannt in sich zusammen.
»Knallbunte Tätowierungen?«
»Nein. Dass er nichts zu verlieren hat. Das ist das Gefährlichste überhaupt. Sich mit jemanden anzulegen, der nichts mehr zu verlieren hat.«
»Tja, bei uns beiden liefe das dann wohl auf ein klares Unentschieden hinaus.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Mein Leben mag auf Dauer verkorkst sein, aber trotzdem will ich schon lange nicht mehr sterben. Aber du? Wie steht es mit dir?«
Romberg dachte nach. Anscheinend hatte sich Gold völlig unter Kontrolle. Zumindest war er nicht wütend in den Biergarten gestürmt und hatte ihn vor den Augen der anderen Gäste verprügelt. Stattdessen schien er auf ein klärendes Gespräch aus zu sein. Was freilich nicht ausschloss, dass er ihm am Ende ihres Dialogs doch noch sämtliche Knochen brechen würde. Er suchte den Kontakt zu Golds Augen. Verblasstes Blau. Das rechte Auge deutlich heller als das linke. Bei genauerem Hinsehen auch kleiner. Gold wartete noch immer auf eine Antwort.
»Seit damals wollte ich immer sterben«, gestand Romberg.
»Aber du bist noch am Leben«, stellte Gold lakonisch fest.
Das Tier hinter Rombergs Brustbein schien sich einmal um die eigene Achse zu drehen. Über ihnen, im Geäst der Bäume, zwitscherten die Spatzen.
»Stimmt, ich bin noch am Leben. Aber in den letzten Jahren verging kaum ein Tag, an dem ich nicht mit dem Gedanken gespielt hätte, Laura zu folgen. Nur weiß ich leider bis heute nicht, wohin.« Er griff mit den Fingern nach der gepellten Weißwurst, tunkte sie behutsam in den kleinen Hügel aus süßem Senf und biss ein großes Stück ab. Dank der Hitze war sie immer noch warm. »Maren … meine Frau … habe ich damals persönlich identifiziert«, erklärte er mit vollem Mund. »Oder besser gesagt, das, was die Hitze von ihr übriggelassen hatte.« Die zerkaute Wurst in seinem Mund schmeckte plötzlich faulig, aber er riss sich zusammen und schluckte sie dennoch hinunter. »Sie wurde in Phuket nach buddhistischem Brauch eingeäschert, und es gibt dort einen Schrein mit einem kleinen Foto, wo ich sie jederzeit … besuchen kann. Aber Laura wurde nie gefunden. Sie war einfach weg. Wie ausgelöscht. Irgendwann habe ich mich damit abfinden müssen, dass sie wohl tot sein muss, aber selbst Monate, nachdem ich nach Deutschland zurückgekehrt war, habe ich irgendwo in meinem Innern noch immer auf einen Anruf gewartet, und da war so etwas wie Hoffnung, die sich dem Traum, den ich so oft träumte, mächtig entgegenstemmte, die vage Möglichkeit eines Anrufs, in dem man mir mitteilen würde, dass Laura gefunden worden sei. Ein Mädchen ohne Gedächtnis, das verwirrt durch das Hinterland von Khao Lak irrte und das man erst jetzt, Jahre später, habe ausfindig machen können.«
Er sah, wie Gold schluckte. Einer der Spatzen sprang neben Romberg auf eine Stuhllehne und schaute ihn abwartend an. Am Nebentisch sprachen drei Männer über Deutschlands Chancen, das Viertelfinale gegen Argentinien zu überstehen.
»Bist du jemals wieder dorthin zurückgekehrt?«, wollte Gold wissen.
Spatzen sind monogam, schoss es Romberg durch den Kopf. So lange keiner von ihnen stirbt, bleibt ein Paar ein Leben lang zusammen.
