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An jenem Hochsommermorgen Ende Juli ertrank ich in der blauen Suppe des Himmels wie eine durstige Fliege. »Alles in Ordnung?«, rief Daddy vom Bug der Florine zu mir herüber. Ich saß mit einem Kissen im Rücken in einem Liegestuhl im Steuerhaus und steuerte das Boot durch den Kanal, während Daddy die Fallen mit Ködern versah und über Bord warf.

»Alles okay«, rief ich über den Lärm der Möwen hinweg, die Daddy lautstark aufforderten, ihnen etwas von den Ködern zuzuwerfen. Der Motor der Florine grummelte, als hätte sie einen üblen Kater.

»Hast du deine Tabletten genommen?«

»Ja«, log ich. Ich versuchte, so gut es ging, ohne sie auszukommen, weil sie mich müde machten. Ich trug den Schmerz wie einen kratzigen Wollpullover. Außerdem hatte der Arzt mir gesagt, dass ich möglicherweise für den Rest meines Lebens Probleme mit dem Rücken und dem Bein haben würde, da wollte ich nicht obendrein noch müde sein.

Daddy warf eine Falle in den gierigen Schlund der Bucht. In meiner Vorstellung folgte ich ihr bis zum Grund, wo ein Hummer auf Beutesuche sie aufspüren und, immer den Zangen nach, in den Trichter kriechen würde. Wenn er noch zu klein war, würde er den Köder fressen und verschwinden. Wenn nicht, würde er seine Termine absagen müssen und hoffen, dass die Verwandtschaft sein Hab und Gut unter sich aufteilte.

Steuerbords glitt ein größeres Boot vorbei, die Molly B. Wir winkten, sie winkten, und ich wartete darauf, dass die Kielwelle uns seitlich erfasste, hochhob und wieder absenkte. Ich fuhr den Motor runter und lehnte mich im Liegestuhl zurück.

Als wir das Ende der Fangleine erreicht hatten, kam Daddy ins Steuerhaus. Ich nahm noch mehr Fahrt heraus, bis wir beinahe standen. Die Florine hustete ein paarmal, tuckerte aber weiter.

»Guter Tag«, sagte Daddy. Er zog seine schwarzen Gummihandschuhe aus, schraubte die Thermoskanne auf und goss Kaffee in den kleinen roten Becher, der als Verschluss diente.

»Wie lange hast du die Kanne eigentlich schon?«, fragte ich ihn.

»Seit ewigen Zeiten«, sagte er. »Die stammt noch aus der Lunchbox, die Grand mir geschenkt hat, als ich auf der Highschool war. Gar nicht so einfach, sie in der langen Zeit nicht kaputt zu machen.«

»Stimmt. Ich hab allein in der Grundschule schon drei zerbrochen.«

»Ja, ich erinnere mich.« Daddy trank einen Schluck von dem Kaffee und verzog das Gesicht. Ich sah ihn mitfühlend an, und er zwinkerte mir zu. »Ich bin dran gewöhnt«, sagte er. »Stella kann prima kochen, aber ihr Kaffee war schon immer zu stark. Na, was soll’s.«

»Kannst du ihr nicht zeigen, wie man einen guten Kaffee macht?«

»Ja, könnte ich. Aber wozu?« Er zuckte die Achseln. »Man muss miteinander auskommen. Und Stella war immer gut zu mir.«

Zu meiner eigenen Überraschung sagte ich: »Ja, das war sie. Sie hat sich gut um dich gekümmert.«

Er lächelte, als hätte ich ihm ein Geschenk gemacht, das er sich gewünscht, mit dem er aber nicht gerechnet hatte. Er nickte und sagte: »Wenn du so jemanden findest, dann kümmerst du dich um ihn. Das ist das Beste, was du tun kannst, für dich und für den anderen.«

Daddy sah aus dem vorderen Fenster des Steuerhauses. Ein kräftiger, sommersprossiger Finger schlang sich um den schmalen roten Henkel des kleinen Bechers. Eine Blase aus Zärtlichkeit schwebte von meinen Zehen bis in meinen Kopf. Ich dachte: Dieses Bild will ich für immer in mein Gedächtnis weben. Ich setze es neben den Tag, als Bud und ich an der Boje getaucht sind, neben die vielen Male, als Grand und ich die Boote begrüßt haben, und neben den Augenblick, als Carlie mir den Horizont gezeigt hat.

Dann verschluckte sich der Motor der Florine und verstummte.

»Mist«, sagte Daddy. »Sie läuft in letzter Zeit nicht so richtig rund. Lass mich mal versuchen.«

Ich erhob mich aus dem Liegestuhl, sorgsam darauf bedacht, mir nicht den Rücken oder das Bein zu verrenken, und trat zur Seite. Daddy drehte den Zündschlüssel. Nichts. Nicht mal ein Stottern.

