10

 

Am ersten Tag murmelten die anderen Kinder, die seit Jahren mit mir zur Schule gingen, nur ein kurzes Hallo, dann verdrückten sie sich, als hätte ich eine ansteckende Krankheit.

»Sie wissen nicht, was sie sagen sollen, Florine«, meinte Grand. »Wahrscheinlich haben sie Angst, dir wehzutun oder dich zum Weinen zu bringen.«

Grands Worte klangen vernünftig, aber sie machten das Ganze nicht einfacher - bis ich kleine Geschenke im Bücherfach meines Tisches fand: drei blaue Murmeln, einen weiß angemalten Kiefernzapfen und eine winzige Babypuppe, die in ein Stück rosa Filz eingewickelt und mit einer Schnur an einem kleinen Holzkreuz festgebunden war. Manchmal waren auch Zettel mit kurzen Nachrichten darin. »Ich bin traurig, dass Deine Mom verschwunden ist.«

»Ich habe ein Gebet für Dich gesprochen.«

»Mir ist mein Hund weggelaufen, und das ist immer noch schlimm. Wenn meine Mutter verschwinden würde, fände ich das ganz schrecklich.«

Während Daddy Parker auf Trab hielt und Parker die Polizei von Crow’s Nest Harbor, die State Police, die Küstenwache und alle anderen, die mit dem Fall zu tun hatten, ging der September über in den Oktober, und dann kam der 13. Oktober, Carlies dreißigster Geburtstag. Ich wachte mit ihrem Namen auf den Lippen auf. Ich sang Happy Birthday, den Blick zur Zimmerdecke gerichtet, und es klang eher wie ein Gebet als wie ein Glückwunsch. Daddy war an dem Tag sehr still.

»Wir brauchen einen Geburtstagskuchen«, sagte ich zu ihm, als ich aus der Schule und er von der Arbeit kam. »Am liebsten mag sie Schokoladenkuchen mit Schokoladenüberzug. Wir müssen ihr einen backen.«

Daddy fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Das tat er jetzt oft, als würde es ihm helfen, seine Gedanken zu entwirren.

»Tja, das können wir wohl machen. Haben wir die Sachen dafür?« Er öffnete die Küchenschränke, die Grand uns bestückte. »Was brauchen wir denn?«

»Schokolade«, sagte ich. »Wir brauchen Schokolade. Und Mehl. Und Zucker.«

Doch Grand rettete uns, indem sie anrief und sagte, sie hätte einen Schokoladenkuchen gebacken und ob wir zum Abendessen rüberkommen wollten. Sie hatte Carlies Lieblingsessen gekocht, überbackene Jakobsmuscheln mit Kartoffelpüree und Spinat. Wir steckten eine Kerze in den Kuchen und sangen. Das Wort »Happy« kam heraus wie ein Todesseufzer.

Der Oktober übergab seine brennende Fackel an den November.

Die Schule wurde schwerer, jetzt, wo wir in der sechsten Klasse waren. Aber mir war das ganz recht, weil es meinen Verstand davon abhielt, in sich zusammenzusinken. In dem Jahr entwickelte ich eine Vorliebe für Mathe. Zahlen waren logisch und verlässlich. Ich sehnte mich nach Antworten, und die Mathematik gab sie mir.

An einem Freitag Anfang November bat mich Mrs. Richmond, unsere Klassenlehrerin, noch einen Moment dazubleiben, während der Rest der Klasse nach draußen strömte. Sie saß am Pult und sah mit ihren freundlichen braunen Augen durch die verschmierte schwarze Schmetterlingsbrille zu mir auf. An ihrer Oberlippe hing ein Krümel roter Lippenstift, und ihre dunkelblaue Kostümjacke war mit Kreide bestäubt.

Sie sagte: »Florine, ich weiß, du machst eine sehr schwere Zeit durch. Du bist sehr tapfer, aber wenn es dir mal nicht gut geht, dann sagst du es mir, ja?«

Ich war verlegen, aber auch froh, dass sie auf mich aufpasste. Dann bat sie mich noch, Rose Clark in Mathe zu helfen.