»Das erste Mal habe ich es im Sommer zweitausendundfünf versucht«, antwortete er leise. »Aber ich habe es nicht geschafft. Weder zu Marens Schrein noch zum Strand von Khao Lak, wo ich Laura verloren habe. Am Ende habe ich panisch die Flucht ergriffen und bin mit der nächsten Maschine zurückgeflogen. Zweitausendundsechs war ich wieder da, anlässlich des jährlichen Gedenktages, und da habe ich auch Marens Schrein besucht, aber …« Seine Stimme versagte.
»Und danach?«, fragte Gold.
Romberg schüttelte den Kopf. Während andere Angehörige jedes Jahr nach Thailand reisten, um der Toten zu gedenken, hatte er sich nie wieder dazu überwinden können. Schon der Geruch des Meeres hatte in ihm Panikattacken ausgelöst, und an Marens Schrein hatte er sich schwallartig übergeben und war weinend zusammengebrochen. Dennoch: Er hatte es nie wieder versucht! Er erschrak über sich selbst. Wie hatte er das nur vergessen können?
»Tote sind tot«, sagte er laut. Ihm wurde übel, aber er biss erneut in die Wurst.
Dich wiederzusehen, wäre schön, hörte er Maren flüstern. Aber natürlich nur, wenn du willst. Der Spatz flog erschrocken davon.
»Warum hast du Carmen Mingus von unserem Treffen erzählt?«, fragte Romberg.
»Weißt du das von ihr?« Der abrupte Themenwechsel schien Gold zu irritieren, aber er nahm ihn widerstandslos hin.
»Nicht direkt. Sie hat es mir nicht einfach so erzählt – falls du das glaubst. Ganz im Gegenteil. Sie hat sich wirklich Mühe gegeben, sich nichts anmerken zu lassen. Aber als Lügnerin taugt sie nicht viel.«
»Da hast du vermutlich recht.«
Gold zog sich das T-Shirt aus der Hose, zog es bis nach oben vor sein Gesicht und wischte sich sorgfältig den Schweiß von der Stirn. Auch sein Bauch war komplett tätowiert. Keltische Ornamente und ein schlafender roter Drache. Dazwischen eine eindrucksvolle Narbe, zu unregelmäßig begrenzt, als dass sie von einer Operation stammen konnte. »Sie hat mir versprochen, dir nichts davon zu sagen.«
»Ach ja? Wie rücksichtsvoll von ihr. Und du? Warum hast du mich verpfiffen?«
Gold verdrehte die Augen. »Eigentlich … verdammt … weil ich dich mag.«
Romberg musterte nachdenklich sein imposantes Gegenüber. Vor zwei Jahren hatte Gold eine heftige Krise durchlebt. Damals hatte er Romberg nachts angerufen. Als er ihm die Tür geöffnet hatte, waren Golds Augen gerötet und verquollen gewesen. Sie hatten drei Stunden geredet und seither nie wieder über diesen Abend gesprochen. Gut möglich, dass Gold glaubte, noch immer in seiner Schuld zu stehen.
»Das erinnert mich an diesen uralten Spruch: Wer dich zum Freund hat, braucht keine Feinde.«
»Jetzt komm schon, Mann! Es tut mir leid. Nicht dass das deinen Anruf völlig entschuldigen würde, aber es tut mir leid.«
Romberg nippte kurz an seinem Weizenbier. »In einer wissenschaftlichen Untersuchung hat man nachgewiesen, dass die Wahrscheinlichkeit, sich zu verlieben, in Extremsituationen deutlich steigt. Das hängt damit zusammen, dass man die aus der Situation resultierenden Emotionen falsch interpretiert. Hast du das gewusst?«
»Nein, aber jetzt, da du es sagst, wird mir endlich klar, warum ich einen Klugscheißer wie dich sympathisch finden konnte.«
Romberg deutete mit der Hand in Richtung des Doms. »Imposanter Bau, nicht wahr?«
Gold folgte mürrisch seinem Blick. »Klar. Ziemlich mächtiger Klotz.«
»Er ist dir nicht unähnlich, finde ich.«
»Komm schon, Romberg. Hör auf mit dem Scheiß!«
»Weißt du etwas über seine Geschichte?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Wenn man ihn so sieht, dann sieht man nur das Mächtige und Uneinnehmbare. Aber in Wirklichkeit hat er im Lauf der Jahrhunderte einiges wegstecken müssen. Große Teile waren zwischenzeitlich völlig zerstört.«
»Im Ernst?«
»Ja, wirklich. Ich habe darüber gelesen. Aber niemand nimmt das heute noch wahr.«
Gold schaute ihm traurig in die Augen, und Romberg wich seinem Blick nicht aus. Minutenlang hingen sie schweigend ihren Gedanken nach.
