11:30
Romberg stand genau neben dem Türrahmen, den Rücken an die Wand gepresst, und versuchte verzweifelt, die Nerven zu bewahren. Die Schüsse hallten noch immer in seinen Ohren, und seine Umhängetasche lag zerfetzt auf dem Betonboden. Er musste sich entscheiden. Kurt hatte das Mädchen, und er würde bestimmt nicht zögern, sie zu töten.
War er ein weiteres Mal zu schwach?
In der Abgeschiedenheit des Kellers roch es inzwischen deutlich nach Schlick.
Ruhig, ganz ruhig, schärfte er sich ein.
Auf dem Boden waren mehrere große Blutflecken zu erkennen.
Romberg versuchte, sich zu erinnern. An die Nachrichten und die Pressemeldungen. Die Waffe, die der Täter bei Johanna van Ahsen gefunden hatte, war eine Walther P22. Das Magazin dieser Waffe enthielt zehn Patronen. Das hatte er im Internet recherchiert, wie vieles andere auch, und es sich dauerhaft eingeprägt. Ein Schuss im Flur, dann noch einer, dann weitere drei, also insgesamt fünf. Er schaute auf die drei Vertiefungen an der gegenüberliegende Betonwand. Acht. Dann fielen ihm die Elf-Uhr-Nachrichten ein.
»Lörs?«, fragte er laut.
»Ja? Wo bleibst du? Ich kann dich noch immer nicht sehen.«
»Hast du mitgezählt?«
Es dauerte einige Sekunden, bis Lörs antwortete. Wenn er nachgerechnet hatte, so musste ihm gerade klargeworden sein, dass er Munition verschwendet hatte. Er versuchte dennoch zu bluffen. »Nein. Du?«
»Aber klar doch! Fünf im Wohnzimmer und drei gegen die Kellerwand. Macht acht.«
»Na und?«
»Die P22 hat zehn Schuss im Magazin. Somit bleiben noch zwei.«
»Machst du jetzt einen auf Waffenexperten? Zwei Schuss sollten reichen, findest du nicht?« Er versuchte, Stärke zu demonstrieren, aber seine Stimme klang gepresst. Vermutlich hatte er es inzwischen begriffen.
»Minus eine weitere Patrone, um ihre Mutter zu töten«, fügte Romberg hinzu. »Das heißt, dir bleibt nur noch ein einziger Schuss. Solltest du also das Mädchen erschießen, hast du keine Kugel mehr, um mich zu erledigen. Wenn ich jetzt gleich in den Türrahmen trete, muss dein nächster Schuss unbedingt sitzen. Sonst bist du ohne Munition. Bevor ich dich abgefangen habe, habe ich eine Bekannte angerufen und um zwanzig Minuten Aufschub gebeten. Die bestimmt längst verstrichen sind. Das heißt, sie hat inzwischen die Polizei angerufen und die genaue Adresse durchgegeben.«
»Selbst wenn das stimmen sollte, ändert das nichts an deiner Situation«, schrie Lörs wütend. »Ich mag nur noch eine einzige Kugel haben, aber momentan liegt die Mündung meiner Pistole auf der Schläfe dieser Schlampe. Und wenn du dich nicht umgehend blicken lässt und mir deine Waffe übergibst, leg ich die Kleine um.«
Romberg suchte verbissen nach einer Lösung. Nur noch eine einzige Patrone. Wenn es Lörs gelang, ihn damit zu treffen, würde er anschließend das Mädchen töten. Vielleicht aber auch nicht. Die Schießerei war bestimmt überall zu hören gewesen, und jetzt war es nur noch eine Frage von Minuten, bis die Polizei aufkreuzte. Das wusste auch Lörs.
»Du kommst jetzt sofort raus, oder ich drücke ab!«, schrie er hysterisch.
