Wochen zuvor, Los Angeles, Donnerstag, 00:20

Nach nur zwanzig Minuten Schlaf schreckte ihr Handy sie auf.

Benommen ließ sie ihre Linke zur Seite gleiten und führte sie in größer werdenden Spiralen über Notizzettel, Klemmmappen und Fotos hinweg, bis an den Rand der Matratze, wo ihre Fingerspitzen gegen etwas Hartes stießen. Während sich ihre Hand um das Handy schloss, öffnete sie widerwillig die Augen. Auf der Ablage neben dem Bett stand eingefasst in einen Holzrahmen eine Fotografie, die sie gemeinsam mit ihrem Vater zeigte. Das Bild war vor über zwanzig Jahren aufgenommen worden. Sie selbst dreizehn Jahre alt und glücklich in die Kamera lächelnd, ihr Vater unübersehbar stolz mit einer abgeknickten Kochmütze auf dem Kopf, im Hintergrund die Hightech-Küche eines Luxushotels in Buenos Aires.

Die Handymelodie, ein trauriges Bandoneon, das einen Tango interpretierte, wurde unversehens lauter.

Sie führte das erleuchtete Display dicht vor ihr Gesicht, blickte kurz auf die Anzeige und drückte OK.

»Böll.«

»Tut mir leid. Sie werden Ihren Aufenthalt abbrechen müssen«, erklärte Schröder knapp, und seine Stimme klang so klar, als riefe er aus dem Nebenhaus an und nicht aus einer Entfernung von mehreren tausend Kilometern. Dass er es nicht für nötig erachtete, seinen Namen zu nennen, und stattdessen voraussetzte, dass sie ihn sofort an seiner Stimme erkennen würde, war typisch für ihn. Noch bevor sie Einspruch erheben konnte, fügte er hinzu: »Wir brauchen Sie hier. Dringend. So wie es aussieht, ist in Ihrem alten Revier ein Serienmörder unterwegs.«

Sie schaute müde auf die Uhr. »Hallo, Chef. Echt erfrischend, morgens um halb eins Ihre Stimme zu hören. Wäre heute der erste April, dann würde ich jetzt laut lachend auflegen. Ist das Ihr Ernst? Sie wollen mich tatsächlich von hier abberufen?«

Schröder war ihr direkter Vorgesetzter. Ihm zu widersprechen, wagten nur wenige, aber in Stuttgart gab es niemanden, der es so oft gewagt hatte wie sie und der so oft damit durchgekommen war. Als er weitersprach, lag etwas ungewohnt Einfühlsames in seiner Stimme, so als sei ihm plötzlich bewusst geworden, dass er gut daran tat, diplomatisch vorzugehen. »Ich würde Ihnen das sicherlich nicht abverlangen, wenn es nicht dringend erforderlich wäre. Aber er hat bereits zwei Frauen getötet und eine dritte entführt. Das Mannheimer Team tritt seit Wochen auf der Stelle, und ich kenne leider niemanden, der sich in blutrünstige Psychopathen auch nur annähernd so gut einzufühlen vermag wie Sie.«

Wenn Schröder sich mit Lob versuchte, ging das meist schon im Ansatz schief. Selbst wenn man ihm unterstellte, dass er es ernst meinte, schienen sein Tonfall und jede einzelne Formulierung den Inhalt seiner Aussage zu sabotieren. Am Ende war man sich nie völlig sicher, ob man gelobt oder gezielt verhöhnt wurde. Schröder war verheiratet und hatte vier heranwachsende Kinder, und jeder im LKA fragte sich, wie seine Frau ihn über zwei Jahrzehnte lang ertragen hatte.

»Ich hoffe, das leider bezieht sich ausschließlich auf Ihr Bedauern, mir das, was nun kommen wird, zumuten zu müssen, und nicht etwa auf meine Person.«

Als er weitersprach, konnte sie hören, dass er lächelte. »Wenn ich Ihnen auf diese Frage wirklich antworten müsste, hätte ich Sie in beruflicher Hinsicht unterschätzt.«

Sie unternahm einen letzten halbherzigen Versuch, sich seiner Order zu entziehen. »Was ist mit Rössler? Er kennt sich mit Mehrfachtätern genauso gut aus wie ich.«

»Selbst wenn das zuträfe … was ich bezweifle … wird uns Rössler derzeit nicht weiterhelfen können. Er liegt im Krankenhaus. Vor einer Woche ist er auf das Skateboard seines Sohnes getreten und ungebremst auf den Hinterkopf aufgeschlagen.«

»Im Ernst?« Sie konnte Rössler nicht leiden. Nachdem sie seine Einladung zum Abendessen ausgeschlagen hatte, hatte er gekränkt versucht, sie im LKA durch Intrigen ins Abseits zu drängen. Ihre Anteilnahme hielt sich daher in Grenzen.

