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Als sie den Hund sah, wurde Lena Böll schlagartig klar, dass es ein fataler Fehler gewesen war, Katja Bleskjew mitzunehmen. Sie waren zu viert: Katja, Klein, Rodeberger und sie selbst, während Krüger in Mannheim geblieben war, um die Stellung zu halten und die Suche nach Nummer Eins zu koordinieren. Inzwischen hatten sie auch das zweite Handy gefunden. Er hatte es ebenfalls in einen Abfallbehälter geworfen.
Der Kadaver des Schäferhunds verströmte einen penetranten Gestank. Die Hitze hatte die Verwesung enorm beschleunigt, und es war schon deutlich zu riechen, dass sich das Gewebe verflüssigte. Seine Kehle wies eine klaffende Wunde auf, die weiß gesprenkelt war. Pakete von Fliegeneiern. Er war eindeutig schon länger tot.
»Moses!«, stieß Katja entsetzt hervor, und es dauerte einen Moment, bis Böll begriffen hatte, dass sie damit nicht etwa den Propheten, sondern den Schäferhund meinte.
Sie standen mit gezogenen Waffen an der hinteren rechten Ecke des Hauses, an welcher die Seitenfront in den Garten überging. Auf der Terrasse standen ein Tisch und mehrere Stühle. Klein, der als Erster aus der Deckung der Wand hervorgetreten war, stand breitbeinig auf dem Rasen und zielte konzentriert auf die offenstehende Glastür. Er wirkte völlig ruhig, und Lena Böll fiel auf, dass sein Gesicht nicht zuckte.
»Was sollen wir tun?«, fragte er. »Gehen wir rein?«
Sie nickte. »Ja. Wir beide. Aber auf keinen Fall Katja.« Bei dem Gedanken, was sie vorfinden würden, wurde ihr übel. Dass der Mörder Katjas Familie als Ziel auswählen könnte, hatte sie nicht vorausgesehen. Wie auch? Bis vor einer halben Stunde hatte Katja Bleskjew ihre jüngere Schwester mit keiner Silbe erwähnt. Dennoch machte sie sich Vorwürfe. Hätte sie es in ihre Überlegungen miteinbeziehen müssen? Hatte sie Mist gebaut?
Katja Bleskjew starrte sie mit geröteten Augen an. »Aber meine Mutter ist da drin.«
Lena Böll nickte erneut. »Ja. Ich weiß. Aber ich glaube nicht, dass sie noch lebt.« An Klein gewandt fügte sie hinzu: »Der Kerl ist mit Sicherheit längst weg. Aber lassen Sie uns trotzdem vorsichtig sein!«
Katja schluchzte, und Rodeberger schlang seine mächtigen Arme um sie wie ein großer dicker Bär. Ohne länger abzuwarten und mit gestreckt vorgehaltenen Armen ging Klein los. Lena Böll folgte ihm in einem Meter Abstand.
Als sie die Terrassentür erreichten, sahen sie Katjas Mutter. Sie lag inmitten des Wohnzimmers auf dem Rücken, auf ihrem Gesicht ein Kissen, dessen Hülle zerrissen war. Der Teppich um ihren Kopf herum war dunkelrot verfärbt. In dem Raum wimmelte es von Fliegen.
»Er hätte wenigstens die Tür schließen können«, knurrte Klein. Noch bevor sie etwas antworten konnte, überquerte er mit einem großen Schritt die Schwelle. Die Pistole im Anschlag wandte er sich mehrmals nach links und rechts und machte mehrere eilige Schritte, um auch tote Winkel überblicken zu können. Innerhalb von Sekunden überprüfte er jede Ecke des Raums. »Sauber«, sagte er schließlich. »Sie haben vermutlich recht. Wahrscheinlich ist er seit Stunden weg. Aber vorsichtshalber werde ich dennoch das Haus sichern. Keine Sorge! Ich fasse nichts an. Die SPUSI wird überhaupt nicht bemerken, dass ich hier gewesen bin.« Bevor er sich auf den Weg machte, schaute er sie noch einmal traurig an. »Wegen Katja …«
»Das übernehme ich«, sagte sie. Während er mit vorgehaltener Waffe im Flur verschwand, schaute sie auf ihre Armbanduhr. Dann wählte sie Mildenbergers Nummer.