»Du liest zu viel«, sagte Gold.
»Gut möglich.«
»Du suchst jemanden. Ist es nicht so?«
»Hmm?«
»Komm schon! Streite es nicht ab! Ich habe dich beobachtet, wie du durch Speyer geradelt bist. Auf der Suche nach einem Kennzeichen. Und du hast mich gebeten, dir eine Waffe zu besorgen. Man muss nicht allzu helle sein, um daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.«
»Und das hast du alles Carmen Mingus erzählt?«
»Ja«, räumte Gold kleinlaut ein.
»Und wie hat sie reagiert?«
»Sie hat sich Sorgen um dich gemacht. So wie ich. Und dich kurzfristig zu einem Termin einbestellt. Nur um abzuklopfen, was du da treibst und ob wir dir irgendwie unter die Arme greifen müssen. Aber das ging wohl gewaltig in die Hose.«
Romberg versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Als er Carmen Mingus davon erzählt hatte, wie sehr ihn die Serie von Frauenmorden beschäftigte, hatte er natürlich nicht ahnen können, dass sie bereits über Informationen verfügte, die seine Bemerkungen in einem anderen Licht erscheinen ließen. Erst die Kombination aus dem, was sie gewusst, und dem, was er gesagt hatte, hatte sie Verdacht schöpfen lassen, dass er mit den Morden in Verbindung stehen könnte. Die Neuigkeiten, die am späten Nachmittag über die Medien verbreitet worden waren, hatten dann zwangsläufig dazu geführt, dass ihr Verdacht sich zur Gewissheit verdichtete, und ihr war klargeworden, dass es sich bei ihm um Nummer Zwei handeln musste. Die Frage war nur, ob auch Gold davon wusste und ob er auf eigene Faust handelte oder von Carmen Mingus geschickt worden war.
»Ich könnte dir helfen«, unterbrach Gold seine Überlegungen.
»Ach ja? Und wie?«
»Über eine Kontaktperson in der Zulassungsstelle. Jemand aus früheren Zeiten. Jemand, der mir noch immer einen Gefallen schuldet. Das könnte deine Suche erheblich beschleunigen.«
Romberg starrte Gold entgeistert an. Das Angebot kam völlig überraschend, und er wusste nicht, wie er es einordnen sollte. Klar war nur, dass ihm dieser Vorschlag völlig neue Wege eröffnete.
»Wieso um alles in der Welt willst du das tun?«
»Nun ja. Nachdem ich deine Nachricht erhalten hatte, habe ich umgehend die Mingus angerufen und sie wütend zusammengestaucht. Sie hat sich kaum gewehrt. Stattdessen hat sie mir versichert, mich keineswegs verraten zu haben. Sie könnte nichts dafür. Letztendlich wärest du ihr von ganz alleine auf die Schliche gekommen, und überhaupt hätte ich sie durch meinen Besuch in eine unmögliche Situation gebracht. Sie hätte sich daher auf die Angelegenheit gar nicht erst einlassen dürfen. Alles in allem ein ziemlich unerfreuliches Telefonat.«
»Oje«, murmelte Romberg.
Carmen Mingus war ihm in den letzten Jahren eine unentbehrliche Stütze gewesen, die er auf keinen Fall missen wollte. Ihr nächstes Treffen würde allerdings wenig angenehm verlaufen, so viel stand fest.