»Höre ich mich etwa an, als sei ich zu Scherzen aufgelegt?«, fragte Schröder gereizt. »Ich bin schon froh, wenn er das Ganze überlebt. In der Klinik warten sie immer noch darauf, dass er aus dem Koma erwacht.«

»Das kann doch nicht wahr sein!«

Der Gedanke, dass ein Mann wie Rössler von einem Skateboard zur Strecke gebracht werden könnte, ausgerechnet er, der sich vor Jahren bei einer Schießerei zwei Kugeln eingefangen hatte, erschien ihr so absurd, dass er trotz aller Tragik komisch wirkte. Sie begriff, dass Schröder unter diesen Umständen ein Nein auf keinen Fall hinnehmen würde. Auch wenn er sein Anliegen vorerst noch als Bitte tarnte, blieb ihr keine andere Wahl. Für ihren Trip nach L.A. hatte man sie für acht Wochen freigestellt. Für Schröder ein harter Brocken, aber natürlich war ihm klar gewesen, dass sie von ihren Erfahrungen beim FBI und beim LAPD profitieren würde und damit irgendwann auch er, und so hatte er eingewilligt.

»Tja«, sagte sie bissig. »Es wäre wohl fast schon paradox, einen Serientäter weitermorden zu lassen, nur um eine Fortbildung abzuschließen, bei der ich meine Fähigkeiten updaten will, um genau das zu verhindern.«

»Das sehe ich auch so.« Schröders Stimme klang unüberhörbar erleichtert. »Momentan wird die SOKO in Mannheim von einem gewissen Krüger geleitet. Ich nehme an, Sie kennen ihn?«

»Ja, sehr gut sogar.« Als sie von Mannheim zum Landeskriminalamt wechselte, war Krüger in ihr Büro gezogen. Soviel sie wusste, hatte er seither gute Arbeit geleistet.

»Stellt es für Sie ein Problem dar, mit ihm gemeinsam ein Team zu leiten, oder geht das für Sie klar?«

»Nein, kein Problem«, erwiderte sie überrascht. Krüger war ein Typ, mit dem man auskommen konnte. Was sie allerdings irritierte, war Schröders Absicht, sie direkt vor Ort einzusetzen. Im LKA hatte sie vorwiegend als Fallanalytikerin gearbeitet und einzelne Dezernate von Stuttgart aus unterstützt.

»Sie wollen, dass ich in Mannheim arbeite? In meiner alten Abteilung? Bis zur Klärung des Falls?«

»Ja. Ich halte das für eine gute Idee. Sie kennen die Gegend und die Leute und das Kommissariat. Und Sie verstehen sogar die merkwürdige Sprache, die man dort spricht.«

Sie ignorierte den Scherz. Der Gedanke, zwei Jahre nach ihrem Weggang nach Mannheim zurückkehren zu müssen, verdichtete sich in ihrem Innern zu einem schmerzhaft pulsierenden Klumpen, und ihr Gehirn suchte verzweifelt nach einem Ausweg, den es nicht gab.

Einen Moment lang schien Schröder zu zögern, ob er den nächsten Satz aussprechen oder besser für sich behalten sollte. »Um ehrlich zu sein, die Presse macht uns ziemlich Druck. Die Frau, die sich derzeit in seiner Gewalt befindet, ist als Schauspielerin am Nationaltheater engagiert. Johanna van Ahsen. Ist Ihnen der Name ein Begriff?«

Sie erinnerte sich sofort. »Ja. Ich habe sie vor Jahren in Der Widerspenstigen Zähmung gesehen. In der Rolle der Katharina. Eine beeindruckende Frau.« Die Tickets hatte damals Michael besorgt. Dass er ausgerechnet dieses Stück ausgewählt hatte, war vermutlich kein Zufall gewesen. Noch Tage später war er ständig darauf zu sprechen gekommen und hatte sie herausfordernd angegrinst, so als gäbe es da irgendwelche Parallelen, auf die er sie unbedingt hinweisen wollte.

»In der Tat, das muss sie wohl sein. Leider hat das die Erwartungen in unsere Ermittlungsarbeiten gewaltig erhöht. Wir dürfen daher auf keinen Fall den Eindruck entstehen lassen, als würden wir nicht alles tun, um den Täter zur Strecke zu bringen. Und genau an dem Punkt kommen Sie ins Spiel. Unsere ultimative Geheimwaffe.« Der Sarkasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Die Presseheinis fragen ständig nach Ihnen. Können Sie mir folgen?«

»Ich fürchte: Ja. Ich soll die Wellen glätten, indem ich gefährlich und feminin in die Kameras lächle.«

»Genau.«

Seit der Sache mit Hoffmann war sie bekannt wie ein bunter Hund. Schröder wusste das. Die Öffentlichkeit würde es ihm niemals verzeihen, wenn noch weitere Morde geschähen und er sie nicht einbezog. Auch der Druck auf die Staatsanwaltschaft war vermutlich immens, und die Staatsanwaltschaft neigte dazu, Druck schnellstmöglich weiterzugeben und nach Verantwortlichen zu suchen. Indem er sie aus L.A. zurückbeorderte, würde er Führungsstärke und Entschlossenheit demonstrieren und sich einige Wochen Zeit verschaffen. Johanna van Ahsen würde sie vermutlich nicht mehr retten können. Nach deren Tod aber würden sich alle Blicke auf sie heften, die Presse würde sie nicht mehr aus den Augen lassen und man würde sie für jedes weitere Opfer persönlich verantwortlich machen. Bei der Fahndung nach Hoffmann hatte sie sich gut geschlagen. Was aber, wenn sie dieses Mal versagte?