»Verdammt. Ich wird wohl runtergehen und an ihr rumbasteln müssen.«

»Lass uns erst essen«, sagte ich. »Ein bisschen draußen in der Sonne sitzen.« Die wankelmütigen Möwen waren weitergezogen und schwebten jetzt um die Molly B herum, weit draußen am Horizont.

Ich ging hinaus an Deck und öffnete die Kühltasche, die wir mitgenommen hatten. Die Sonne massierte mir mit warmen Fingern den Nacken, und es fühlte sich so gut an, dass ich vor Wonne seufzte. Ich atmete die salzige Luft ein, trunken vom Sommer. Ich klappte einen Liegestuhl auf, setzte mich vorsichtig hinein und streckte die Beine aus.

Daddy warf den Anker aus, dann setzte er sich auf einen umgedrehten Ködereimer. »Gute Idee«, sagte er. »Vielleicht braucht sie einfach mal ‘ne Pause.«

»Vielleicht brauchst du auch mal eine.«

»Nein, ich bin zäh.« Er blinzelte in die Sonne, und ich bemerkte, dass einer seiner Schneidezähne sich verfärbt hatte, er war fast blau.

»Ist was mit deinem Zahn?«, fragte ich.

»Ja. Stella will, dass ich zum Arzt gehe, aber bisher stört er mich nicht. Sieht ‘n bisschen komisch aus, aber das tue ich ja auch.«

Ich biss in mein Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwich und trank ein Glas kalte Milch. Wir aßen, ohne zu reden. Wahrscheinlich war die Stille der Grund, weshalb wir den Wal sahen. Er kam etwa drei Meter neben unserem Boot aus dem Wasser, schlug einen Bogen mit seinem langen, glänzenden Rücken, schwamm einen Moment an der Oberfläche und tauchte dann wieder unter.

»Ein Zwergwal«, sagte Daddy.

Wir warteten, und der Wal glitt erneut an unserem Boot entlang, in einer ruhigen, geschmeidigen Bewegung. Wir konnten ihn so deutlich sehen, als wäre er über den Wellen. Dann tauchte er auf, stieß eine Fontäne aus seinem Blasloch und verschwand kopfüber in Richtung Molly B. Die riesige Schwanzflosse klatschte auf das Wasser und bespritzte Daddy und mich mit salziger Gischt.

Wir ließen sie auf unserer Haut trocknen, während wir unser Mittagessen beendeten. Ich hielt mein Gesicht in die Sonne, und Daddy stand auf und öffnete die Luke, die zu dem engen Motorraum führte.

»Wir bringen sie wieder in Gang, und dann machen wir uns auf den Heimweg«, sagte er und kletterte hinunter. Ich stellte seinen Werkzeugkoffer neben die Luke.

Kurz nachdem er angefangen hatte, am Motor herumzuschrauben, schlief ich ein. Die Sonne und das allgemeine Wohlgefühl machten mich träge, und gemeinsam mit dem Wal sank ich tiefer und tiefer, schwamm durch die endlose Weite des Ozeans.

Als ich wieder aufwachte, war die Sonne vom Mittagsstand auf ungefähr zwei Uhr weitergewandert. Mein Rücken tat weh, und mein Gesicht brannte. Der Motor war immer noch still. Verdammt, dachte ich, wir müssen per Funk Hilfe holen.

»Daddy?«, rief ich. Mühsam rappelte ich mich aus dem Liegestuhl hoch und hinkte zur Luke. »Hast du die verflixte Kiste immer noch nicht in Gang gekriegt?«

Er saß mit dem Kopf gegen die Luke gelehnt und blickte hinauf in den Himmel. Seine eine Hand lag halb geöffnet auf dem Deck, einen Schraubenschlüssel auf der Innenfläche.

»Was machst du?«

Er blickte weiter gen Himmel, so gebannt, dass ich ebenfalls hinaufschaute. Ich sah nichts.

»Was gibt’s denn da zu sehen?«, fragte ich. Er antwortete nicht.

Und da begriff ich.

Mein Herz pochte mit schweren, schmerzhaften Schlägen. »Nein«, sagte ich. »Daddy?« Ich streckte die Hand aus und berührte sein Gesicht. Es war klamm und mit Schweiß überzogen, den er nie wieder mit seinem Taschentuch wegwischen würde. Abrupt zog ich meine Hand zurück und fing an zu wimmern, hoch und schrill wie ein kleines Mädchen. Ein paar Möwen kamen neugierig herbei und musterten mich, dann flogen sie wieder fort.

