06:57
Der Wecker war auf sieben Uhr eingestellt, aber Lena Böll lag bereits seit mehreren Minuten wach. Sie war aus einem Traum aufgeschreckt, dessen Inhalt sich ihr im gleichen Moment, als sie die Augen öffnete, scheu entzog. Sie wusste nur noch, dass es kein Albtraum gewesen war. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, der Müdigkeit nachzugeben und sich zurück ins Nichts fallenzulassen. Der einzige Grund, gegen diesen Impuls anzukämpfen, war die Annahme, dass Carola Lauk tot war und dass man sie vermutlich schon bald anrufen würde. Noch vor Jahren hätte sie die Einsicht, dass sie dieser Nachricht entgegenfieberte, kaum zulassen können. Inzwischen war das anders. Ihr Job bestand nicht darin, die Opfer zu bedauern. Dafür gab es andere. Psychologen zum Beispiel, die sich um die Angehörigen kümmern und deren Wut und Trauer in kalkulierbare Bahnen lenken würden. Erfreulicherweise hatte sie damit nur wenig zu tun. Mit etwas Glück würde ihr Carolas Tod neue Informationen liefern, Informationen, die sie dringend benötigte, um dem Täter ein weiteres Stück näher zu kommen. Für sie, die Jägerin, zählte nur die Spur. Vielleicht würde sich Carolas Körper als Ausgangspunkt einer brauchbaren Fährte erweisen, die sie am Ende zu ihrer Beute führen würde, und genau das und nichts anderes war ihr Job.
Mit aller Kraft öffnete sie die Augen. Die Decke war weiß verputzt und durch einen wuchtigen Querbalken in zwei gleich große Flächen unterteilt. Auch die Wände wurden durch das dunkle Fachwerk in geometrische Formen fragmentiert. Dazwischen hingen kleine Aquarelle, welche Motive aus Ladenburg zeigten: die alte Fähre, eine Innenansicht des Carl-Benz-Museums, der Marktplatz mit dem Brunnen. Inmitten des Raumes schien ein senkrechter Holzträger die gesamte Decke zu stützen, was beruhigend war, denn alles in dem Raum wirkte so schief, als könnte schon eine kleine Erschütterung genügen, um das Gebäude zum Einsturz zu bringen. Durch die winzigen Fenster fiel graues Dämmerlicht in den Raum. Gerade hell genug, um sich durch die Scheiben hindurch bis zu ihrem Bett vorzutasten. Die Unterkunft hatte ihr Mildenberger besorgt, ein kleines Haus in der Altstadt, das eigentlich verkauft werden sollte. Der Besitzer war mit der Familie des zweiten Mordopfers befreundet. Er hatte daher nicht gezögert, den Verkauf noch aufzuschieben und dort stattdessen Lena Böll einzuquartieren.
Ihr Blick fiel auf die Fotografie auf dem Nachttisch, das Bild von ihr und ihrem Vater, das sie seit Jahren begleitete und das ihr immer ein Gefühl der Geborgenheit vermittelte. Die Bilder ihrer Mutter hatte sie schon vor Jahren geschreddert. Was sie nachträglich bereute, aber damals war sie gekränkt und wütend gewesen und völlig außer Kontrolle.
Als sie laut gähnte, knackte ihr Kiefergelenk.
Neuer Input war dringend nötig, denn trotz einer Vielzahl von Spuren und Hinweisen tappten sie nach wie vor im Dunkeln.
Zwei Tage nach ihrer Ankunft hatte der Täter Johanna van Ahsen getötet und ihre Leiche in einem Waldstück bei Hockenheim abgelegt, an einem Sonntagmorgen, mit zugeklebtem Mund und in der üblichen Position. Die Technik hatte Fasern und mehrere Haare gefunden und erstmals auch einige Hautschuppen. Die Haare stammten von drei unterschiedlichen Personen, doch nur ein einziges Haar war identisch mit einem Haar, das beim zweiten Mord sichergestellt werden konnte. Die Hautschuppen dagegen wiesen übereinstimmend die gleichen Erbinformationen auf, was wie eine brauchbare Spur wirkte, aber im Team dennoch auf Skepsis stieß. Der Ablauf ähnelte in allen entscheidenden Punkten dem Ablauf der zweiten Tat, so dass anzunehmen war, dass er ein Schema gefunden hatte, das er vorerst beibehalten würde.