Rose war schon mit uns im Kindergarten gewesen. Während wir gewachsen waren, war sie bei der Größe einer Zweitklässlerin stehen geblieben. Sie hatte feines blondes Haar und fast farblose Augen, wie Wasser auf Sand. Und sie hatte immer noch ihre Milchzähne. Sie bewegte sich nicht in unserer Welt, aber sie war lieb. Außerdem hätte Dottie jeden umgebracht, der es wagte, Rose etwas anzutun. Eins musste man meiner Freundin Dottie lassen: Sie war verdammt anständig, und sie war stark.

Von Klasse zu Klasse fiel Rose das Lernen schwerer. Jeder Lehrer fand jemanden, der ihr half, aber letztes Jahr war sie nur eben so mit durchgekommen. Es hieß, wenn sie es dieses Jahr nicht schaffte, würde sie mit den Zurückgebliebenen nach Long Reach fahren müssen.

Ich sagte Mrs. Richmond, dass ich Rose helfen würde, und am Anfang lief auch alles ganz gut. Während der Mathestunde verließen wir das Klassenzimmer und setzten uns in einen kleinen, kahlen Raum mit zwei nebeneinanderstehenden Tischen und einem hohen Fenster. Ich zeigte Rose, was zu tun war, dann lehnte ich mich zurück und sah zu, wie sie mit ihren schmutzigen, abgekauten Fingernägeln an den Zahlen einer Reihe entlangfuhr, dann zur nächsten wanderte und überlegte, wie es nun weitergehen sollte.

»Genau wie auf der rechten Seite«, sagte ich. »Eins plus eins plus acht macht zehn, was gehört also hier unten hin?« Sie kicherte und riet: »Neun?« Dann sagte sie: »Florine. Du hast einen so hübschen Namen. Wie eine Blume.«

»Du hast auf jeden Fall den Namen einer Blume«, erwiderte ich. »Aber das wird dir bei der nächsten Mathearbeit nicht helfen. Du musst aufpassen. Versuch’s noch mal.« Am Ende der Dreiviertelstunde war ich jedes Mal erschöpft und Rose immer noch fröhlich und dumm.

Frustriert berichtete ich Dottie davon. Da sie meine beste Freundin war und angesichts der schwierigen Situation, in der ich mich befand, hoffte ich auf ein bisschen Mitgefühl. Doch als ich verkündete, Rose Mathe beibringen zu wollen, sei pure Zeitverschwendung, sagte Dottie: »Nicht jeder schafft alles mit links. Ich bin auch nicht so helle. Ich bin bloß klug genug, mir jeden Abend von Madeline helfen zu lassen, sonst säße ich nämlich auch bei dir und Rose.«

»Sie popelt in der Nase und isst das Zeug dann«, fügte ich als Ekelfaktor hinzu.

»Vielleicht kriegt sie zu Hause kein Frühstück«, sagte Dottie, und ich begriff, dass es zwecklos war.

An dem Tag, als ich anfing, gemein zu Rose zu sein, hatte ich zu Hause einen Streit mit Daddy. Er war bis zwei Uhr morgens aufgeblieben, hatte Wodka getrunken und immer wieder mit Parker telefoniert. Als er dann ins Bett stolperte, hörte ich ihn weinen. Ich wollte zu ihm gehen, aber ich wusste, er würde mich wieder ins Bett schicken. Selbst nachdem seine Schluchzer in Schnarchen übergegangen waren, lag ich noch bis vier Uhr wach. Ich musste um sechs aufstehen, aber Daddy und ich verschliefen beide. Ich wachte gegen halb sieben auf, sprang aus dem Bett und zog mir in Windeseile die Sachen über, die ich am Tag davor schon getragen hatte.

»Daddy«, rief ich, »Daddy, du musst aufstehen.« Ich hörte ihn grunzen und fluchen, während ich mir hastig das Gesicht wusch und die Zähne putzte. Ich schnappte mir einen Apfel und rannte zur Bushaltestelle, doch der Bus war schon weg.

Daddy hing gerade über dem Klo und übergab sich, als ich wieder ins Haus kam. »Ich hab den Bus verpasst«, rief ich über sein Gewürge hinweg.

