10:55
Warum tat er das?
Warum wies er sie zurück?
Warum fickte er sie nicht?
Sie hatte es ihm mehrfach angeboten und hatte ihn angefleht, es endlich zu tun. Er aber hatte nur energisch den Kopf geschüttelt.
»Du bist noch nicht so weit«, hatte er gesagt. »Du sagst es nur, weil du es dir leichter machen willst, und nicht, weil du wirklich so denkst.« Dann hatte er ihr wieder Mund und Nase zugehalten, so lange, dass sie die Kontrolle über die Blase verlor, und natürlich hatte er es bemerkt und lauthals gelacht.
Katja, hilf mir! Ich will nur noch, dass er aufhört!
Noch zwei Mal hatte sich ihre Qual wiederholt, dann hatte er ihr seinen Vornamen genannt und war gegangen.
Kurt.
Irgendwann war sie erschöpft eingeschlafen. Wann sie wieder aus tiefem Schlaf aufgeschreckt war, wusste sie nicht zu sagen. In dem Kellerraum bot sich ihr keine Möglichkeit, sich zeitlich zu orientieren. Selbst die Luft war gleichbleibend kühl, angesichts der draußen herrschenden Temperaturen ein kleines Wunder. Seit ihrem ersten Treffen war er nicht mehr aufgetaucht. Ihr Magen knurrte wie ein wildes Tier, und ihr Hals war völlig ausgetrocknet. In ihrer Not hatte sie wiederholt auf den Boden uriniert, was ihr zutiefst peinlich war. Hoffentlich würde er sie deswegen nicht hart bestrafen.
Als sich im Schloss der Schlüssel drehte, hielt sie den Atem an.
Kurt sah zufrieden aus. Er warf einen beiläufigen Blick auf die Pfütze am Kellerboden und ließ sich auf die Sitzfläche des Stuhles fallen. In seiner Hand hielt er ein beschriebenes Blatt Papier.
»Na? Gut geschlafen?« Auch seine Stimme klang gut gelaunt.
»Besser als erwartet«, antwortete sie. Wahrheitsgemäß. Sie war erstaunt gewesen, trotz der Lage, in der sie sich befand, doch noch eingeschlafen zu sein. Inzwischen litt sie zunehmend unter Muskelkrämpfen. Dass sie ihre Position seit Stunden nicht verändern konnte, hatte allmählich Folgen.
»Hast du Hunger?« Sie nickte. »Und Durst?« Sie nickte erneut. »Na schön. Was das andere anbelangt, hast du ja bereits eine naheliegende Lösung gefunden.« Er grinste. »Willst du, dass ich dich töte?«
Sie schüttelte erschrocken den Kopf. »Nein.«
»Warum nicht? Wärst du eine ehrenhafte Frau, könntest du dich immer noch für den Tod entscheiden.«
»Ich weiß. Aber ich möchte leben.«
»Bist du keine ehrenhafte Frau?«
»Anscheinend nicht.«
Er beugte sich dicht an sie heran, und sein Blick wurde hart. »Anscheinend? Oder bestimmt?«
»Bestimmt«, antwortete sie, voller Furcht, die Antwort könnte nicht ausreichen. Aber sie schien ihn fürs Erste zufriedenzustellen.
»Was bist du dann?«, setzte er nach.
Sie zögerte kurz, ob sie es aussprechen oder ihm die Antwort trotzig verweigern sollte, aber sie hatte zu viel Angst, um sich seinen Demütigungen zu widersetzen. »Ich bin eine gottverdammte Schlampe.«
»Dachte ich es mir doch«, sagte er und grinste breit. »Weißt du, was dein Problem ist?«
»Nein. Was denn?«
»Du hast es noch immer nicht verstanden! Dass es mir nicht darauf ankommt, was du sagst, sondern auf das, was du denkst.«
Sie war starr vor Angst. Ganz gleich, was sie jetzt antworten würde, es würde nichts helfen!
»Deswegen habe ich dich gestern Abend auch nicht gefickt! Obwohl du mich angebettelt hast, es dir ordentlich zu besorgen. Das hast du doch? Oder etwa nicht?«
Wenn sie ihm zustimmte, würde er es tun! Wenn nicht, würde er sie weiterhin quälen.
»Ja, das habe ich. Und ich will es immer noch.«
Kurt lachte höhnisch auf. »Und warum zitterst du dann?«
Nur keinen Fehler machen! Jetzt nur keinen Fehler machen!