Der Fall hatte hohe Wellen geschlagen. Schon vorher war in der Region die Angst umgegangen. Viele Frauen hatten es nicht mehr gewagt, allein den Wald oder abgelegene Plätze aufzusuchen. Zu Hause aber hatten sie sich nach wie vor sicher gefühlt. Als jedoch Johanna van Ahsen aus ihrem eigenen Haus entführt worden war, war die Angst in Panik umgeschlagen. Wie sollte man sich schützen, wenn es nicht nur die Leichtsinnigen waren, die der Täter sich greifen konnte? Selbst in den eigenen vier Wänden fühlte sich niemand mehr sicher, und die Anzahl der Anruferinnen, die sich bedroht glaubten und verängstigt um Hilfe baten, schnellte dramatisch in die Höhe – und damit auch die Anzahl von Hinweisen, denen die Sonderkommission nachgehen musste. Natürlich war es der Presse nicht entgangen, dass die Mordkommission kurz vor van Ahsens Tod durch einen prominenten Zugang aufgestockt worden war, und natürlich berichtete jede Zeitung von Lena Bölls Ankunft und schürte reißerisch die Hoffnung, dass sie dem Treiben des Mörders schon bald ein Ende bereiten würde. Wie zu erwarten wurden die übersteigerten Hoffnungen der Presse am Ende enttäuscht. Schlimmer noch. Obwohl sie Hunderte von Spuren verfolgt hatten, waren sie dem Täter kein Stück näher gekommen.
Wäre Rössler bloß nicht auf das Skateboard getreten! Zwei Tage nach van Ahsens Tod war er aus dem Koma erwacht. Gerüchten zufolge hatte er die Augen aufgeschlagen, seine neben dem Bett sitzende Frau zärtlich angelächelt und »Hallo, Tanja!« gemurmelt. Was nicht nur Freude, sondern auch Irritationen auslöste, da seine Frau Corinna hieß. Auch an den Vorfall mit dem Skateboard hatte er sich nicht mehr erinnern können. Inzwischen ging es ihm deutlich besser, aber er war noch immer krankgeschrieben.
Sie schleuderte beide Beine über den seitlichen Rand des Bettes und kam schwungvoll in den Stand. Als ihre Füße das Parkett berührten, bemerkte sie, dass sie schwankte. Einen Moment lang fürchtete sie, das Gleichgewicht zu verlieren, doch dann hatte sie sich unter Kontrolle, und das Schwindelgefühl verschwand. Sie griff nach dem Handy und ging ins Badezimmer, wo sie es nahe der Duschkabine auf dem Regal ablegte. Die Armatur der Dusche war alten englischen Wasserhähnen nachempfunden und mit den Aufschriften HOT und COLD versehen. Obwohl sie die kleinen Fenster während der Nacht offen gelassen hatte, war die stickige Schwüle noch immer nicht aus den Räumen entwichen. Dafür hatten mehrere Stechmücken ihre Chance genutzt und sie stundenlang auf Trab gehalten. Sie entschied sich für COLD. In dem riesigen Duschkopf über ihrem Kopf begann es zu sprudeln, und als das kalte Wasser auf ihre verschwitzte Haut herabstürzte, explodierte ihr Puls, und sie war schlagartig wach. Im selben Moment, als sie nach dem Duschgel griff, drang durch das Prasseln des Wassers hindurch der Vierachteltakt eines Tangos an ihr Ohr.
So früh schon? Sie schloss die Wasserzufuhr, öffnete die gläserne Duschverkleidung und griff nach dem Handy.
»Böll.«
»Hallo, Lena. Habe ich dich geweckt?«, fragte Krüger, so als riefe er nur beiläufig an, doch seine Anspannung war nicht zu überhören.
Sie verkniff es sich, ihm anzuvertrauen, dass sie nackt unter der Dusche stand, konnte aber nicht ausschließen, dass sie der Hall des gefliesten Badezimmers dennoch verriet. »Nein, kein Problem. Ich liege schon seit geraumer Zeit wach und denke nach. Hat man sie gefunden?«
»Nein, noch nicht. Aber dennoch steht zweifelsfrei fest, dass sie tot ist.«
»Wieso? Was ist passiert?«
»Du wirst es nicht glauben: Er hat sich gemeldet.«
»Wow! Wann? Und wie?« Sie hörte die Erregung in ihrer Stimme. Das änderte alles.
