25

 

Stella verlor nie ein Wort über das, was passiert war, aber sie sprach eine Zeit lang nicht mit mir. Es war ein mühsamer Tanz, wenn wir uns nicht aus dem Weg gehen konnten, aber irgendwie schafften wir es. Wenn ich etwas in Rays Laden besorgen musste und sie an der Kasse war, legte ich ihr meine Sachen hin, sie tippte alles ein, packte es in eine Tüte, stellte sie mir auf den Tresen und kehrte mir den Rücken zu, es sei denn, es war noch jemand hinter mir, dann wandte sie demjenigen ihre Aufmerksamkeit zu.

Ich glaube, irgendwo tief in meinem Innern, da, wo Grand und Jesus ihren Platz hatten, tat es mir leid, aber ich hatte mich darauf versteift, dass sie bei uns nichts verloren hatte und schon gar nicht das Recht besaß, irgendetwas zu verändern. Und das gab mir auf eine verquere Weise das Gefühl, richtig gehandelt zu haben.

»Was ist eigentlich los zwischen dir und Stella?«, fragte Daddy mich schließlich.

»Was sagt sie denn, was los ist?«, fragte ich. »Nichts, aber irgendwas ist los. Früher hat sie zu Hause zumindest ab und zu über dich gesprochen, jetzt macht sie nicht mal mehr das. Hast du irgendwas getan, um sie zu ärgern?«

»Wieso denkst du, ich hätte irgendwas getan? Vielleicht war sie’s ja.«

»Schon gut«, seufzte Daddy. »Ich hab nicht dran gedacht, mit wem ich rede.«

Ein weiterer Sommer kam und ging, dann ein weiterer Herbst und Winter. Die Geschichte ging ihren Gang, wir lasen darüber oder verfolgten die Ereignisse im Fernsehen. Carlie blieb verschwunden. Mittlerweile war es 1967, und ich würde im Frühjahr fünfzehn werden. Mein Körper begann sich so zu verändern, dass sie vielleicht zweimal hätte hinsehen müssen, um mich zu erkennen. Schiefzahn-Mikes Vorhersage, ich würde in jeder Hinsicht größer werden, hatte sich bewahrheitet. Ich war eindeutig eine Gilham, die sich nach der Sonne reckte wie ein Schilfrohr, dünn, aber kräftig.

Meine Finger wuchsen in den wunderschönen Smaragdring hinein, den Carlie und Daddy für meinen zwölften Geburtstag ausgesucht hatten. Ich nahm ihn von der Goldkette und schob ihn auf meinen rechten Ringfinger. Wenn die Sonne schien und ich mich im Unterricht langweilte, hielt ich ihn manchmal so, dass ein kleiner grüner Lichtstrahl auf meinen Tisch fiel und das zerkratzte Metallpult wärmte. Meine Fingernägel wuchsen zu perfekten Halbmonden heran, die ich rosa oder rot lackierte. Die Farben erinnerten mich an den Tag am Mulgully Beach, als Carlies und Pattys perlschimmernde Nägel sich so leuchtend von ihrer Sommerhaut abgehoben hatten.

An einem Frühlingstag, als wir nach der Schule bei Grand waren, sagte Susan zu mir: »Du hast wirklich schöne Hände.« Seit einiger Zeit fuhr sie meist mit uns im Bus, um den Nachmittag mit Bud zu verbringen. Manchmal kam sie vorher mit Dottie zu mir, auf einen Becher Kakao und etwas zu essen. Wir setzten uns an den Küchentisch und quatschten eine Weile, dann ging sie weiter zu Bud.

Susan hielt ihre Hände neben meine. Ihre waren so viel kleiner, dass ich meine obersten Fingerglieder über ihre Spitzen hätte biegen können.

»Ich werde nie ein Fotomodell«, seufzte sie. »Dazu bin ich viel zu klein.«

Dottie, die die Schokostückchen aus einem von Grands selbst gebackenen Keksen pulte und sie auf ein Häufchen legte, um sie zum Schluss zu essen, sagte: »Warum sollte irgendwer aussehen wollen wie ein Besenstiel? Könnt ihr euch vorstellen, keine Kekse mehr essen zu dürfen?«

»Du könntest Fotomodell werden, Florine«, sagte Susan. »Du bist groß. Ich kann mir dich gut irgendwo auf einem Laufsteg vorstellen.«

»Ja, vielleicht gehe ich nach Portland und versuche mein Glück«, sagte ich.

»Warum Portland? Geh doch lieber gleich nach New York oder nach Kalifornien«, meinte Susan.

»Mist!« Dottie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass Susan und ich zusammenzuckten. »Ich brauche morgen noch zwei Leute zum Bowlen. Seid ihr dabei?«

Meine schönen Finger in die harten, kalten, schmutzigen Löcher einer Bowlingkugel zu stecken, war nun wirklich das Letzte, was ich wollte. »Was ist, wenn ich mir einen Nagel abbreche?«

»Bist du jetzt etwa eine von diesen verdammten Zimperliesen?«, fragte Dottie.