Seine Stimme klang aufgeregt. »Und? Hat er sie wirklich entführt?«
»Ja. Und nicht nur das. Er hat Katjas Mutter getötet. Mit einem aufgesetzten Kopfschuss. Durch ein Kissen hindurch.«
»Oh, verdammt!«
»Allerdings.«
»Aber warum tut er das? Das passt überhaupt nicht in sein Schema.«
Sie konnte Mildenberger nur zustimmen. Eine ältere Frau zu töten, dazu noch mit einer Schusswaffe, stellt eine enorme Abweichung in seiner Vorgehensweise dar, die nur durch gewaltigen Druck hervorgerufen worden sein konnte.
»Er will uns unbedingt zeigen, wer die Lage kontrolliert«, sagte sie.
Sie dachte nach. Wie sich die Dinge entwickelten, war keinesfalls eine Auswirkung der Pressekonferenz. Marga Bleskjew und der Hund waren schon vor Stunden getötet worden. Vielleicht sogar am Vortag. Insofern musste Nummer Eins diese Tat aus anderen Gründen begangen haben. Vermutlich wegen des Verschwindens der Leiche und wegen der SMS-Kontakte. Er tat das nur ihretwegen!
»Er hat sie ausgesucht, weil er an Sie persönlich nicht herankommen kann. Habe ich recht?«
»Ja. Vermutlich schon.« Sie dachte an Katja. Die immer noch wartete. »Wir müssen ihn losschicken, Chef! Jetzt! Wenn wir Nummer Zwei nicht sofort in Bewegung setzen, ist alles verloren. Diese Pressemitteilung, von der Nummer Eins sprach, um fünfzehn Uhr … wir müssen ihm unbedingt zuvorkommen!«
»Was – glauben Sie – wird er tun?«
»Keine Ahnung. Vielleicht wird er sich nur damit brüsten, uns nahe gekommen zu sein und uns mit Verenas Entführung empfindlich getroffen zu haben. Er könnte aber auch ein Exempel statuieren und es filmen und per Internet an die Presse übermitteln. Um zu zeigen, dass er sich weder von uns noch von Nummer Zwei die Show stehlen lässt. Wir dürfen auf keinen Fall bis fünfzehn Uhr warten, denn dann ist wieder er am Drücker und Verena vielleicht bereits tot, und unsere Chancen sind endgültig dahin.«
Bevor Mildenberger antwortete, vergingen endlos lange Sekunden. »Und wenn Nummer Zwei versagt?«
»Dann werden wir davon erfahren. Von einer Schießerei. Von einem Toten. Oder von einem vermissten Mann. Aber wir müssen ihn losschicken. Uns bleibt keine andere Wahl!«
»Verdammt«, fluchte Mildenberger erneut.
Im Korridor huschte Klein vorbei. Was er tat, wirkte auffällig routiniert.
»Wir müssen das Ganze sofort an die Presse geben. Nur den Mord und die Entführung. Auf keinen Fall die Sache mit der Presseerklärung, denn sonst wartet auch Nummer Zwei erst einmal ab. Ab sofort will ich über jeden Notruf und jede Anzeige im Umkreis von fünfzig Kilometern umgehend informiert werden. Jeder Einbruch, jede Schlägerei, jeder Schusswechsel, einfach alles! Wenn sie aufeinandertreffen, wird das mit Sicherheit nicht geräuschlos über die Bühne gehen.«
Mildenberger schwieg noch immer. Als sie schon glaubte, er habe aufgelegt, sagte er laut: »In Ordnung. Ich werde sofort mit Seibling sprechen. Wir tun es!« Dann unterbrach er die Leitung.
Sie ging hinaus zu Katja, die verzweifelt wartete, und schüttelte bedauernd den Kopf. Von der sportlichen jungen Frau, die noch vor einer Stunde stabil und gesund gewirkt hatte, schien nichts mehr übriggeblieben zu sein. Sie zerbrechen zu sehen, war kaum auszuhalten. Lena Böll ging auf sie zu, und während Rodeberger beiseitetrat, nahm sie sie in den Arm und zog sie so eng an sich heran, dass sie ihren Herzschlag spüren konnte.
Sie dachte an Nummer Zwei. Was geschehen war, ließ sich nicht mehr ändern. Aber die Zukunft bot noch mehrere Optionen. Katja zitterte am ganzen Körper.
Pass auf dich auf, dachte sie und schloss benommen die Augen.