Ihr Blick fiel auf die Fotografien auf der linken Hälfte des Bettes. Eine fünfköpfige Familie, die in einem Haus im Stadtteil Crompton tot aufgefunden worden war. Schüsse aus einer Schrotflinte, fast ausnahmslos Kopftreffer. Knochensplitter, Blut und Hirnmasse, wohin man auch blickte, ein achtjähriges Mädchen ohne Gesicht, die Toten überall in der Wohnung verteilt, die doppelläufige Waffe neben der Hand des Vaters. In dessen Mund Schmauchspuren, der obere Teil des Schädels komplett weggesprengt. Ein eindeutiger Fall, wie es schien, aber sie hatte dennoch Zweifel. Das Schicksal der Familie hatte sie seit Tagen beschäftigt, doch wenn sie sich Schröder nicht doch noch widersetzte, würde sie den Fall abgeben müssen.

»Johanna van Ahsen, wann wurde sie entführt?«

»Vor genau acht Tagen. Ich fürchte, dass sie die kommende Woche nicht überleben wird. Daran wird auch Ihre Rückkehr nichts ändern können. Aber wenn wir ihn nicht stoppen, wird er sich schon bald das nächste Opfer greifen. Und dann noch eine und noch eine. Er kommt allmählich in Fahrt.«

Sie dachte an ihren Besuch im Nationaltheater. An das Gesicht von Johanna van Ahsen, als sie Petruchio erbittert Paroli bot. Hatte der Täter seine Opfer nur zufällig ausgewählt oder hatte auch ihn ihr Spiel fasziniert? Der Widerspenstigen Zähmung. Hatte er sie vielleicht sogar in dem Stück gesehen? War das sein Thema? Die Phantasie, die ihn antrieb?

»Na gut. Ich komme zurück. Aber … fürs Protokoll … nur unter Protest.«

»Danke«, sagte Schröder, ohne seine Erleichterung zu verbergen. »Ich war so frei, Sie für übermorgen um vierzehn Uhr zu einer Besprechung anzukündigen. Werden Sie das schaffen?«

Fuck you, dachte sie und begann zu rechnen.

Schröder mutete ihr einiges zu. Soviel sie wusste, starteten die Direktflüge um fünfzehn Uhr und kamen gegen elf Uhr morgens in Frankfurt an. Zumindest würde ihr das ausreichend Zeit lassen, sich von Jason Whiteman zu verabschieden und ihm nochmals zu erläutern, warum sie das Schrotschuss-Szenario für gestellt und den toten Familienvater für unschuldig hielt.

»Wenn ich in den nächsten Minuten beim Flughafen anrufe, klarstelle, dass ich in good old Europe einen Serienkiller zur Strecke bringen muss, und wenn ich zur Not mit einigen Leuten schlafe, dann schon.«

»Das klingt nach einem klaren Ja«, stellte Schröder schmunzelnd fest. »Ich hoffe nur, die amerikanischen Kollegen werden Sie nicht allzu sehr vermissen.«

Sie ließ den Blick über die Akten und Fotos schweifen. »Natürlich werden sie das! Denn wie Sie mir soeben erläutert haben, bin ich doch absolut unersetzlich.«

Sie bat Schröder, ihr noch vor dem Abflug erste Informationen in einer verschlüsselten E-Mail zukommen zu lassen, dann legte sie auf. An der gegenüberliegenden Wand schlängelte sich auf einer gerahmten Fotografie die Interstate Fünf der nächtlichen Skyline der Stadt entgegen. Die Fünf war ein Teil der Panamericana. Mit zwanzig hatte sie davon geträumt, sie eines Tages abzufahren, von Alaska nach Feuerland, gemeinsam mit Jörg. Sie hatten monatelang Pläne geschmiedet und Bücher gewälzt und Geld gespart, aber mit Jörgs Tod war der Traum zerplatzt. Hinter ihren Augen begann es zu pochen, und die Luft in dem kleinen Zimmer schien sich zu verdichten.

»Bullshit«, knurrte sie leise, aber in dem großen Motelzimmer klang es unwirklich laut. Dann öffnete sie das Telefonverzeichnis ihres Handys, wählte die Nummer des Flughafens und hoffte, dass sie an einen Mann geraten würde.