»Nein. Aber es dauert ‘ne Weile, die Dinger so hinzukriegen.«

Dottie schüttelte den Kopf. »Das hätte ich mir nun echt nicht träumen lassen.«

Dottie war Captain ihrer Bowlingmannschaft, die die Liga anführte. Susan, die manchmal einsprang, meinte, das wäre Dotties hoher Trefferquote zu verdanken.

»Komm schon, Florine, das wird bestimmt witzig«, sagte Susan. »Und vielleicht gewinnen wir sogar.«

»Ich weiß nicht.« Bei der Vorstellung, mit zweiunddreißig anderen Mädchen im Bus zur Bowlinghalle zu fahren, wurde ich ganz flatterig. Meine Schüchternheit hatte sich nicht gelegt. Ich fühlte mich nur bei wenigen Menschen wohl, und die kannte ich alle schon fast mein ganzes Leben lang, mit Ausnahme von Susan.

Ich glaube, ich war so eine Art Projekt für sie. Sie gab nie auf, suchte mich in der Pause, hängte sich bei mir ein und erzählte mir ein bisschen Tratsch oder machte mir ein Kompliment. Ich verstand schon, warum Bud sich in sie verliebt hatte.

»Sei kein Spielverderber«, sagte Dottie. »Los, gib dir einen Ruck.«

»Wie ich dich kenne, lässt du nicht locker, bis ich mitkomme.«

»Da könntest du recht haben«, sagte sie und nahm sich noch einen Keks.

»Das ist schon der vierte«, sagte Susan.

Dottie zog ihre perfekt geschwungene Augenbraue hoch. »Hör auf, mein Essen zu zählen«, sagte sie. »Ich muss mich stärken. Ich wachse schließlich noch.«

Während der Busfahrt zur Bowlinghalle saßen wir drei in der letzten Reihe. So aufgedreht wie an dem Tag hatte ich Dottie noch nie erlebt.

»Ich mach sie alle fertig«, sagte sie. »Ich leg ‘nen Perfect Score hin.«

»Mit mir werdet ihr keinen Blumenpott gewinnen«, sagte ich düster.

»Hör auf, dir solchen Quatsch einzureden. Du musst daran glauben, dass du alle schlagen kannst«, sagte Dottie. »Du musst im Kopf hier oben sein« - sie hob die Hand zur Decke des Busses - »und nicht da unten.« Sie berührte den Boden. Sie lehnte sich wieder zurück und machte mit den drei Kaugummis, die sie sich in den Mund gestopft hatte, eine riesige, rosafarbene Blase. Sie wuchs und wuchs, bis man das Licht, das durchs Busfenster fiel, hindurchschimmern sah.

»Du lieber Gott«, quiekte Susan. Dotties Augen weiteten sich, und ich hielt den Atem an. Als die Blase schließlich platzte, bedeckte sie Dottie vom Haaransatz bis zur Mitte ihres T-Shirts. Als wir bei der Bowlinghalle ankamen, waren wir immer noch damit beschäftigt, ihr die Kaugummifitzel aus dem Haar zu zupfen. Doch sobald der Bus hielt, war Dottie nicht mehr zu halten und sprang als Erste hinaus.

Als Susan und ich sie einholten, war Dottie schon am Tresen und probierte Schuhe an.

»Wir müssen die Schuhe von anderen Leuten anziehen?«, fragte ich entgeistert.

»Stell dich nicht so an, Florine«, sagte Dottie. »Ich hab keine Lust, wie eine Vollidiotin dazustehen.«

»Dafür ist es eh zu spät«, entgegnete ich. Doch sie beachtete mich gar nicht, sondern nannte der Frau hinter dem Tresen meine Schuhgröße. Die reichte mir ein Paar, als wäre es für sie etwas vollkommen Normales, stinkige, von anderen Leuten getragene Schuhe anzufassen. Susan und ich gingen hinter Dottie und Holly, ihrer Mannschaftskollegin, zu unserer Bahn. Wir setzten uns in die kleine Sitzecke und zogen unsere Schuhe an. Ich machte einen Doppelknoten in die Schnürsenkel, wie Carlie es mir beigebracht hatte. »Zwei Knoten halten besser als einer«, hatte sie gesagt.

Holly und Dottie setzten sich ein Stück von Susan und mir entfernt hin und besprachen ihre Spieltaktik. Ein paarmal sahen sie zu uns herüber, dann redeten sie wieder weiter.

»Was meinst du, was sie sagen?«, flüsterte Susan.

»Holly fragt Dottie, wo sie die Niete mit den Zottelhaaren aufgelesen hat. Sie überlegt, ob sie mir sagen soll, dass ich besser gleich wieder nach Hause fahre.«

»Sie brauchen vier Leute für ihre Mannschaft«, sagte Susan. »Ich kann das. Und ich glaube, du kannst das auch.«

Ich sah zu, wie ein Mädchen bis zu einer Linie ging und den Bowlingball auf die Bahn warf. Ein paar Pins fielen um. »Sieht jedenfalls nicht sehr schwer aus.«

»Los, holen wir unsere Bälle«, sagte Dottie.

