05:07
Noch bevor er ihr Gesicht sah, wusste er, wer sie war. Carola Lauk, siebzehn Jahre alt, Gymnasiastin aus Schwetzingen. Cellospielerin. Ihr Vater Rechtsanwalt, die Mutter Kinderkrankenschwester. Der Name sprang ihm ins Bewusstsein, als hätte er ihn auswendig gelernt. Früher hätte es ihn überrascht, wie leicht er die Informationen abrufen konnte. Inzwischen war er längst daran gewöhnt. Seit Jahren saugte sein Gehirn alles, was ihn umgab, auf wie ein Schwamm. Eigenmächtig. Wahllos. Ohne dass er auf das Wissen, das sich in ihm festsetzte, Einfluss nehmen konnte. Ohne die Möglichkeit, es wieder loszuwerden und vergessen zu können.
Sie saß nackt auf einer Bank, die Beine weit gespreizt, ihre Arme leicht gebeugt auf der Lehne abgelegt. Im fahlen Licht der Morgendämmerung schien ihr Körper zu fluoreszieren. Sie wirkte geisterhaft blass. Ihr Kopf war weit in den Nacken gelegt, so weit, dass das lange Haar bis zum Waldboden reichte, wo es sich golden mit dem Grün der Moospflanzen mischte. Den Blick hielt sie starr auf die Wipfel der Bäume gerichtet, so als hätte sie dort oben etwas Besonderes entdeckt. Unterhalb der Nase ging das Gesicht in eine unwirklich glatte Fläche über, die bis zum Kinn durch nichts unterbrochen wurde, so als fehlte ihr der Mund oder als wäre er aus unerfindlichen Gründen zugewachsen, aber da er es besser wusste, ließ er sich nicht täuschen. Umgeben von drückender Schwüle wurde ihm schlagartig kalt.
Er stand noch rund dreißig Meter von der Bank entfernt. Es war kurz nach fünf Uhr und obwohl um ihn herum schon die Vögel zwitscherten, roch es noch immer nach Nacht. Auf seinem Weg waren ihm Dutzende von Kaninchen begegnet, Spätheimkehrer, die behäbig das Weite suchten. Noch vor einem Jahr hätten sie sich weniger Zeit gelassen, damals, als sein Hund noch lebte, jetzt aber, da von dem Setter nicht mehr geblieben war als die Gewohnheit ausgedehnter Spaziergänge, schien von seinem Besitzer keine ernsthafte Bedrohung mehr auszugehen, so dass die Langohren gemächlich davonhoppeln konnten, derart langsam, dass er es fast als Kränkung erlebte.
So früh am Morgen waren die Waldpfade noch mit hauchdünnen Spinnweben versiegelt, die sich beim Gehen zart in seinem Gesicht verfingen. Er konnte sie deutlich spüren, wenn er sie aber zu ertasten versuchte, schienen sie sich seiner Hand zu entziehen. Sosehr er sich auch bemühte, sie wieder loszuwerden, sie wollten sich einfach nicht abstreifen lassen.
Gewöhnlich war er es, der den Wald als Erster betrat. Heute aber war ihm zweifellos jemand zuvorgekommen, jemand, dem man auf keinen Fall begegnen sollte, nicht in einem menschenleeren Wald und schon gar nicht ohne Hund. Vor einem Spinnennetz, das wie ein Stoppschild filigran über dem Waldweg schwebte, blieb er unschlüssig stehen. Wer immer Carola Lauk hier zurückgelassen hatte, konnte nicht den gleichen Weg wie er genommen haben. Falls der andere keine Taschenlampe benutzt, sondern die ersten Lichtstrahlen abgewartet hatte, musste er vor kurzem noch hier gewesen sein. Vor einer halben Stunde war es zwischen den Bäumen noch dunkel gewesen, und um einen Körper derart sorgfältig in Szene zu setzen, benötigte man Zeit.
Selbst ihr Haar war frisch gekämmt.
Einen Moment lang zögerte er, ob er weitergehen oder umkehren sollte. Er spürte, dass er sich fürchtete. Weniger vor der äußeren Bedrohung, vor der Anwesenheit des anderen, sondern vor dem, was in seinem Innern lauerte und was jederzeit wieder aufschrecken konnte. Es hatte Jahre gedauert und ihn unglaublich viel Anstrengung gekostet, seine Gedanken unter Kontrolle zu bringen, und er ahnte, dass dort drüben auf der Bank Eindrücke auf ihn warteten, die sich in ihm festfressen und alles zunichtemachen würden.
Er dachte an Laura, und er konnte seinen Puls im Hals spüren.