»Weil ich Angst habe. Ich sterbe fast vor Angst.«
»Aha. Und du willst dennoch Sex mit mir?«
Es hatte keinen Sinn. Ganz gleich, was sie antwortete, er ließ ihr keine Chance. Sie konnte ihm nichts vormachen. Um zu überleben, musste sie es wollen. Es wirklich wollen.
»Du denkst wirklich, du kannst gewinnen. So ist es doch, oder? Du denkst, wenn du psychologische Spielchen spielst und am Leben bleibst, werden sie dich doch noch finden.« Während er sprach, legte er seine Hand auf ihren Bauch und begann sie zärtlich zu streicheln. »Aber du liegst falsch. Du wirst nicht sterben. Du wirst tagelang im Dunkeln liegen und auf mich warten und warten und warten und warten und wenn du glaubst, die Einsamkeit nicht mehr auszuhalten und gleich durchzudrehen, werde ich kurz bei dir vorbeischauen und du wirst dich freuen, mich zu sehen. Doch das braucht Zeit.« Seine Hand war inzwischen zu ihrer rechten Brust hinaufgewandert, und seine Finger griffen vorsichtig nach ihrer Brustwarze. Sie ließ ihn nicht aus den Augen. »Daher werden wir beide schon bald verreisen. In ein anderes Land, wo niemand nach uns sucht. Ich habe dort bereits ein Haus gemietet. Gemütlich eingerichtet und mit einem geräumigen Weinkeller. Was hältst du davon? Du und ich. Fernab der Heimat. Auf Jahre vereint.«
Angewidert gestand sie sich ein, dass sich ihre Brustwarze aufrichtete. Was ihm natürlich nicht entging.
»Bitte!«, sagte sie, ohne zu wissen, was sie damit zum Ausdruck bringen wollte.
»Es sei denn, ich muss dich doch noch töten. Das ist leider nicht völlig auszuschließen. Vielleicht bleibt mir keine andere Wahl. Um die Machtverhältnisse wiederherzustellen und um klarzustellen, dass ich so nicht mit mir umspringen lasse.«
Was wollte er hören? Was um Gottes willen wollte er jetzt von ihr hören?
Während sie noch überlegte, wie sie ihn freundlich stimmen konnte, hielt er ihr das Blatt Papier vor die Nase.
»Ich habe nachgedacht. Und einen Text verfasst, den ich heute Mittag an die Presse verschicken werde. Willst du ihn hören?«
Sie nickte schwach. »Ja.« Was hätte sie auch sonst antworten sollen?
Er erhob sich nervös von seinem Stuhl. »Na gut. Dann also los.« Er räusperte sich mehrmals und als er begann, wirkte er plötzlich eingeschüchtert, so als würde er vor einer größeren Zuhörerschaft sprechen, und sie erkannte erstmals, wie unsicher er war. »Pressemitteilung. Nach der gestrigen Pressekonferenz sehe ich mich leider gezwungen, hart zu reagieren und die Machtverhältnisse rasch wiederherzustellen.« Während er sprach, begann er, gestikulierend im Raum herumzulaufen – voll auf seinen Text konzentriert. »Dass irgendein hergelaufener Spinner es wagt, sich mir entgegenzustellen und die Leiche eines meiner Opfer zu stehlen, kann ich unmöglich hinnehmen. Dass er weiterhin glaubt, damit durchzukommen und sich vielleicht sogar der Illusion hingibt, eine gute Tat vollbracht zu haben, ist absolut lächerlich. Dass die Medien ihn prompt sensationsgeil als Helden bejubeln, ebenso. Als Antwort auf diese Provokation habe ich gestern die Mutter einer Kriminalbeamtin getötet und weiterhin ihre Schwester entführt, und das und alles, was in den nächsten Tagen passieren wird, liegt voll und ganz in der Verantwortung von Nummer Zwei.« Er ließ das Blatt sinken und schaute Verena Bleskjew fragend an. »Nicht schlecht formuliert, findest du nicht?«
Sie schwieg. Was hatte er vor? In der Verantwortung von Nummer Zwei. Wollte er sie als Druckmittel einsetzen, um irgendwelche Forderungen durchzusetzen?
»Hier also meine Bedingungen«, fuhr er aufgeregt fort. »Nummer Zwei soll die von ihm entwendete Leiche innerhalb von vierundzwanzig Stunden an einem der Öffentlichkeit zugänglichen Ort zurücklassen. Und zwar auf genau dieselbe Weise, in welcher er sie am vergangenen Sonntag vorgefunden hat. Wird Carola Lauk nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden gefunden, so werde ich Verena Bleskjew töten.«
Die Verzweiflung, die sich in ihr breitmachte, war kaum zu ertragen. Weg, nur noch weg. Nichts mehr hören. Sich in Luft auflösen. Von all dem nichts wissen. Nur noch weg. Vierundzwanzig Stunden. Was für ein Mensch war Nummer Zwei? Würde er sich auf einen solchen Handel jemals einlassen?
