06:55
Rombergs Rad stand schräg an die Garagenwand gelehnt. Eingekeilt von Marens und Lauras Rädern, die sich fest an seinen Rahmen drückten und es festzuhalten schienen. Vielleicht hatte er es aus diesem Grund seit Jahren nicht benutzt. Weil er die beiden anderen nicht einfach so beiseiteschieben wollte. Jetzt aber war es unumgänglich, denn er brauchte sein Rad. Er brauchte es unbedingt. Romberg holte tief Luft. Als sähe er sich einer giftigen Schlange gegenüber.
Das Gift der schönen Erinnerungen.
Schon um sechs Uhr morgens war er aufgestanden, hatte kurz gefrühstückt und dabei im Schnelldurchlauf die Videoaufnahme kontrolliert. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass der dunkle Kombi auch in der Nacht nicht zurückgekehrt war, hatte er die Datei gelöscht und die Kamera erneut auf der Fensterbank platziert. Das Gerät war leicht zu bedienen, und Achim hatte ihm die Funktionsweise ausführlich erklärt, so dass es ihm keine Schwierigkeiten bereitete, sie gut getarnt in Stellung zu bringen. Die Story von der verpassten Liebe hatte Achim willig geschluckt. Ohne einen Anflug von Zweifel, der durchaus berechtigt gewesen wäre. Vermutlich hatte er auf diese Geschichte schon lange gewartet, zu lange, um sie jetzt noch in Frage stellen zu können.
Romberg war klar, dass er keine Zeit verlieren durfte. Schon bald würde sich der Mörder sein nächstes Opfer suchen. Vielleicht schon am kommenden Wochenende. Er musste ihn unbedingt finden, bevor dies geschah. Dennoch machte er sich keine Illusionen. Ob der Täter sich schon jetzt an den Tatort zurückwagen würde, war mehr als fraglich. Dafür war das Risiko einfach zu hoch. Einfach nur dazusitzen und abzuwarten, kam daher nicht in Frage. Er würde nach Speyer fahren und den Renault gezielt suchen müssen. Wenn er seinen bisherigen Rhythmus beibehielt, blieben Romberg noch mindestens fünf Tage. Speyer war nicht groß. Aber auch nicht gerade klein. Auf sein Auto würde er verzichten müssen. Sich gleichzeitig auf den Verkehr und auf die geparkten Wagen zu konzentrieren, wäre schlichtweg zu kompliziert. Zu Fuß wiederum würde er zu viel Zeit benötigen, und die Zeit war knapp. Das Fahrrad stellte eine geeignete Zwischenlösung dar. Damit würde er einerseits zügig vorankommen, gleichzeitig aber auch jederzeit anhalten können, um Nummernschilder zu kontrollieren. Den Fahrradständer hatte er bereits auf die Anhängerkupplung montiert. Jetzt fehlte nur noch das Rad.
Ganz ruhig! Du schaffst das schon.
Als er nach Marens Fahrrad griff, hörte er deutlich ihr fröhliches Lachen, und von der französischen Küste wehte kühl eine salzige Brise herüber und drang verlockend in seine Nase. Er schob es bis zur hinteren Garagenwand, klappte den Fahrradständer nach unten und balancierte das Gewicht sorgfältig aus, bis er sich absolut sicher war, dass es auf keinen Fall umkippen würde.
Dann berührte es Lauras Rad, in Erwartung eines überwältigenden Gefühls, aber die Reaktion blieb aus. Keine Erinnerung. Kein Gefühl. Totes Metall. Irritiert schob er es zur Seite und schloss die Augen. Er versuchte, sich Lauras Gesicht bewusst ins Gedächtnis zu rufen, doch irgendetwas in seinem Innern schien mit Macht dagegen anzukämpfen. Als es ihm schließlich dennoch gelang, sah er sie weit vor sich, dicht vor einer wabernden Nebelwand. Sie trat wild in die Pedale und wandte ihm ihren schmalen Rücken zu. Wie zerbrechlich sie doch war. Kurz bevor sie verschwand, drehte sie sich ein letztes Mal zu ihm um. Als sein Blick auf ihr Gesicht fiel, traf es ihn wie ein Schlag. Es war das Gesicht von Carola Lauk.
Sein Puls raste.
Nicht schon wieder!
Durchatmen!
Keine Panik!
Erschrocken öffnete er die Augen, riss sein Trekking-Bike von der Wand und schob es eilig aus der Garage. Beide Reifen waren platt. Indem er seine Gedanken an dieses Detail heftete, zwang er sie diktatorisch in eine Kreisbewegung.
Platt. Platt. Platt.