»Am Ende sagte sie, sie hätte nochmals nachgedacht und sei zu dem Schluss gekommen, dass du nichts Böses im Schilde führst und dass es insofern nichts schaden könnte, wenn ich dir … hmm … ein wenig unter die Arme greifen würde.«
»Das hat sie wirklich gesagt?«
»Ja. Schon merkwürdig, finde ich. Keine Ahnung, was in deinem Leben gerade vor sich geht, aber langweilig klingt das Ganze auf jeden Fall nicht. Ach, und noch etwas: Du sollst dich unbedingt bei ihr melden. Falls sie nichts mehr von dir hören sollte, dann gäbe sie dir achtundvierzig Stunden und keine einzige Stunde mehr. Kannst du mit dieser Botschaft irgendetwas anfangen?«
Offensichtlich hatte Carmen Mingus die Informationen, über die sie verfügte, inzwischen zu einem stimmigen Gesamtbild kombiniert. Gold dagegen schien ihn nicht mit den Frauenmorden und den Meldungen zu Nummer Zwei in Verbindung zu bringen. Oder bluffte er nur?
»Nur mal angenommen, du hättest mich durchschaut und ich suchte gegenwärtig wirklich nach einem Wagen. Von dem ich aber – rein theoretisch – nur zwei Ziffern des Kennzeichens weiß. Wie lange würde es voraussichtlich dauern, mir eine Liste mit allen in Frage kommenden Fahrzeugen zu besorgen?«
Gold dachte nach. »Bis übermorgen müsste das durchaus zu bewerkstelligen sein.«
Romberg starrte ihn an. Carola Lauk war tot, und bis jetzt hatte der Mörder noch immer kein neues Opfer entführt. Gleichzeitig war ihm klar, dass der Täter wegen der neuesten Meldungen unter erheblichem Druck stehen dürfte und dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis er erneut zuschlug. Vielleicht schon am kommenden Wochenende. Nach dem Treffen mit Carmen Mingus war er stundenlang durch Speyer geradelt. Erneut hatte er mehrere Wagen mit den passenden Endziffern gefunden, darunter aber keinen einzigen Laguna. Allmählich lief ihm die Zeit davon. Er musste sich entscheiden. Entweder nahm er Golds Angebot an, oder aber er informierte die Polizei. Das Problem war, dass er sich inzwischen längst nicht mehr sicher war, ob er die beiden Endziffern überhaupt gesehen oder sich das alles im Nachhinein eingebildet hatte. So wie er sich vieles einbildete.
»Willst du das wirklich für mich tun?«
»Wäre ich sonst hier?«
Nein, wohl kaum. Gold schien es wirklich ernst zu sein.
»Wirst du denn die Angelegenheit ab jetzt vertraulich behandeln? Oder muss ich damit rechnen, dass alles, was hier läuft, erneut bei der Mingus landen wird?«
Gold war sichtbar gekränkt. »Quatsch! Ab sofort läuft das völlig vertraulich. Darauf hast du mein Wort. Also, wie geht es jetzt weiter? Nennst du mir nun die beiden Ziffern oder nicht?«
»Am Ende eine Zwei und eine Drei. Oder umgekehrt.«
»Und von welchem Wagentyp reden wir?«
»Keine Ahnung.«
Wenn er Gold vorenthielt, dass es sich um einen Laguna handelte, würde er dadurch verhindern, dass dieser den Wagen des Mörders aus der Liste herausfiltern konnte. Stattdessen hielte er lediglich eine Auflistung mit Dutzenden von Kennzeichen in den Händen, die ihm keinen entscheidenden Hinweis liefern würde.
»Keine Ahnung? Willst du mich verarschen? Du weißt nicht einmal, nach was für einem Wagentyp du suchst?«
»Nein.« Romberg war sich bewusst, wie lächerlich das klang.