Kurt konzentrierte sich erneut auf seinen Text. »Weiterhin soll sich Nummer Zwei innerhalb von achtundvierzig Stunden bei mir entschuldigen, und zwar so, dass ich seine Reue ernst nehmen kann. Tut er das nicht, wird meine Geisel ebenfalls sterben.«
Weg. Nur noch weg.
»Sollte er meine Bedingungen aber erfüllen, so würde ich mich – auch aus strategischen Gründen – für einige Monate zurückziehen und Verena als Sklavin mit mir nehmen. Die Entscheidung liegt bei Nummer Zwei. Gezeichnet: Nummer Eins. PS: Ein Foto meines Opfers lege ich bei.« Als er vom Blatt aufblickte und in ihr Gesicht schaute, wirkte er zufrieden und stolz. »Genial, oder nicht?«
Sie wollte ihn nicht verärgern, aber inzwischen quollen dicke Tränen aus ihren Augen. »Bitte!«, flehte sie ihn an. »Töten Sie mich nicht! Ich habe Ihnen doch überhaupt nichts getan.«
Anstatt zu antworten, griff er in seine Hosentasche und zog einen Lippenstift hervor, den er mit routinierten Bewegungen öffnete. »Für das Foto«, erklärte er kühl. Dann trat er zwischen ihre Beine und ging in die Hocke. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, sich zappelnd aufzubäumen, aber dann erkannte sie, wie sinnlos dies war, und rührte sich nicht. Während er sorgfältig ihre Schamlippen schminkte, konzentrierte sie ihre Gedanken auf Moses und auf ihre tote Mutter und eine Batterie leergetrunkener Wodkaflaschen. Nur, um keine Erregung zuzulassen.
»An was denkst du?«, fragte er, noch immer zwischen ihren Beinen hockend.
»An meinen Tod«, erwiderte sie zitternd. Keine Erregung zulassen!
»Noch ist es nicht so weit«, sagte Kurt. Er lachte laut auf. »Nur schade, dass ich sein Gesicht nicht sehen kann, wenn er es liest oder hört.«
»Sein Gesicht? Von Nummer Zwei?«
»Ja, natürlich von Nummer Zwei«, knurrte er. »Hörst du nicht zu?«
Er erhob sich mühsam in den Stand, trat neben ihr Gesicht und schminkte ungerührt ihre Lippen. »Eigentlich siehst du ganz gut aus«, sagte er anerkennend. »Fast wie meine Schwester.« Er schaute sich suchend um. »Ich muss noch eine Haarbürste und meine Kamera holen. Und die Zigaretten sind mir ebenfalls ausgegangen. Ich bin gleich wieder da.«
Als sie nicht antwortete, schien er einen Augenblick lang mit dem Gedanken zu spielen, ihr erneut eine Lektion zu erteilen, dann verließ er kopfschüttelnd den Raum.
»Und nicht weglaufen!«, sagte er noch, dann drehte sich der Schlüssel im Schloss.
Sie würde sterben. Wie die anderen. Schon in den nächsten vierundzwanzig Stunden. Oder sie würde verschwinden. Spurlos verschwinden. Um erst Jahre später irgendwo gefunden werden. Um Jahre gealtert. Um ihr Leben betrogen. Und um alles, was ihr bislang wichtig gewesen war. Ihre Mutter war tot. Ihr blieben nur noch Katja und einige enge Freunde. Wer würde sie vermissen? Und für wie lange? Als was würde man sie in Erinnerung behalten? Als Verena, die schüchterne Kunststudentin? Oder als Verena, die verschleppte Sexsklavin, die an einem geheimen Ort ihren Dienst verrichtete? Was war ihr lieber? Ein rascher brutaler Tod? Oder eine jahrelange Gefangenschaft, in deren Verlauf sie sich zunehmend selbst verraten und sich am Ende für immer verlieren würde?
Sie dachte an ihren Vater, den sie seit der Trennung der Eltern nicht mehr gesehen hatte. Würde er von ihrer Entführung erfahren? Würde es ihn interessieren? Er musste jetzt Anfang fünfzig sein.
Würde er an sie denken?