Ich weiß nicht, wie lange ich da saß und Tränen auf Daddys Gesicht tropfen ließ. Doch nach einer Weile hielt ich inne und betrachtete den Ausdruck darauf. Daddy wirkte glücklich und überrascht, als wäre er jemandem begegnet, den er lange nicht mehr gesehen hatte. Ich folgte erneut seinem Blick und verfing mich in den Schichten von Blau, die uns vom All trennten.

»Sie hat dich gefunden, Daddy, nicht wahr?«, sagte ich. »Sie ist zu dir zurückgekommen.« Mit der Faust wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht. »Wurde aber auch verdammt noch mal Zeit«, sagte ich zu Carlie. Dann dachte ich daran zurück, wie Daddy und Carlie in der Küche getanzt hatten, wie er sie, ihre zierlichen Füße auf seinen großen, in einem unbeholfenen Walzer herumgeschwungen hatte. Ich ließ sie Love Me Tender bis zum Ende tanzen, bevor ich daran dachte, Hilfe zu holen.

Ich sah auf die Uhr. Es war kurz vor drei. Daddy war irgendwann zwischen eins und halb drei gestorben. »Ich hätte bei dir sein sollen«, sagte ich. Dann hörte ich Daddys Stimme, hell und klar wie der Himmel über uns: »Du hättest nichts tun können, Florine. Es ist in Ordnung so. Völlig in Ordnung.« Und Carlie sagte: »Du kommst schon zurecht, meine kleine Verbrecherin.«

Weit und breit war kein anderes Boot zu sehen, außer einem Tanker, der sich ganz weit draußen am Horizont seinen Weg bahnte. Ich ging zum Funkgerät. Wahrscheinlich hätte ich die Küstenwache rufen sollen, aber für eine Rettungsaktion war es zu spät. Also funkte ich Rays Laden an. Glen antwortete.

»Hier spricht Florine«, sagte ich. »Ich bin mit Daddy draußen auf dem Boot. Glen, er ist tot. Herzinfarkt, nehme ich an. Bitte schick jemanden raus, um uns zu holen. Der Motor streikt.«

»Ach du Scheiße«, sagte Glen.

»Ja, genau.«

»Ach du Scheiße«, sagte er erneut, und dann: »Oh nein.« Ich hörte die Trauer in seiner Stimme, und da wurde mir klar, dass Daddy nicht nur mein Vater gewesen war, sondern dass er zu The Point gehörte und zu allen Menschen dort. Stella. Oh Gott, Stella.

»Glen«, sagte ich mit zittriger Stimme, »er wollte versuchen, den Motor zu reparieren. Ich bin eingeschlafen, und als ich aufwachte, war er tot. Bitte schick jemanden raus. Und bitte sei nett zu Stella.«

Ich blieb fast eine Stunde bei Daddy sitzen. Wir waren ziemlich weit rausgefahren, so weit, wie seine Fangleine reichte. Ein paar Boote tuckerten an mir vorbei, aber ich rief sie nicht. Ich streichelte Daddy mit den Fingerspitzen übers Haar, ließ die Trauer über mir zusammenschlagen, ließ mich von ihr tragen und mitreißen.

Endlich kamen Sam, Glen und Bud mit der Maddie Dee.

Bud kletterte an Bord, und ich lief zu ihm wie ein kleines Kind. Er hielt mich fest und ließ mich weinen, strich mir über den Rücken, küsste mich aufs Haar und sagte: »Ist schon gut«, als wäre ich gefallen und hätte mir das Knie aufgeschürft.

Nach einer Weile murmelte er leise: »Ich muss ihnen helfen«, und ging zu der Luke, wo Sam und Glen standen. Sam sagte mit brüchiger Stimme: »Wir müssen ihn da rausholen und den Motor in Gang bringen. Ich weiß, was mit dem verdammten Ding los ist. Florine, fahr du mit Glen in der Maddie Dee zurück. Bud und ich bringen deinen Vater nach Hause.«

»Ich will ihn nicht allein lassen«, sagte ich.

»Er ist fort, Liebes«, sagte Sam. »Du lässt ihn nicht allein.«

Bud sagte: »Wär’s in Ordnung, wenn Glen hierbleibt und ich mit Florine zurückfahre?«

Im ersten Moment sah Sam überrascht aus, aber dann nickte er.

Bud fuhr die Maddie Dee zum Hafen zurück, mit mir zwischen ihm und dem Steuerrad. Am Kai drängten sich die Menschen, um Daddy in Empfang zu nehmen.

»Das schaffe ich nicht«, sagte ich.

»Du musst da nicht allein durch«, sagte Bud. »Wir helfen dir.«

Dann fiel mir der Wal wieder ein. Ich erzählte ihm davon. »Was für einer war es?«

»Ein Zwergwal.«

»Die sollen Glück bringen«, sagte er. »Aber vielleicht auch nicht.«