»Mist«, schnaufte er, dann ging es wieder los. Schließlich rauschte die Klospülung, und er kam aus dem Bad und wischte sich das Gesicht mit einem kleinen Handtuch ab, das Grand für ihn und Carlie bestickt hatte. Ich konnte das L und das C in der einen Ecke erkennen. »Warum bleibst du nicht einfach zu Hause?«, fragte er.

»Du hast gesagt, wir müssen weitermachen.«

»Ich bin jetzt nicht in der Stimmung, mir von dir anzuhören, was ich gesagt habe, Florine.«

»Du solltest nicht trinken, und du solltest nicht so lange aufbleiben.«

»Nun, wenn du klug genug bist, mir zu sagen, was ich nicht tun sollte, meinst du nicht, dass du dann auch klug genug bist, alleine aufzustehen, zu frühstücken, dir ein verdammtes Brot zu schmieren und rechtzeitig zum Bus zu gehen?«

»Du hast geweint. Ich konnte nicht schlafen.«

»Entschuldige, dass ich hier wohne.«

»Du brauchst mich nicht auszuschimpfen.«

»Ich schimpfe dich nicht aus.«

»Tust du wohl.«

»Nein, tu ich nicht, verdammt noch mal.«

»Bringst du mich jetzt hin, oder was?«

»Red nicht so mit mir. Es heißt: >Daddy, kannst du mich bitte zur Schule bringen?<«

»DADDY, KANNST DU MICH BITTE ZUR SCHULE BRINGEN?«

»Jesses.« Er verschwand wieder im Bad und übergab sich erneut, während ich die Tür hinter mir zuknallte und wütend die Einfahrt hinunterstapfte.

Grand kam aus dem Haus und rief: »Du bist aber spät dran heute. Alles in Ordnung?«

»Nein«, brüllte ich. »Nichts ist in Ordnung. Ich hasse Daddy. Er ist ein Mistkerl.«

Ich marschierte an ihr vorbei und zur Bushaltestelle, den Kopf gegen den beißenden Wind gesenkt. Als Daddys Pick-up mit quietschenden Reifen aus der Einfahrt fuhr, legte ich noch einen Gang zu, doch er holte mich ein.

»Steig ein, Florine«, sagte er durch das offene Seitenfenster. »Ich hab keine Zeit für Spielchen.«

»Nein. Ich gehe zu Fuß.«

»Das sind sechs Meilen. Steig ein, verdammt noch mal.«

»Nein.«

Er zog die Handbremse an, sprang aus dem Wagen und kam hinter mir her. Ich fing an zu laufen, doch er packte mich und warf mich über seine Schulter. Ich schrie aus Leibeskräften und schlug mit den Fäusten auf seinen Rücken, aber er stapfte zum Wagen zurück, ohne sich darum zu scheren. Er warf mich auf den Beifahrersitz, knallte die Tür zu und stieg auf seiner Seite wieder ein. Wir kochten beide still vor uns hin, während er fuhr, und wir waren in Rekordzeit an der Schule. Ich stieg aus und ließ die Tür offen, sodass er um den Wagen herumgehen musste, um sie zu schließen.

Als ich ins Klassenzimmer kam, sah Mrs. Richmond erst mich an, dann die Uhr, dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, und ich konnte förmlich hören, wie sie dachte: »Ach, die arme Florine. Ihre Mutter ist entweder weggelaufen oder tot. Ich muss Geduld mit ihr haben.« Mir wäre es lieber gewesen, sie hätte mich zum Direktor geschickt, aber sie sagte nur: »Wir haben gerade mit Mathematik angefangen. Wie wär’s, wenn du ein bisschen mit Rose übst?«

Also machte ich wieder kehrt, die arme Rose im Schlepptau. Wir gingen in den kleinen Raum, und Rose setzte sich ganz dicht neben mich. Sie roch nach getrockneter Pisse. Ich rückte ein Stück von ihr weg. »Fangen wir an.«

»Ich mag deine Bluse. Sie ist hübsch«, sagte Rose.

