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Sie trafen sich per Skype.

Ihr letzter Kontakt lag bereits Wochen zurück und sie trennte eine Strecke von mehreren tausend Kilometern, aber vom ersten Moment an fühlte sie sich ihm erneut so nah, als wäre er niemals weg gewesen. In ihrem Leben gab es nur noch eine einzige Person, die dieses Gefühl in ihr auslösen konnte, und ihr wurde schlagartig bewusst, wie einsam sie war. Er nannte sie Kleines, so wie früher, und er berichtete stolz, ständig von ihr gelesen zu haben. Von ihrem Fall, den Interviews, von Nummer Zwei. Hinter ihm an der Wand hing gerahmt ein Bild der Mohammed-Ali-Moschee, als einziges Indiz, dass er sich noch immer in Kairo befand, im Zimmer eines Luxushotels, in dem er seit drei Jahren die Küche leitete. Sie hatte sofort das Bedürfnis, nach Ägypten zu fliegen. Um ihm endlich wieder einmal nahe zu sein.

Früher waren sie unzertrennlich gewesen.

Irgendwann aber, in Florenz, hatte er ihr mitgeteilt, dass er einen neuen Job annehmen würde. Kurz darauf war er nach Moskau abgereist und hatte sie in Italien zurückgelassen. Ein Manöver, um sie abzuschütteln, denn natürlich war ihm klargewesen, dass sie Psychologie studieren wollte, und sie sprach vier Sprachen flüssig, aber kein einziges Wort Russisch. »Über Jahre hast du deinem einsamen, herumirrenden Vater die Treue gehalten«, hatte er ihr zum Abschied gesagt. »Was ich dir auch niemals vergessen werde. Jetzt bist du erwachsen, und es ist endlich an der Zeit, dich um dich selbst zu kümmern.« An den Schimmer in seinen Augen konnte sie sich bis heute erinnern. Er hatte es sicherlich gut mit ihr gemeint, aber es hätte ihr fast das Herz gebrochen. Einen Monat später kehrte sie aus Italien nach Freiburg zurück, wo sie sich tags darauf an der Universität immatrikulierte. Seitdem war sie nur noch selten verreist. Er aber war noch immer in den Küchen der Welt unterwegs.

Mit den Jahren war er alt geworden. Er trug noch immer seinen Pferdeschwanz, ein letztes Relikt der Jugend, das neben den Falten und den grauen Haaren fast schon tragisch wirkte. Eine halbe Stunde lang redeten sie ununterbrochen. Ein gieriges Ringen um verlorene Zeit. Als ihnen allmählich die Worte fehlten und sie schon glaubte, ihn wieder loslassen und den Kontakt abbrechen zu können, kam ihr noch eine Frage in den Sinn.

»Erinnerst du dich noch an die Elstern? Damals in unserem Hof? Die Jahr für Jahr die Jungvögel aufschlitzten, ihre Innereien herauszupften und den Rest achtlos liegen ließen?«

Er hob erstaunt die grauen Augenbrauen. »Ja, natürlich. Du warst deswegen völlig entsetzt. Und auch unglaublich wütend. Warum fragst du?«

»Erinnerst du dich noch daran, dass ich dich weinend darum gebeten habe, dein Gewehr zu holen und diese Mistviecher endlich abzuknallen?«

»Ja. Jetzt, da du es sagst, fällt es mir wieder ein.«

»Ich habe dich geradezu angefleht, es zu tun. Und du warst ein guter Schütze. Aber du hast dich dennoch geweigert. Warum?«

Vermutlich schaute er ihr direkt in die Augen. Oder auf das, was er dafür hielt. Auf die Übertragung ihrer Augen auf einem Bildschirm in Kairo. Da er aber nicht gleichzeitig auf den Monitor und in die Webcam blicken konnte, hatte es den Anschein, als würde sein Blick sie verfehlen. Sie hasste Skype.

»Weil auch Elstern Lebewesen sind. Brutale Räuber zwar. Aber weil man sie dennoch nicht allesamt über den Haufen schießen kann.« Er dachte kurz nach. »Das Leben ist kompliziert. Ganz gleich, wie du es auch anstellst: Immer, wenn du etwas säuberst, wird dafür etwas anderes schmutzig werden.« Er schaute erneut an ihr vorbei, ein Zeichen, dass er ihr Gesicht fixierte. »Aber sag schon, Kleines! Warum willst du das gerade heute von mir wissen?«

»Ach, nur so«, erwiderte sie lachend. Und sah die Sorge in seinen Augen.