Während er sich wie beiläufig bückte, um nach einem geeigneten Stock zu greifen, fiel es ihm ein. Er sah sich müde aus dem Fenster schauen und die zurückliegende schlaflose Nacht verfluchen, und er blickte auf den Wagen, der gemächlich sein Gesichtsfeld kreuzte. Er war kurz verwundert gewesen, jemand schon so früh aus dem Wald kommen zu sehen, und wegen des Kennzeichens: SP. Er hatte seiner Verwunderung keine Bedeutung beigemessen. Jetzt aber kehrte die Erinnerung zurück, und er begriff, dass es nicht nur irgendein Wagen gewesen war, sondern der Wagen des anderen, und dass er – falls er sich nicht täuschte – mit dem Mädchen alleine war.
Ein Kombi. Dunkel. Am Ende des Kennzeichens eine Zwei und eine Drei. Oder umgekehrt.
Sieh zu, dass du von hier wegkommst, schoss es ihm durch den Kopf, während sich sein linker Fuß schon zögernd in Bewegung setzte, in Richtung der Bank.
Hoch über ihm suchte ein Specht meißelnd nach Futter, und zwei Amseln schrien sich an, als seien sie in der Lage zu hassen. Aus einem Gebüsch zu seiner Rechten drang leises Rascheln zu ihm herüber. Eine Maus vermutlich. Oder ein Vogel, der das Laub nach Fressbarem durchwühlte? Ein Rascheln, das auf etwas Kleines hindeutete. Nicht das grobe und laute Rascheln eines Menschen. Erstaunt stellte er fest, dass er den Stock inzwischen so fest umklammerte, dass sich sein Handrücken im Dämmerlicht weiß verfärbte. Er nahm sich vor, es bei nächster Gelegenheit Carmen Mingus zu erzählen. Dass er sich wirklich gefürchtet hatte. Dass er bereit gewesen wäre, mit einem abgebrochenen Ast in der Hand um sein Leben zu kämpfen, um sein gottverdammtes Leben, ausgerechnet er, den sie schon seit Jahren geduldig vom Tod fernzuhalten versuchte. Sie würde seine Beobachtung als beachtlichen Erfolg werten, mit einfühlsamer Stimme und diesem Lächeln, das schon so oft den Ausschlag gegeben hatte.
Je näher er der Bank kam, desto mehr verlor sich das Unwirkliche, und das Entsetzen wurde konkret. Ihr Mund war mit mehreren Lagen Isolierband überklebt, fleischfarben, so dass es aus größerer Entfernung nicht von der Färbung der Haut zu unterscheiden gewesen war.
Nur wenige Meter hinter der Bank begann das Wildgehege. Hinter dem Maschendrahtzaun stand ein halbes Dutzend Rehe und ein junger Hirsch und glotzten ihn an.
Erneut dieses Rascheln. Ohne zu zögern, drehte er sich um die eigene Achse, ein wenig nach vorn gebeugt, den Stock leicht angehoben in beiden Händen, gehalten wie ein Baseballschläger, doch es war niemand zu sehen. Nirgendwo eine verdächtige Bewegung. Offenbar war er noch immer allein. Er bemerkte, dass er die Luft anhielt. In seinem Kopf ein altbekanntes Pochen.
Ruhig bleiben, nicht die Kontrolle verlieren, versuchte er sich zu beruhigen. Du hast schon weitaus Schlimmeres gesehen.
Das hatte er wirklich.
Der Geruch des feuchten Waldbodens wurde mit einem Mal intensiver und fraß sich wie Säure durch seine Nasenlöcher. Er spürte, wie sich sein Darm bewegte.
Die Rehe und der Hirsch ließen ihn nicht aus den Augen.
Rasch trat er vor und stand ihr unversehens gegenüber. Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen. Dennoch registrierte er die winzigen Einblutungen unterhalb des Unterlides und die Druckstellen auf ihren Nasenflügeln und begriff widerwillig, was man ihr angetan hatte.
Ihr Körper war straff modelliert, der durchtrainierte Körper einer Jugendlichen, die zweifellos Sport getrieben hatte. Unterhalb der Brüste verlief eine fingerbreite Rötung quer über die Vorderseite ihres Brustkorbs, um sich an den Seiten schon nach wenigen Zentimetern abrupt aufzulösen. Auch ihre Handgelenke wiesen ringförmige Abschürfungen auf – unverkennbare Zeichen einer Fesselung. Die weit gespreizten Beine lenkten seinen Blick nach unten, er konnte sich nicht entziehen und erfasste irritiert das leuchtende Rot, das keineswegs echt sein konnte.
Dieses verdammte Schwein!
Schlagartig wurde ihm klar, was der andere erreichen wollte, was er Carola Lauk hatte antun wollen, und dass er es in seinem Fall bereits erreicht hatte, und in seinem Inneren stieg Wut auf und mischte sich mit Scham.
Er hatte ihr Bild in den Nachrichten gesehen. Ein hübsches Gesicht mit blauen Augen, die interessiert ins Leben blickten, an ihrer linken Wange der Hals des Cellos und die hölzerne Schnecke. Ein sympathisches Mädchen, das nicht den Eindruck erweckte, als ob es etwas gäbe, für das es sich schämen müsste.