»Gegen sechs Uhr dreißig hat er eine SMS an Carolas Eltern losgeschickt. Der Text ist widerlich: Die Schlampe hat es hinter sich. Ihr dürft jetzt trauern. Kurz darauf folgte dann noch eine zweite SMS. Sie ist – Überraschung Nummer zwei – tatsächlich an dich gerichtet.«
»Ach!«
»Ach? Ist das alles, was dir dazu einfällt: Ach? Hattest du nicht unmittelbar nach deiner Ankunft eindrucksvoll erläutert, dass du in jeder Hinsicht seinem Beuteschema entsprichst?«
Sie lächelte. Dass er sich um sie sorgte, tat ihr gut. Die meisten Menschen, die sie kannte, wünschten ihr – zumeist aus guten Gründen – die Krätze an den Hals. Über lange Zeit hatte sie dies regelmäßig mit einem Sprichwort kommentiert: Die Bedeutung eines Menschen erkennt man an der Anzahl seiner Feinde, aber in den letzten Jahren hatte sich ihr Freundeskreis zunehmend in Luft aufgelöst, und nachdem Michael sie allein in der Wohnung zurückgelassen hatte, hatte sie sich widerwillig eingestehen müssen, dass ihr nichts geblieben war als ihr Job und dass sie häufig einsam war.
Sie stieg aus der Duschwanne, ging – ohne sich abzutrocknen – zur Badezimmertür und durchquerte mit nassen Füßen das verwinkelte Wohnzimmer. »Ja, jetzt, da du es sagst, fällt es mir wieder ein. Was hat er mir geschrieben?«
»Nichts Besonderes. PS: Liebe Grüße an HK Böll.«
Sie ging in die Küche, öffnete die untere Tür des riesigen Kühlschranks und griff sich ein Eis. »Mehr nicht?«
»Nein. Mehr nicht. Was hast du erwartet? Einen Heiratsantrag?« Krügers Stimme klang gereizt. »Warum, glaubst du, tut er das? Will er dir Angst einjagen?«
Während sie die Packung aufriss, setzte sie sich nass, wie sie war, auf das Bett und bohrte die Schneidezähne genüsslich in die dicke Schicht aus Mandeln und Schokolade. Als diese knackend nachgab, strömte kühler Vanillegeschmack in ihren Mund. Sie schloss die Augen, biss ein großes Stück ab und schob es mit der Zunge an die Innenseite der linken Wange. Ein vages Gefühl des Glücks stieg in ihr auf. Reminiszenz einer fast vergessenen Kindheit, Erinnerungen an sommerliche Ausflüge, an Zoobesuche und das Platschen des Chlorwassers im nahe gelegenen Freibad. An ihre Eltern, als sie noch Arm in Arm gingen. Dies alles auf ewig konserviert in einem süßlichen Geschmack.
»Das auch. Aber in erster Linie will er seine Macht demonstrieren. Er will mich demütigen. Wahrscheinlich haben ihn die Zeitungsmeldungen provoziert. Dieses ganze Gerede über mich und meine Fähigkeiten. Das muss ihn gereizt und verunsichert haben. Indem er sich meldet, zeigt er uns, wie unangreifbar er sich fühlt, und dass nach wie vor er es ist, der alles kontrolliert. Aber ich glaube nicht, dass er in den nächsten Minuten hier aufkreuzen wird, um mich zu entführen oder zu töten.«
Dennoch war sie froh, dass sie nicht zu Birgit gezogen war, einer engen Freundin aus alten Zeiten, die ihr mit dem Wechsel nach Stuttgart allmählich verlorengegangen war. Sie hatte ihr angeboten, bis zum Abschluss der Ermittlungen bei ihr zu wohnen. Der Vorschlag war verlockend gewesen, aber Lena Böll hatte ihn dennoch abgelehnt. Birgit hatte eine auffallend hübsche Tochter, und sie wollte dem Täter keine Angriffsfläche bieten.
»Was isst du da eigentlich?«, wollte Krüger wissen, dem die Veränderung in ihrer Stimme anscheinend nicht entgangen war.
»Eis«, erwiderte sie wahrheitsgemäß.
»Eis? Um sieben Uhr morgens?«
»Ja. Für dich als Leistungssportler vermutlich das Grauen. Bei dieser Hitze aber das einzig Wahre. Hat jede Menge Kalorien. So wie du derzeit aussiehst, würden dir ein bis zwei Kilo davon sicherlich guttun. Pro Tag natürlich.«
»Haha! Wirklich witzig!« Seine Stimme klang gekränkt. »Was macht dich so sicher, dass er sich wirklich von dir fernhalten wird?«, kehrte er abrupt zum Thema zurück.
Schröder hat es geahnt, dachte sie. Und genau deswegen bin ich auch hier.