Im selben Moment, in dem er aus der Deckung trat, würde Lörs auf ihn schießen. Aber auf den Treffer an sich kam es nicht unbedingt an. Ob er hier und heute starb, spielte keine Rolle. Ihm musste nur noch ausreichend Zeit bleiben, um Lörs zu töten und die Frau zu retten. Gold hatte ihn gewarnt, dass rund zehn Prozent der tödlich Getroffenen nach dem Einschlag der Kugel noch minutenlang weiterfeuern würden. Bedingt durch die enorme Endorphinausschüttung. Das galt natürlich auch für ihn. Selbst ein Herztreffer musste daher nicht bedeuten, dass er keinen weiteren Schuss mehr abgeben konnte. Er musste es nur wollen! Er musste Lörs töten! Selbst eine letale Schusswunde durfte ihn nicht davon abhalten, ihm doch noch den entscheidenden Treffer zu verpassen! Falls er Glück hatte, erwischte Lörs vielleicht nur seine Schulter oder seine Lunge oder irgendeinen anderen Punkt, der ihm genügend Zeit ließ, um ihn trotz der Verletzung ins Jenseits zu befördern.
Dieses Mal musste er es schaffen!
Mit einer raschen Drehbewegung trat Romberg in die Tür, darauf gefasst, in der gleichen Sekunde getroffen zu werden. Aber Lörs schoss nicht. Stattdessen drückte er die Mündung seiner Waffe gegen die Schläfe der Frau. Sie war noch sehr jung, fast noch ein Kind. Lörs saß geduckt hinter einer Liege, auf der er sie festgebunden hatte. Von seinem Kopf war nur die obere Hälfte zu sehen, und zusätzlich seine Schultern, zu wenig, um einen sicheren Treffer landen zu können. Ein Feigling, der sich hinter seinem Opfer versteckte! Die Beine des Mädchens waren weit gespreizt. Sie war völlig nackt, und so wie damals bei Carola Lauk waren ihr Mund und ihre Schamlippen grellrot geschminkt.
Dieses verdammte Schwein!
In dem Raum roch es stark nach Urin.
Dann sah er ihre Augen.
Dieser Blick! Ein Blick, den er kannte. Hilfesuchend. Flehend. In dem Wissen, dass alles gleich enden konnte.
Ruhig, ganz ruhig! Jetzt alles, nur keine Panikattacke!
»Tja, du Held! Das hast du wohl gründlich verbockt.« Lörs’ T-Shirt war blutgetränkt. Er hatte ihn offensichtlich an der linken Schulter erwischt. »Du legst jetzt besser deine Waffe auf den Boden, sonst drücke ich ab.«
Alles aus! Er hatte wieder versagt!
Irgendwo im Keller schrie eine Möwe, und es roch nach Salz und Schlick.
Er dachte an Manfred Gold. An das, was er ihm geraten hatte. Sollte es wirklich ernst werden, musst du alles ausblenden! Den Lärm, deine Angst, selbst eventuelle Verletzungen.
Leg ihn um!, sagte Gold, und dann sah Romberg Lörs’ Augen und dachte: Er ist nicht das Meer!
Als er zu sprechen begann, klang seine Stimme heiser: »Am sechsundzwanzigsten Dezember zweitausendundvier war ich mit meiner Familie in Thailand. Am Strand von Khao Lak. Als der Tsunami den Strand erreichte, war meine Frau weit von mir entfernt, so dass ich ihr nicht mehr helfen konnte, aber meine Tochter war direkt neben mir.« Er holte tief Luft. Lörs schaute ihn mit aufgerissenen Augen an, und Verena Bleskjew zitterte am ganzen Körper. »Ich versuchte sie festzuhalten, aber das Meer war zu stark, viel zu stark, und ich … habe es nicht geschafft. Den Blick in ihren Augen werde ich niemals vergessen, diesen überraschten Blick, als ich sie losließ … loslassen musste. Es war der gleiche Blick wie der Blick dieses Mädchens.«
Unter seinen Füßen begann der Boden zu vibrieren.
»Was erzählst du da, du Arschloch?«, schrie Lörs. »Du sollst die Waffe fallen lassen!«
»Nein«, sagte Romberg.
Er befürchtete, Lörs würde ihr vor seinen Augen in den Kopf schießen, aber stattdessen schaute er ihn völlig überrascht an.
»Was?«
Rombergs Arme, mit denen er die Waffe stabilisierte, begannen wie wild zu zittern und ihm war klar, dass es Lörs nicht entging.