Dennoch, dachte er, das letzte Bild wird man nie wieder los.
Der andere wollte das alles zerstören. Er hatte sich nicht damit begnügt, sie zu töten, er hatte sie völlig entblößt und ihre Scham mit Lippenstift beschmiert, und nun setzte er sie den Blicken wildfremder Menschen aus, an einem öffentlichen Ort und auf perverse Art arrangiert, um sie posthum zu erniedrigen und zu einer Hure werden zu lassen.
Er dachte an die Tränen ihrer Mutter. Wie sie sich vor laufender Kamera gedemütigt hatte. Millionen von Zuschauern waren Zeuge gewesen, wie sie weinend um Gnade flehte, und auch er hatte gebannt ihren Worten gelauscht, in dem Wissen, dass es sinnlos sein würde, und vermutlich wusste auch sie es, aber sie bettelte dennoch um ein Wunder. Zu ihrer Rechten ihr Mann, völlig erstarrt, in seinem Gesicht nur noch Resignation und die Gewissheit, dass das Leben stärker war als er. Als ihr Appell ausgestrahlt wurde, war Carola Lauk schon seit zwei Tagen verschwunden gewesen, Opfer Nummer Vier, und jedem war klar, was das bedeutete.
Der Specht hämmerte wie von Sinnen.
Dicht unterhalb der Stelle, wo ihre rechte Hand auf der Lehne ruhte, war eingeschnitzt in das Holz ein großes Herz zu erkennen: »L + P, 2007«, hörte er sich murmeln, und er musste an Laura denken.
Mit letzter Kraft warf sich sein Blick in ihre Augen.
Blau wie das Meer.
Hilf mir!
Er hörte es ganz deutlich. Die Stimme kam nicht von außen, sie drang aus ihrem Mund. Eine Stimme, die er unter Tausenden wiedererkannt hätte, die ihm so vertraut war, dass sie in seinem Innern etwas freisetzte, was er schon seit Jahren gefangen zu halten versuchte, ein Gefühl, das kaum auszuhalten war. Sein linkes Kniegelenk knickte ein, und sein Puls raste. Mit einem Mal roch es nach Schlick, und er wusste, dass er die Kontrolle verlor. Er versuchte, sich auf den Specht zu konzentrieren.
Irgendwo hatte er gelesen, dass Spechte mit ihrem Schnabel bis zu zwanzig Schläge pro Sekunde ausführen können. Dabei entspricht jeder einzelne Schnabelhieb dem Aufprall bei einer Geschwindigkeit von fünfundzwanzig Stundenkilometern gegen eine feststehende Wand und somit dem Vielfachen der Bremskräfte, welche Astronauten bei der Rückkehr auf die Erde auszuhalten haben. Insofern war es verwunderlich, dass Vögel, die mehrere Tausend Schläge pro Tag ausführten, offensichtlich nicht unter Kopfschmerzen litten.
Dieser Geruch!
Hilf mir!
Dann hörte er den Lärm. Es klang, als stampfte ein riesiges Tier quer durch den Wald genau auf ihn zu, auf ihn und Carola Lauk, mit einer Geschwindigkeit, die Flucht sinnlos erscheinen ließ.
Auch der Hirsch und die Rehe bewegten sich nicht.
»Es ist nichts«, flüsterte er, doch dann hörte er das Splittern der entwurzelten Bäume und griff eilig in seine Jackentasche. Als seine Fingerspitzen fanden, wonach sie suchten, war ihm der Lärm schon bedrohlich nahe gekommen, war nun Tosen und Gurgeln und Stampfen und Kreischen gleichzeitig, und er schloss die Augen und schob sich die Schote in den Mund, und als er sie entschlossen zerbiss und zerkaute und endlich der Schmerz einschoss, war die Bedrohung nur noch wenige Meter von ihm entfernt und raste wütend auf ihn zu, und seine Hände verkrampften sich und wollten sich nicht mehr öffnen lassen, und das Gurgeln schlug in ihn ein wie eine Faust, und das Brennen in seinem Mund wurde schier unerträglich, wurde stärker als der Schmerz und als alles andere, selbst als der Geruch von Schlick um ihn herum, und er sah Laura und wie sie die Hand nach ihm ausstreckte, und dann hörte er erneut die Stimme, aber jetzt in seinem Innern, was bewies, dass sie nur ein Gedanke sein konnte, und sie sagte: »Du musst etwas tun!«, und er begriff, dass sie recht hatte und dass er keine Zeit verlieren durfte.
Er musste zurückkehren.
Jetzt.
Sofort.
Er öffnete die Augen. Die Landschaft um ihn herum war unverändert. Nur etwas heller vielleicht. Die Schärfe der Chilischote schien seinen Schädel auseinanderzutreiben, und seine Augen hörten nicht auf zu tränen. Der Lärm war verebbt und überließ den Wald wieder seinen eigenen Geräuschen.
Als er den Kopf zur Seite drehte, schaute Carola Lauk ihn an.