»Ist dieselbe wie gestern«, erwiderte ich knapp. »Los jetzt.«

Wie immer kriegte sie nichts auf die Reihe.

»Ich habe dir doch gerade gezeigt, wie es geht, Rose«, sagte ich, ein bisschen laut und ziemlich ungeduldig.

Ihr Lächeln flackerte wie eine Kerzenflamme im Luftzug. »Hab’s vergessen.«

»Dann konzentrier dich jetzt«, sagte ich. »Ich zeig’s dir noch ein letztes Mal, und dann sage ich gar nichts mehr, bis du es richtig machst.«

»In Ordnung.« Sie beugte sich über das Heft und fuhr mit ihrem kleinen Finger über die Zahlen, die Lippen vor Konzentration gespitzt. Sie brauchte lange, bis sie zu einem Ergebnis kam, aber sie schaffte es, und dann legte sie den Stift weg und faltete die Hände.

Ich kam vom Fenster zurück, wo ich einem Flugzeug nachgesehen hatte, in dem Carlie saß. Oder auch nicht.

»Lass mal sehen«, sagte ich. Als ich sah, dass das Ergebnis falsch war, verdrehte ich die Augen. »Rose, was soll ich bloß machen? Soll ich Mrs. Richmond vielleicht sagen, dass du das nicht kannst?«

Immer noch ein winziges Lächeln, aber sie schüttelte den Kopf.

»Nun, dann musst du das Zeug hier lernen.«

»Mach ich«, sagte sie.

Sie versuchte es noch einmal, aber es war wieder falsch. Da riss mein Geduldsfaden.

»Du kannst das nicht«, sagte ich. »Du bist einfach zu dumm.« Rose’ Lippen fingen an zu zittern, und ihr stiegen die Tränen in die Augen.

»Ich weiß, dass ich dumm bin«, sagte sie. »Aber du musst nicht mit mir schimpfen. Ich weiß, du bist traurig, weil deine Mutter tot ist.«

»Sag das nicht! Sie ist nicht tot!«, brüllte ich, und dann sank ich auf dem Boden zusammen. »Das darfst du nicht sagen«, schluchzte ich. »Niemand darf das sagen!«

Rose war so erschrocken über meinen Ausbruch, dass sie genauso laut zu weinen anfing, und wir konnten beide nicht mehr aufhören. Wir starrten unsere zu hässlichen Masken verzerrten Gesichter an, während Tränen und Rotz über unsere Wangen liefen und auf unsere Kleider tropften.

Seltsamerweise hörte uns niemand. Keiner kam angerannt, um nachzusehen, was da los war. Nach und nach krochen Scham und Verstand aus ihrem Versteck, und ich sagte schniefend: »Tut mir leid, Rose. Hab keine Angst. Es tut mir wirklich leid«, denn sie weinte immer noch so sehr, dass sie am ganzen Körper bebte. Ich wischte mir mit den Händen übers Gesicht, stand auf und ging zu ihr. Ich sprach sanft auf sie ein, wie Carlie oder Grand es taten, wenn ich mich fürchtete oder mir wehgetan hatte.

Schließlich gelang es mir, sie zu beruhigen und ein bisschen zu säubern, aber die Mathestunde war für den Tag vorbei. Hand in Hand gingen wir zum Klassenzimmer zurück, immer noch leise schniefend. Als Mrs. Richmond uns sah, ging sie mit uns raus auf den Flur.

»Was ist passiert?«, fragte sie mich.

Rose sagte: »Florine hat nichts gemacht. Mir geht es einfach nicht gut.«

Mir ging es auch nicht gut, und es ging mir noch schlechter, als Dottie später in der Pause auf mich zukam und sich drohend vor mir aufbaute.

»Du hast Rose gesagt, sie war dumm?«, fragte sie. Ich musterte meine Schuhspitzen. Doch ein Gefühl von Ungerechtigkeit hatte sich in mir breitgemacht, und ich erwiderte trotzig: »Sie ist dumm. Das ist einfach eine Tatsache.«

»Du blöde Scheißkuh.« Dottie drehte sich um und marschierte davon. Ich sah ihr sprachlos nach.