Gold scannte wachsam Rombergs Gesicht. Er schien nachzudenken. »Nur einmal angenommen, ich würde dir tatsächlich eine Waffe besorgen. Wie hoch wäre nach deiner Ansicht die Wahrscheinlichkeit, dass die von dir gesuchte Person euer Treffen überlebt?«
Romberg stellte erstaunt fest, dass sich die Frage nicht so leicht beantworten ließ. Was hatte er eigentlich vor? Wie würde er vorgehen, wenn er den Täter gefunden hätte? Wollte er dieses verfluchte Schwein töten? Oder wollte er sich nur in die Lage versetzen, sich im Notfall verteidigen zu können?
»Schwer zu sagen. Das hängt nicht unerheblich davon ab, wie der andere reagiert.«
»Aha. Da bin ich aber froh! Also immerhin weniger als hundert Prozent. Geht es denn um einen oder um mehrere Gegner?«
»Wahrscheinlich um eine Einzelperson.« Romberg war klar, dass seine Lüge mit den russischen Schuldnern spätestens jetzt absolut unglaubwürdig wirken musste.
»Wahrscheinlich? Oder höchstwahrscheinlich?«
»Höchstwahrscheinlich. Es ist allerdings möglich, dass da noch eine andere Person sein könnte. Jemand, auf den ich im Ernstfall Rücksicht nehmen muss.«
Gold griff sich die zweite von Rombergs Weißwürsten, tunkte sie kopfschüttelnd in den Senf und biss ein großes Stück ab. Den Rest legte er zurück auf den Teller. »Verstehe. Bist du ein guter Schütze?«
»Nein. Ich habe noch nie geschossen. Ich habe sogar den Wehrdienst verweigert.«
Gold grinste breit. »Klingt ganz so, als stünde in deinem Leben ein Umbruch bevor.«
Die Bemerkung verpasste Romberg einen Stich, denn er hatte Gewalt stets abgelehnt.
»Ist denn wenigstens der andere ein guter Schütze?«, spöttelte Gold.
»Keine Ahnung.«
»Au weia.« Gold nippte an seinem Bier. »Eines weiß ich jedenfalls ganz genau. Wie immer euer Treffen auch ablaufen wird – in dem Moment, in dem es stattfindet, möchte ich keinesfalls in Schussweite sein. Wo werdet ihr voraussichtlich aufeinanderstoßen?«
»Wie meinst du das?«
»Nun ja. In einem Wald? Auf offener Straße? In einem geschlossenen Raum? In einer sizilianischen Pizzeria?« Er lachte laut auf.
»Vermutlich an einer Haustür. Oder im Innern eines Gebäudes.«
»In Ordnung. Aber die Waffe wird dich einiges kosten. Zwischen fünfhundert und achthundert Euro, schätze ich.«
Romberg war beeindruckt, wie sachlich Gold den Handel abzuwickeln versuchte. Als ginge es um den Kauf einer Uhr. Er fragte sich, ob Carmen Mingus den Verkauf der Waffe ebenfalls bewilligt haben könnte, aber diese Möglichkeit erschien ihm völlig absurd. Achtundvierzig Stunden. Danach würde sie ihre Schweigepflicht brechen und die Polizei anrufen. Vermutlich kam sie ihm nur so weit entgegen, weil sie wusste, dass Carola Lauk tot war. Und dass sich derzeit niemand in der Gewalt des Täters befand, der durch sein Verhalten zu Schaden kommen konnte. Er schaute auf die Uhr. Inzwischen musste sein Brief bei den Lauks eingetroffen sein. Für vierzehn Uhr hatte die Kripo eine Pressekonferenz angekündigt, die sogar im Regionalfernsehen übertragen werden würde. Vielleicht würden sie den Brief dort erwähnen. Spätestens dann würde Carmen Mingus alles verstehen.