»Sein Profil«, erwiderte sie knapp. »Momentan ist es ihm wichtiger, mich bloßzustellen. Es mit mir aufzunehmen und mich in aller Öffentlichkeit zu demütigen, wäre für ihn das Allergrößte. Gut möglich, dass er es liebend gern versuchen würde, und mag sein, dass er es irgendwann versuchen wird, aber sicherlich nicht jetzt. Außerdem wäre es ziemlich dämlich, mich vorzuwarnen. Schließlich kann er sich denken, dass ich eine Waffe trage, und mit Sicherheit weiß er über Hoffmann Bescheid und will auf keinen Fall enden wie er. Es unter diesen Umständen zu versuchen, wäre fast schon lebensmüde. Nein, glaub mir, fürs Erste bin ich noch völlig sicher.«
Sie strich vorsichtig über ihre Wange. Die Schnittwunde war gut verheilt. Zurückgeblieben war nur ein heller Strich. Damals waren sie unvorsichtig gewesen. Hatten nicht auf die Verstärkung gewartet. Waren nur darauf fixiert gewesen, das Kind zu retten. Und dann, völlig überraschend, hatte Hoffmann nach einer Weinflasche gegriffen und zugeschlagen, und Kuhn, ihr Kollege, war bewusstlos zu Boden gegangen, und plötzlich waren da nur noch Hoffmann und sie gewesen, und als sie nach dem Halfter griff, hatte er die zersplitterte Flasche nach ihr geworfen, und ihre Pistole war zu Boden gefallen, und dann hatte er ein Messer gezogen und sie mit weit ausholenden Bewegungen angegriffen. Sie war um ihr Leben gelaufen. Hinüber zur Treppe und hinauf in den ersten Stock. Hoffmann mit dem Messer dicht hinter ihr, so dicht, dass sie sein Keuchen hören konnte. In ihrem Gehirn nur noch Furcht und das Warten auf den Schmerz. Auf die Klinge des Messers, die sich glatt und kalt in ihren Rücken bohren würde. Doch als sie das Obergeschoss erreichte, war sie noch immer am Leben. Lebendig in einer Sackgasse, in der das Weglaufen sinnlos war. Sie riss eine der Türen auf und rannte in ein Zimmer. An zwei der Wände Fenster, aber keine weitere Tür. Ein riesiger Schreibtisch, dessen rechte Seite die Wand berührte. Dahinter ein Stuhl und ein Bücherregal. Vier große Schritte quer durch den Raum und zwei weitere bis hinter den Schreibtisch. Dann saß sie in der Falle. Als sie sich umdrehte und die Fäuste hob, hätte er sie um ein Haar erwischt, und für Sekunden war alles nur eine Frage von einigen Millimetern. Mit einem Hieb von schräg unten nach oben hatte er ihr die Wange aufgeschlitzt, und als warmes Blut über ihr Gesicht lief und als Hoffmann erneut ausholte, dachte sie, dass sie nun sterben würde, sie und dann Kuhn und das Kind, welches er irgendwo im Haus versteckte, und dann drehte sie sich entschlossen zur Seite, zog ihr Knie ruckartig nach oben und streckte das Bein mit voller Kraft durch. Während Hoffmann noch triumphierend lächelte, schleuderte ihn die brutale Wucht des Tritts wie ein Geschoss nach hinten. Dieser Ausdruck in seinem Gesicht, den sie niemals vergessen würde. Dieser Moment, als er schlagartig begriff.
»Hoffentlich hast du recht«, lenkte Krüger vorsichtig ein.
»Vertrau mir! Genaugenommen wären regelmäßige Botschaften an mich das Beste, was uns derzeit passieren könnte. Wissen wir schon, über welchen Funkmast die Nachricht lief?«
»Noch nicht, aber wir arbeiten mit Hochdruck daran.«
Sie schaute auf die Uhr. »Man wird Carola schon bald irgendwo finden. Ich springe noch kurz in die Dusche und komme danach ins Büro. Schade. Ich hatte mich schon auf das Fußballspiel gefreut. Aber daraus wird wohl leider nichts werden.«
»Nein, wohl eher nicht«, antwortete Krüger bitter. Er liebte Fußball. Ohne noch etwas hinzuzufügen, legte er auf.
Zehn Minuten später verließ sie mit nassen Haaren das Haus. Bevor sie die Haustür öffnete, führte sie die linke Hand hinter den Rücken und zog die Pistole aus dem Halfter. In ihrem Innern dieses einzigartige Gefühl. So wie damals. Als alles vorüber und alles möglich war.
Sie dachte an Kuhn. Er war inzwischen nach Lübeck gezogen – wegen einer Frau, wie er sagte. Als sie auf die Straße trat, schaute sie sich vorsichtig um. In der schmalen Gasse zwischen den alten Gebäuden war niemand zu sehen.
Das wäre auch wirklich zu einfach gewesen, dachte sie enttäuscht, während sie die Waffe sicherte, und machte sich eilig auf den Weg.