»Nein«, wiederholt er trotzig. »Dieses Mal nicht!«
Auf Lörs zu schießen, während er auf den Kopf der Frau zielte, war zu gewagt. Entweder würde Lörs noch die Zeit bleiben, um abzudrücken, oder Romberg würde ihr versehentlich selbst in den Kopf schießen. Die Gläser seiner Brille waren stark beschlagen, so dass er Mühe hatte, den Überblick zu behalten.
Das Vibrieren nahm beständig zu.
»So wie es aussieht, werde ich erneut versagen. Das macht mich unglaublich traurig. Aber auf keinen Fall werde ich aufhören, auf deinen Kopf zu zielen. Denn würde ich die Waffe fallen lassen, würdest du erst mich töten und anschließend sie. Das kommt folglich überhaupt nicht in Frage. Ich werde auch nicht abdrücken, solange du die Waffe auf sie richtest. Nicht aus dieser Entfernung. In diesem Fall werde ich lieber abwarten, bis die Polizei auftaucht. Solltest du sie aber erschießen, bist du auf jeden Fall tot. Dann hättest du keinen Schuss mehr übrig und ich würde den Rest meines Magazins auf dich abfeuern und dich durchlöchern wie ein Sieb. So wie es aussieht, hast du also nur zwei Möglichkeiten, hier lebend herauszuspazieren. Entweder du gibst auf und legst die Waffe auf den Boden. Oder du schießt nicht auf sie, sondern auf mich. Und versuchst zu treffen. Solltest du mich nämlich verfehlen, werde ich quer durch den Raum auf dich zugehen und dich aus nächster Nähe töten.«
Lörs starrte ihn nach wie vor an, schien aber noch immer nicht aufgeben zu wollen. »Du bist irre, weißt du das? Aber bist du auch wirklich so hart, wie du glaubst? Das hier ist kein Spiel!«
Von oben drang ein lautes Grollen zu ihm herab, ein Grollen, das rasch näher kam, und er ahnte, dass er es nicht mehr würde aufhalten können und dass die Angst bereits unterwegs war: zu ihm.
»Ich weiß. Aber da gibt es einen entscheidenden Punkt, den du völlig übersiehst. Ob ich lebe oder nicht, ist mir seit der Sache in Thailand völlig egal. Verstehst du? Es spielt überhaupt keine Rolle. Gilt das auch für dich? Ich glaube kaum. Also noch einmal, Kurt! Wenn du die Waffe wegwirfst und aufgibst, lasse ich dich am Leben. Wenn du ihr deine letzte Kugel in den Kopf schießt, bringe ich dich, ohne zu zögern, um. Und anschließend, das schwöre ich bei meiner toten Tochter, ziehe ich dich aus, setze dich mit gespreizten Beinen auf diesen Stuhl, male deinen Schwanz grellrot an, schieße mehrere Fotos, drehe ein Video und stelle beides noch heute ins Internet. Dann werden dich alle sehen, und du endest so, wie du gelebt hast. Als das, was du warst. Als erbärmlicher Loser. Wie fändest du das?«
Lörs’ Gesicht bestand nur noch aus Angst. Er kaute angespannt auf seiner Unterlippe. »Du verdammtes irres Arschloch!«, schimpfte er los.
Gleich wird er ihr in den Kopf schießen, dachte Romberg. Oder er wird auf mich zielen und mich treffen, und ich werde ungewollt das Mädchen töten.
Auch sie hatte Angst. Dieser Blick! Lauras Blick. Er dachte an Carola, die in der Tiefkühltruhe lag, und wartete.
Draußen wurden Bäume entwurzelt, und das Metall aneinandergeschobener Autos stöhnte metallisch auf. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.
Er musste etwas tun! Jetzt! Aber was?
Bevor Lörs schoss, würde er sich leicht nach rechts kippen lassen. Zumindest hatte Gold behauptet, dass es fast immer so sei. Um Lörs zu treffen, würde er also links an ihm vorbeizielen müssen.
»Kennst du dieses Gedicht von Ernst Jandl? Fünfter sein?«, fragte Romberg.
