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Das Erste, was ich sah, als ich aufwachte, war Daddy, der auf einem Stuhl neben mir saß und aussah, als hätte er Gift getrunken und würde langsam daran sterben.

»Was ist los?«, fragte ich. »Haben sie Carlie gefunden?«

»Nein«, sagte Daddy. »Du hattest einen Unfall.« Daraufhin sah ich mich um, zumindest so weit, wie die Halsmanschette es mir erlaubte. »Wo bin ich?«

»Wir sind in Portland«, sagte Daddy. »Du warst ein paar Tage bewusstlos. Das hier ist die Intensivstation des Maine Medical Center. Du hattest einen Autounfall mit Andy Barrington. Sie haben ihn nach Boston gebracht. Beide Beine gebrochen und die Hüfte, aber er kommt durch. Parker hat Mr. Barrington gefunden, er hatte eine Platzwunde am Kopf. Ihr habt alle Glück gehabt.«

Ich Glückspilz, dachte ich und tauchte wieder ab. Ich hatte eine übel verrenkte Wirbelsäule, ein gebrochenes Bein, mehrere Brüche, Prellungen und Quetschungen am rechten Arm und an der Schulter, diverse Schnitt- und Schürfwunden und eine starke Gehirnerschütterung. Eine Woche lang war ich mal da und mal weg, meistens weg. Manchmal, wenn die Wirkung der Medikamente nachließ, hatte ich Schmerzen.

Sie behielten mich auf der Intensivstation, bis die Gehirnerschütterung nachließ, dann brachten sie mich in ein Zweibettzimmer zu einer alten Dame namens Hazel, die eine Lungenentzündung hatte. Sie hustete Schleim aus, während ich auf den trägen Wellen der Schmerzmittel dahintrieb. Wir waren ein ziemlich schräges Paar.

Hazel war so zierlich, dass sich nur ihre Fußspitzen und die Hände, die sie auf dem Bauch gefaltet hatte, unter der Bettdecke abzeichneten. Ihr Gesicht wirkte gelblich, und ihr weißes Haar brauchte dringend einen Schnitt. Als sie wieder sprechen konnte, ohne sich die Lunge aus dem Hals zu husten, und ich, ohne dass irgendein Nerv, Muskel oder Knochen protestierte, sagte sie mir, dass sie allein mit ihren zwölf Katzen lebte. Sie erzählte mir die Geschichte jeder einzelnen von ihnen. Hazel konnte es kaum erwarten, wieder zu ihnen nach Hause zu kommen. »Eine Nachbarin kümmert sich um sie, aber das ist nie dasselbe«, sagte sie.

Jane, eine Schwesternschülerin, die nur ein paar Jahre älter war als ich, erzählte mir eines Tages, als Hazel schlief, dass sie nicht wieder nach Hause zurückkehren würde. Ihre beiden Nichten hatten ein Pflegeheim für sie gefunden. Sie hatten Hazels Haus verkauft, um den Platz im Heim bezahlen zu können. Die armen Katzen waren halb verhungert und kränker gewesen als Hazel, und die Hälfte von ihnen hatten sie einschläfern lassen müssen. Der Rest war ins örtliche Tierheim gekommen.

Ich sagte Hazel nichts davon und hörte mir weiter ihre Katzengeschichten an, solange sie da war. An dem Tag, an dem die Schwester Hazel hinausrollte, flankiert von ihren beiden Nichten, weinten Jane und ich bei der Vorstellung, was passieren würde, wenn sie begriff, dass sie nicht in ihr Haus zurückkehren würde und dass ihre Katzen nicht mehr da waren.

Ohne Hazel als Ablenkung lieferten mir meine verletzten Körperteile ein abwechslungsreiches Schmerzprogramm. Ich konnte mich ums Verrecken nicht erinnern, was passiert war. Lange Zeit war das Letzte, was mir einfiel, Andys Satz: »Ich muss mich um meinen Schatz kümmern«, draußen vor Grands Haus. Dann kamen langsam die Bilder zurück: Stella, die mit Mr. Barrington sprach; Mr. Barrington, der sein Weinglas in den Kamin schleuderte.