»Wir beide werden uns noch heute Abend auf einem Schießstand treffen«, verkündete Gold. »Töten für Einsteiger. Damit du nicht versehentlich Unbeteiligte durchlöcherst. Die Waffe besorge ich dir spätestens bis übermorgen. Wegen der Liste muss ich erst einmal anfragen, wie lange mein Kontakt dafür benötigen wird, aber ich denke, das geht ebenfalls klar. Hast du einen Stift?`«
Romberg wühlte in seiner Umhängetasche und hielt ihm einen Kuli vor die Nase. Gold lehnte sich weit über den Tisch und schrieb eine Adresse auf Rombergs Papierserviette. »Dort treffen wir uns. Heute Abend um zwanzig Uhr. Sonst noch was?«
Romberg dachte nach. »Könntest du mir vielleicht noch zwei nicht registrierte Handys besorgen?«
Gold zog seine buschigen Augenbrauen nach oben und schüttelte lächelnd den Kopf. »Kein Problem, aber das wird das Schwierigste überhaupt«, feixte er und erhob sich von seinem Stuhl. Bevor er ging, blieb er noch einmal abrupt stehen und beugte sich so nah an Rombergs Gesicht heran, dass niemand das, was er sagte, hören konnte. »Nur eine Sache noch. Ich finde dich wirklich nett. Aber sollte ich im Nachhinein erfahren, dass du die Waffe benutzt hast, um ein Verbrechen zu begehen oder um irgendeinen Unschuldigen zu töten … bei unserer Freundschaft … dann leg ich dich um.«
»Einverstanden«, sagte Romberg ruhig, aber sein Puls raste. »Danke, Mann.«
Alles erschien plötzlich so einfach. So als hätte sich in einer undurchdringlichen Wand eine Tür aufgetan, durch die er nur noch hindurchgehen musste.
»Mit ihrem ständigen Genörgel macht sie mich irgendwann noch völlig verrückt«, sagte eine Frau. Sie saß zwei Tische weiter, und ihr Blick ruhte auf einem etwa fünf Jahre alten Mädchen, das trotzig die Luft anhielt. »Dieses Kind ist einfach die Pest.« Der Mann, der ihr gegenübersaß, schwieg.
Sie weiß überhaupt nicht, wie viel Glück sie hat, dachte Romberg.
Woher auch, stimmte ihm Maren zu.
Zwischen den Bäumen roch es plötzlich nach Schlick.
Damals war das Wasser um mehrere Meter zurückgewichen. Sie hatten das Phänomen erstaunt zur Kenntnis genommen und waren ihm neugierig nachgelaufen, er und Laura, völlig ahnungslos. Maren hatte ihnen aus der Ferne zugewinkt, von ihrer Liege aus. Das letzte Mal, dass er sie sah, wie sie in Wirklichkeit gewesen war, fröhlich und schön.
»Was meinst du? Werde ich irgendwann erfahren, was zum Teufel hier vor sich geht?«, fragte Gold, und Romberg bemerkte erschrocken, dass er immer noch neben ihm stand.
Wo läuft das Wasser denn hin, hatte Laura gefragt, und Romberg hatte beunruhigt festgestellt, dass er es sich selbst nicht erklären konnte. Heute, da es zu spät war, schon.
Wenn das Meer vor dir zurückweicht, musst du rennen, so schnell du kannst!
»Mit Sicherheit«, erwiderte Romberg und versuchte, seine Atmung zu kontrollieren.
Zwei Tische weiter begann das Kind zu weinen.
»Ich kann es kaum erwarten«, sagte Gold und richtete sich zu voller Größe auf. Während er gemächlich das Lokal verließ und davonging, als hätte er alle Zeit der Welt, hörte Romberg weit hinter sich den Lärm. Ein gewaltiges Tosen und Gurgeln, das laut anschwoll und sich zu einer gewaltigen Brandungswelle auftürmte, die wie eine Walze auf ihn zurollte und die Gebäude, die sich ihm in den Weg stellten, krachend zusammenstürzen ließ.
»Lauf!«, schrie er auf, und die Gäste zuckten erschrocken zusammen, aber Gold war bereits zu weit weg, um den Schrei noch hören zu können, und während er die Augen schloss, griff Romberg in das Innere seiner Hosentasche und suchte panisch nach einer Chilischote.