Er schnappte sich die Fahrradpumpe, kniete sich neben das Vorderrad und suchte nach dem Ventil.
Platt, platt, platt, dachte er erneut, und obwohl er pumpte wie von Sinnen, begann sich sein Herzschlag zu normalisieren. Als er zehn Minuten später losfuhr, war er wieder stabil.
Unterwegs warf er die beiden Briefe ein, die er nachts geschrieben hatte. Einer davon war an ihn selbst adressiert. Falls ihm etwas zustoßen sollte, so wurde darin alles gesagt, was gesagt werden musste. Achim würde den Umschlag im Briefkasten finden und sicher nicht zögern, die Polizei zu informieren. Falls aber alles gutginge, so wäre er selbst es, der den Brief öffnen und erneut losschicken würde. Ein Kreislauf, den er so lange beibehalten musste, bis alles geklärt war.
Kurz nach acht Uhr parkte er seinen Wagen auf dem großen Parkplatz nahe dem Technischen Museum. Er löste die Gurte des Fahrradständers, hob das Rad aus der Halterung und stellte es behutsam vor sich ab. Dann ging er zu einem der Parkscheinautomaten. Er zahlte im Voraus für einen ganzen Tag und legte den Zettel gut sichtbar hinter die Windschutzscheibe. Nur hundert Meter von ihm entfernt ragte der Speyerer Dom wuchtig in den Morgenhimmel. Er schloss die Fahrertür und verriegelte den Wagen. Anschließend setzte er sich auf das Rad und fuhr los.
In seinem Kopf gab es keinen bestimmten Plan. Also radelte er erst einmal quer durch den Domgarten bis hinauf zum Dom. Die Strecke waren sie früher oft zu Fuß gegangen. Zum Weihnachtsmarkt oder zum Museum oder um das Innere der Kirche zu besichtigen.
Lange her.
Abseits der Touristenattraktionen war er nie gewesen. Daher kannte er kaum einen Straßennamen. Beim Gedanken an die vielen Randbezirke und Vororte, die er würde abfahren müssen, überkam ihn ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Er hatte keine Chance. So wie damals, als er tagelang zwischen Bergen von Trümmern herumgeirrt war, und um ihn herum nur Tod und Verwüstung. Keine Chance.
Die Hauptader der Stadt und Speyers Einkaufsmeile bildete unangefochten die Maximilianstraße, die sich vom Dom aus nach Westen erstreckte. Dort zu suchen, erschien ihm sinnlos. Für sein Tun benötigte der Mörder eine gewisse Abgeschiedenheit, und inmitten des Zentrums würde es ihm zweifellos schwerfallen, auf Dauer unentdeckt zu bleiben. Romberg beschloss, sich erst einmal auf die Straßen nördlich der Maximilianstraße zu konzentrieren. Drei Stunden lang fuhr er in einer abenteuerlichen Zickzack-Route kreuz und quer durch die Stadt. An körperliche Anstrengungen war er nicht mehr gewöhnt, und schon nach kurzer Zeit war er außer Atem und völlig nassgeschwitzt. Dennoch amüsierte er sich über Straßennamen wie »Am Rübsamenwühl« oder »Hinterm Esel« und nahm sich vor, sich nicht unterkriegen zu lassen. Nur zwei Mal stieß er auf Kennzeichen, die mit dreiundzwanzig oder zweiunddreißig endeten. In einen Fall war es ein roter Smart, im anderen ein mokkafarbener VW-Bus. Als er erschöpft zum Domplatz zurückkehrte, war die Ausbeute ernüchternd. Mittlerweile hatte sich die Hitze wie undurchlässige Plastikfolie über die Stadt gelegt, und sein T-Shirt klebte feuchtwarm auf seiner Haut. Im Biergarten des »Domhofs« suchte er sich ein schützendes Stück Schatten und bestellte sich einen Wurstsalat mit Pommes und ein Pils aus der hauseigenen Brauerei. Er war pausenlos geradelt, hatte aber höchstens zwanzig Prozent des Stadtgebiets kontrolliert. Was ihn daran besonders deprimierte, war die Einsicht, dass er bereits abgefahrene Straßen dennoch nicht als erledigt abhaken konnte. Es war durchaus möglich, dass er den Laguna dort nur deswegen nicht aufgespürt hatte, weil der Mörder am Morgen zur Arbeit gefahren war. Genaugenommen wäre es daher besser, nachts zu suchen, aber dann würde es ihm schwerfallen, die Kennzeichen zu erkennen.