Als wir bei dem Regal ankamen, hob ich einen der Bälle hoch. Er war viel schwerer, als ich gedacht hatte, und ich ließ ihn fallen. Er landete eine Handbreit vor Hollys Fuß.

»Pass doch auf, verdammt noch mal«, sagte Holly.

»Hier«, sagte Dottie und gab mir einen zerkratzten schwarzen Ball. »Das ist ein Zehnpfünder. Damit müsstest du klarkommen.«

Ich drückte das Ding an die Brust, schob meine Finger in die Löcher und hielt den Ball mit der einen Hand. »Ich kann das«, sagte ich.

»Braves Mädchen«, sagte Dottie.

Von da an ging es bergab. Mein erster Wurf misslang, und der Ball steuerte auf die Rinne zu, als wäre es der kürzeste Weg nach Hause. Danach wurde es nicht wesentlich besser. Ich konnte Dottie nicht in die Augen sehen. Nach meinem x-ten Fehlwurf sagte ich zu Susan: »Ich glaube, mein Ball hat Angst vor den Pins.«

»Vielleicht läuft es besser, wenn du dir ein paar Nägel abbrichst«, meinte sie. Sie stellte sich geschickter an als ich, wobei man das wahrscheinlich selbst von einem Fisch hätte behaupten können. Im ersten Spiel schaffte sie einen Strike, obwohl sie bei ihren Würfen völlig unberechenbar war. Mal fielen drei Pins um, dann acht, dann nur einer. Holly hingegen warf regelmäßig Achter, Neuner und ab und zu auch einen Spare.

Dottie gab alles.

Wenn sie an der Reihe war, stellte sie sich mit dem Rücken zu uns auf, und ihre kräftigen Beine - die Waden sahen selbst fast aus wie Pins - schienen nur auf den Startbefehl zu warten. Sie hielt einen kurzen Moment inne, als bete sie zu einem Bowling-Gott, den ich nie kennenlernen würde, dann lief sie zwei Schritte, glitt nach vorn, beugte ihr Knie und warf den Ball. Pins krachten um. Sie blieb in der gebückten Haltung, bis sie das Ergebnis wusste, dann erhob sie sich, drehte sich um und kam zu uns zurückgeschlendert, grinsend wie eine freche Möwe. Sie setzte sich, leckte ihren Bleistift an und trug ihre Punkte auf der Karte ein.

Wir spielten drei Spiele, und ich brach mir dabei zwei Nägel ab. Trotz meines armseligen Ergebnisses gewann unsere Mannschaft, weil Dottie so eine hohe Punktzahl hatte. Hinterher gingen wir rauf in den dazugehörigen Imbiss und genehmigten uns eine Portion Pommes mit reichlich Ketchup.

Der große Typ hinter dem Tresen - Dottie nannte ihn Gus - sagte zu ihr: »Du bist gut, Dottie. Du wirst mal ein Profi.«

Dottie saugte den Ketchup von einer Fritte und verspeiste sie in winzigen Häppchen. Dann erst sagte sie: »Danke.«

Auf dem Heimweg war die hinterste Reihe im Bus schon besetzt. Ich saß neben Susan, während Dottie und Holly sich auf die andere Seite des Gangs setzten. Ich sah hinaus in die vorübergleitende Dunkelheit, befingerte meine abgebrochenen Nägel und wünschte mir, ich hätte mich nicht so blamiert. Carlie hätte bestimmt einen prima Auftritt hingelegt. Mit ihrer zierlichen Gestalt wäre sie zur Linie geschlendert, hätte ein paar Worte zu dem Ball gesagt und ihn dann losgeschickt, um die Sterne vom Himmel zu holen.

»Dafür hast du andere Vorzüge«, sagte Susan, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

»Zum Beispiel?«

»Du strickst tolle Schals. Du kannst Brot backen. Und Bud und ich finden dich hübsch.«

Ich war froh, dass es im Bus so dunkel war, denn mir stieg die Röte ins Gesicht. »Ich bin nicht hübsch«, murmelte ich.

»Also, wenn Bud es sagt, dann stimmt es auch«, erwiderte Susan. »Er sagt nur Sachen, die er auch so meint.«

Ich schwieg. Das wusste ich selbst, dazu brauchte ich Susan nicht.

»Manchmal«, sagte sie, »wünschte ich, er würde mehr mit mir reden.«

»Er ist einfach ein Stiller.« Ich sah seine dunklen Augen und sein überraschendes Lächeln vor mir. Mein Gedächtnis kramte das Bild eines getrockneten Gänseblümchens hervor, das er mir einmal auf dem Beifahrersitz von Petunia hinterlassen hatte, und bei der Erinnerung an unser Spiel lächelte ich aus dem Fenster hinaus in die Dunkelheit.

»Warum lächelst du?«, fragte Susan.

»Nur so.« Dottie war ein Bowling-Ass, und Susan war mit Bud zusammen. Ich war eine absolute Niete im Bowling, ich hatte keinen Freund, und meine Mutter blieb vermisst. Aber in einem meiner Nancy-Drew-Bücher steckte noch immer ein kleines getrocknetes Gänseblümchen.