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Später, in diesen endlos langen Stunden, die ihr zum Nachdenken blieben, würde Verena Bleskjew sich fragen, warum ihr nicht schon beim Öffnen der Haustür aufgefallen war, dass der Hund nicht bellte. Im Nachhinein würde sie sich diesen Fehler zum Vorwurf machen und sich einzureden versuchen, dass das, was daraus folgte, vermeidbar gewesen wäre. Als sie jedoch nachmittags in den Hausflur trat und sich ihre Flipflops von den Füßen streifte, zog sie aus der Stille, die sie umgab, keinerlei Schlussfolgerungen, die sie hätten zur Vorsicht mahnen können.

»Mama?«, rief sie laut, aber niemand antwortete.

Dass ihre Mutter nicht antwortete, war nicht ungewöhnlich. Meist lag sie um diese Zeit betrunken auf der Couch und wurde selbst dann nicht wach, wenn man sie aus ihrem Rausch herauszurütteln versuchte. An derartige Situationen war Verena seit Jahren gewöhnt, aber der Gedanke, sie erneut so vorzufinden, versetzte ihr immer noch einen Stich.

»Mama? Bist du da?«

Verena lief bis zum Ende des Flurs. Unter ihren Füßen quietschte eine Bodendiele. Dieselbe Diele, die schon gequietscht hatte, als sie noch zur Schule gegangen war. Dieselbe Diele, die immer quietschte. Seit einundzwanzig Jahren.

Am Morgen hatten sie heftig gestritten, was ihr inzwischen leidtat, aber an ihrer Entscheidung nichts mehr ändern würde. Sie würde endlich Katjas Rat befolgen und sich eine eigene Wohnung suchen. Sie hielt dieses Leben auf Dauer nicht mehr aus. Natürlich würde Mutter ihr vorwerfen, sie im Stich zu lassen. So wie immer, wenn Verena es sich herausnahm, sie zu kritisieren oder eine eigene Meinung zu äußern. Aber sie würde dennoch gehen. So wie Katja gegangen war. Es war nicht mehr zu vermeiden.

Später, in diesen endlos langen Stunden, die ihr zum Nachdenken blieben, würde sie sich wundern, warum sie ausgerechnet diesen Gedanken gedacht hatte, als sie nach der Türklinke griff, in einer Klarheit, welche die Trennung vorwegzunehmen schien. Warum erst in jenem Moment? Warum nicht früher?

Als sie die Türklinke nach unten drückte, fuhr ein gewaltiger Schmerz in ihren Körper. Alle ihre Muskeln schienen sich gleichzeitig zu verkrampfen, und bevor sie noch aufschreien konnte, knickten ihre Beine ein, und sie stürzte hilflos zu Boden. Sie landete hart auf ihrer Schulter, so hart, dass der Schmerz, den der Aufprall auslöste, den Schmerz in den krampfenden Muskeln noch so weit übertraf, dass sie ihn als kurzen Stich wahrzunehmen vermochte. Während sie geschockt zu verstehen versuchte, was sie mit solcher Wucht zu Boden geworfen hatte, wurde die Tür zum Wohnzimmer aufgerissen, und über ihr erschien die Gestalt eines Mannes, der sich lächelnd zu ihr herunterbeugte.

»Na, Baby? Tut weh, nicht wahr?«

Obwohl er anders aussah, als sie ihn sich vorgestellt hatte, wusste sie sofort, wer er war.

Strom, dachte sie. Er muss den Elektroschocker, von dem in den Nachrichten gesprochen wurde, auf der anderen Seite der Tür gegen die Klinke gehalten haben. Sie begriff schlagartig, wie es ihm gelungen war, Johanna van Ahsen aus ihrem eigenen Haus zu entführen. Während sie zappelnd auf dem Rücken lag, versuchte sie verzweifelt, die Kontrolle über ihre Muskeln wiederzuerlangen. In seiner rechten Hand hielt er einen kleinen schwarzen Kasten, an dessen Vorderseite zwei metallische Erhöhungen funkelten.

Er will mir noch einen weiteren Stromschlag verpassen, dachte sie, und ihr war klar, dass sie nur davonkommen würde, wenn sie genau das verhindern konnte.

Wo war ihre Mutter? Wo war der Hund? Über ihr an der Wand hing ein Bild, das sie erst vor wenigen Tagen fertiggestellt hatte. Satte Erdfarben, die nur von einem blutigen Rot unterbrochen wurden. Ein schönes Bild, auf das sie stolz sein konnte. Würde es das letzte Bild sein, das sie in ihrem Leben gemalt hatte?

»Schön stillhalten!«, sagte der Mann, doch als er den Schocker auf die Haut ihres Oberschenkels aufsetzte, riss sie mit aller Kraft ihr Knie nach oben. Die Bewegung tat höllisch weh, aber sie erwischte ihn dennoch an der Nase. Ein hässliches Krachen war zu hören, und sie begriff voller Genugtuung, dass sie ihm die Nase gebrochen hatte.

Das hat vor mir noch keine geschafft, dachte sie, aber wahrscheinlich machte ihn das jetzt erst richtig wütend. Wenn sie ihren Körper nicht umgehend unter Kontrolle brachte, würde sie es mit Sicherheit bereuen.

Er kippte überrascht nach hinten und knallte mit dem Hinterkopf gegen den Türrahmen. »Was … verdammt … du miese Schlampe!«, schrie er auf. Einen Moment lang schien er zu benommen zu sein, um aufzustehen, sondern saß überrascht an das Holz des Rahmens gelehnt, so als hätte er beschlossen, sich auszuruhen und sein Vorhaben aufzugeben.

Reiß dich zusammen, dachte sie. Der Schmerz ist nur ein Gefühl, und indem sie ihre Krämpfe zu ignorieren versuchte, drehte sie sich entschlossen in die Bauchlage und drückte die Arme durch, bis ihr Gewicht auf den Knien zu ruhen kam und sie sich japsend gegen die Wand lehnen konnte. Die Wirkung des Elektroschockers ließ bereits nach, und sie griff nach den Lamellen eines Heizkörpers und zog sich keuchend nach oben, doch im selben Moment, als sie schon glaubte, es tatsächlich schaffen zu können, hörte sie hinter sich ein Geräusch, und dann spürte sie eine Berührung in ihrem Nacken und wusste, es war zu spät. Erneut ging ein Zucken durch ihren Körper, und sie stürzte schreiend auf ihr Gesicht.

Sie würde sterben. Sie dachte an den Hund und sogar an ihre Mutter.

In ihrem Mund der Geschmack von Blut, und inmitten ihrer Gedanken, zwischen all dem wild übereinanderstürzenden Durcheinander die Sorge, dass sie sich die Zungenspitze abgebissen haben könnte.

»Du Biest hast mir tatsächlich die Nase gebrochen«, schimpfte der Mann.

Er setzte sich von oben auf ihren Rücken, griff mit einer Hand in ihre Haare und riss brutal ihren Kopf nach hinten. Dann hörte sie ein gluckerndes Geräusch, und ein süßlicher Geruch stieg in ihre Nase. Als der feuchte Lappen auf ihr Gesicht gepresst wurde, hielt sie, in dem Bewusstsein, dass es nichts helfen würde, den Atem an. Er würde sie nicht töten, noch nicht, aber wenn sie aus der Betäubung erwachen würde, würde er die furchtbarsten Dinge mit ihr tun, und sie würde es nicht verhindern können.

Das hatte sie nicht verdient.

Katja, o mein Gott, hilf mir, dachte sie.

Dann schnappte sie nach Luft, und es wurde dunkel.