Am Nebentisch unterhielten sich zwei Frauen über einen Mann, den beide kannten und der neulich geheiratet hatte. Die Auserwählte schien nicht ihren Vorstellungen zu entsprechen, und sie analysierten genüsslich jede ihrer Schwächen, so dass zwangsläufig der Eindruck entstand, als wären sie gern an der Stelle der Braut gewesen, oder als hätten sie früher mit dem Bräutigam geschlafen und wären nun wütend, dass er sich für eine andere entschieden hatte. Sie waren beide hübsch, aber das, was sie sagten, veränderte ihre Mimik in einer Weise, die sie hässlich werden ließ.
Er schaute hinüber zum Dom, der seit rund tausend Jahren das Stadtbild bestimmte. Elftes Jahrhundert. Die größte erhaltene romanische Kirche der Welt. Als Konrad der Zweite damals den Auftrag erteilt hatte, die größte Kirche des Abendlandes zu errichten, hatte Speyer gerade einmal fünfhundert Einwohner vorzuweisen. Im Nachhinein unbegreiflich. Ein kleines Nest mit fünfhundert Seelen neben einem Gebirge aus Stein. Damals wäre es ein Leichtes gewesen, den Mörder aufzutreiben.
Was hatte er sich nur dabei gedacht? Hatte er tatsächlich geglaubt, dass es so einfach wäre? Was, wenn er den Täter nicht fand? Was, wenn dieser schon bald die nächste Frau entführte? Allein hatte er einfach keine Chance. Ihm blieb nur noch die Möglichkeit, die Polizei anzurufen, anonym natürlich, um ihnen einen Tipp wegen des Nummernschilds zu geben. Das sollte ausreichen. Aber wie sollte er sein Wissen begründen, ohne gleichzeitig preiszugeben, dass Carolas Leiche in seiner Tiefkühltruhe lag?
»Das Kleid muss die völlige Katastrophe gewesen sein«, stellte eine der Frauen bissig fest. Ihr Haar war eindeutig blond gefärbt und sie schien erfolgreich zu verdrängen, dass sie eine Bluse mit Leopardenmuster trug. Ihr Gegenüber, eine dickliche Brünette, lachte gehässig auf.
Und wenn er einfach log? Wenn er sich irgendeine Geschichte ausdachte, die sie bereitwillig schlucken würden, so wie auch Achim die entlaufene Traumfrau nicht angezweifelt hatte? Die Wahrheit war schrecklich kompliziert. Die Lüge dagegen würde vieles vereinfachen. Zumindest bot sie ihm die Chance, seine Informationen weiterzugeben, ohne sich dafür selbst ans Messer liefern zu müssen.
Während er noch nach einer Lösung suchte, sah er, wie sich die Mimik der Leopardenfrau abrupt veränderte. Ihr Blick war auf die Straße gerichtet, und sie schien etwas erspäht zu haben, was sie erkennbar beunruhigte. Ohne auffällige Hast folgte Romberg ihrem Blick. Er musste nicht lange suchen, denn der Auslöser für ihre Reaktion war nicht leicht zu übersehen. An die zwei Meter groß, breite Schultern, furchteinflößend. Er trug eine dunkle Sonnenbrille und ein T-Shirt mit der Aufschrift: Was genau ist eigentlich dieses England? und versprühte den Charme eines russischen Auftragskillers. Unter dem T-Shirt bildeten sich gewaltige Muskelpakete ab, und seine Oberarme waren vermutlich dicker als die Beine der Blondine. Man konnte der Frau nur beipflichten. Er sah wirklich beeindruckend aus. Beide Arme waren fast vollständig tätowiert, und auch aus dem Kragen des T-Shirts schlängelten sich rote Flammen über die Haut seines Halses bis hinauf unter das Kinn und an den Rand des Dreitagebarts.
Romberg lächelte.
Seit Jahren litt er unter dem Gefühl, in einer Parallelwelt zu leben. In einer Art Nebenhölle, in der es nur wenige Gleichgesinnte gab, mit denen er sich über seine Probleme austauschen konnte. In dieser Parallelwelt hausten die merkwürdigsten Typen, und einer von ihnen hatte gerade den Biergarten betreten.
»Nettes T-Shirt«, sagte Romberg laut. »Zwei Nummern zu klein, aber cool.« Er konnte sehen, wie das Leopardenmuster am Nebentisch erschrocken zusammenzuckte.
Der Mann blieb verwundert stehen. Mit zusammengekniffenen Augen schaute er sich kampflustig um. Als er Romberg sah, stutzte er kurz, dann strahlte er über das ganze Gesicht.
»Romberg? Heilige Scheiße! Ich dachte, du bist schon lange tot!«