Ich wollte unbedingt mit Andy sprechen, seine Version der Dinge hören. Es war schwer zu begreifen, dass er für mich ebenso endgültig fort war wie Grand und Carlie. Während der dunkelsten Stunden der langen Nächte kamen sie alle an mein Bett, alle, die ich verloren hatte.

Wenn Dottie nicht beim Bowling war, kam sie nach der Schule vorbei und blieb bis zum Ende der Besuchszeit. Sie, Daddy und Madeline besuchten mich oft, und ab und zu auch Glen, Bud und Susan. Ida und Sam Warner kamen auch einmal, aber Sam wirkte nervös, und Ida erklärte mir, dass er Krankenhäuser hasste. Ich sagte ihm, er sollte lieber zu Hause bleiben, wenn er davon schlechte Laune bekäme. Er gab mir einen Kuss auf die Stirn, bedankte sich und ging.

Stella ließ ich nicht in meine Nähe, ganz gleich, was Daddy versuchte, um die Sache auszubügeln. »Sie hatte Angst, du würdest in Schwierigkeiten geraten. Sie wollte dich beschützen«, war das Argument, das Daddy vorbrachte, um Stellas Verrat zu rechtfertigen.

»Das hat sie verdammt beschissen angestellt«, entgegnete ich darauf.

»Sie fühlt sich schrecklich, Florine.«

»Umso besser.«

»Tja, mein Herz, du wirst ihr trotzdem vergeben müssen, denn wenn sie dich hier rauslassen, musst du erst mal mit zu uns kommen. Du kannst keine Treppen steigen.«

»Nur über meine Leiche.«

»Dir bleibt gar nichts anderes übrig.«

»Was wird aus Andy, wenn er aus dem Krankenhaus kommt?«, fragte ich.

»Von mir aus kann er sich im nächsten Gully ertränken«, erwiderte Daddy.

Dottie drückte es nicht ganz so drastisch aus. »Parker hat gesagt, Mr. Barrington schickt Andy auf irgendeine Militärschule. Anscheinend hängt er ein Jahr hinter uns her, weil er so oft rausgeflogen ist. Er kriegt jetzt bis zum Sommer Privatunterricht, und dann muss er für ein Jahr in den Drill.«

Die Vorstellung, wie sie ihn beim Militär zu einer Holzfigur zurechtstauchen würden, brach mir das Herz. Es war, als würde man eine Möwe vom Himmel holen und sie in ein Huhn verwandeln. Ich trauerte um seinen freien Geist. Mit Janes Hilfe versuchte ich eines Abends, ihn anzurufen. Ich gab ihr die Nummer, und sie kümmerte sich um den Rest. Sie rief eine Freundin in Boston an, die in dem Krankenhaus arbeitete, in dem Andy lag. Doch als sie mit ihr sprach, erfuhr sie, dass Andy nicht telefonieren durfte.

Wenn ich oben in den Wolken schwebte, dachte ich daran, wie wir unter einem Berg von Decken auf dem kalten Fußboden vor dem Kamin gelegen hatten. Das und ihn zu verlieren, schmerzte an einer Stelle, die kein Arzt reparieren konnte. Und so tat ich dasselbe, was ich getan hatte, als Carlie in meiner Erinnerung zu verblassen begann: Ich ging sämtliche Sinne durch; wie Andy aussah, wie er roch, schmeckte, klang und sich anfühlte. Ich erzählte Jane von ihm, mitten in der Nacht, wenn sie Schicht hatte. Ich erzählte ihr auch von Carlie, und sie sagte, sie erinnere sich, dass sie davon gelesen und sich gefragt hatte, was wohl passiert war. Ich sagte ihr, dass ich mich das auch jeden Tag fragte.

Parker kam zu mir ins Krankenhaus, um sich meine Version der Barrington-Geschichte anzuhören, aber da ich mich kaum an etwas erinnerte, konnte ich ihm nicht viel erzählen. Bevor er ging, versprach er mir noch einmal, weiter nach Carlie zu suchen, bis in alle Ewigkeit, wenn es sein musste. »Denk ja nicht, das würd ich nicht tun«, sagte er, und ich tat so, als glaubte ich ihm.