»Ja. Wieso?«, antwortete Lörs verdutzt. »Willst du mich verarschen? Was soll die Scheiße?«
»Weil ich es dir gleich zum Besten geben werde. Etwas Lyrik wird uns guttun.« Er dachte an das, was Gold gesagt hatte, von den Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. »Fünfter sein«, sagte er laut. »Einer raus, einer rein, Vierter sein.« Während er Jandl rezitierte, machte er einen Schritt nach vorn und stand nun jenseits der Tür. Im Verlies eines Serienmörders. Der Raum war weiß gefliest, und vor seinen Füßen war der Boden durch einen Abfluss durchbrochen. Wie in einem Schlachthaus.
»Bleib stehen!«, schrie Lörs panisch auf. Inzwischen war er es, der zitterte, aber er hielt die Pistole noch immer auf die Schläfe des Mädchens gerichtet.
Romberg hatte nur Angst vor dem Knall. Der Knall, der sein Scheitern endgültig besiegeln würde.
Lörs würde sich leicht nach rechts fallen lassen.
Die Wassermassen durchschlugen die Fensterscheiben im Erdgeschoss und zerquetschten die Möbel, als seien sie aus Streichhölzern oder aus Pappmaché gefertigt.
»Aus fünf Metern warst du noch ziemlich gut in Deckung«, sagte er, völlig außer Atem. »Aus vier Metern dagegen steigen meine Chancen, dich zu treffen, deutlich an.« Er zielte genau auf Lörs’ Stirn.
»Treib es bloß nicht zu weit!«, brüllte Lörs.
Die Augen des Mädchens starrten ihn an.
»Einer raus, einer rein, Dritter sein«, sagte Romberg und ging einen weiteren Schritt nach vorn.
Er sah sich inmitten der Fluten. Er krallte sich an einem Holzmast fest und vor ihm seine Tochter, die er verzweifelt zu halten versuchte. Nach dem Einschlag der Brandung war er gegen ein Metallteil geprallt und hatte zwei seiner Finger verloren. Dass er es dennoch geschafft hatte, sich Laura zu greifen, grenzte an ein Wunder.
Das Entsetzen in ihren Augen.
»Einer raus, einer rein, Zweiter sein.«
Dieses Mal würde er sich mitreißen lassen.
»Hilf ihr!«, hörte er Laura sagen, und er glaubte, sich verhört zu haben, aber sie hatte tatsächlich ihr gesagt. Im selben Moment lächelte Laura ihn an und öffnete ihre Hand. Dann war sie in den Fluten verschwunden.
»Nein!«, schrie er auf, so laut, dass Lörs erschrocken zusammenzuckte und Romberg fürchtete, er könnte versehentlich den Abzug bestätigen. Die Pistole in Lörs’ Hand zitterte wie verrückt. Ihr, dachte Romberg. Er hörte, wie die Brandung über die Kellertreppe nach unten stürzte und von hinten auf ihn zuraste.
Mit einem Mal war das Zittern verschwunden. Seine Arme schwebten bewegungslos in der Luft.
Leicht nach links zielen!
Inzwischen waren er und Lörs sich so nah, dass sie beide kaum noch vorbeischießen konnten. In Kurts Gesicht ging eine merkwürdige Veränderung vor.
»Einer raus, einer rein …«, sagte er noch.
Mit einem gewaltigen Schrei ließ sich Lörs nach rechts fallen und riss den Arm mit der Pistole herum. Für die Dauer eines Lidschlags sah ihm Romberg genau in die Augen. Irritiert erkannte er die gleiche Gewissheit, die er damals bei Laura gesehen hatte. Lörs’ Erkenntnis, dass er sterben würde. Die gleiche Angst vor dem Tod. Der gleiche flehende Blick.
Sie drückten nahezu gleichzeitig ab. In Lörs’ Stirn klaffte plötzlich ein Loch. Die Betonwand hinter ihm wurde mit Blut und Hirnmasse bespritzt, mit roten und gelblichen Punkten, die in der Mitte ein dichtes Zentrum bildeten und nach außen hin immer kleiner wurden.
Auch Romberg wurde brutal nach hinten geworfen.
Die große Welle, dachte er, und: Dieses Mal werde ich mich mitreißen lassen. Das Gefühl, als die Kugel seinen Körper durchschlug, war unbeschreiblich.