8

 

Als ich sechs war, besuchten wir einmal Charlies Familie in Massachusetts. Wir fuhren mit Daddys altem grünen Pick-up. Carlie war im Auto sehr still. Es war eine lange Fahrt.

Ich hatte meine Großeltern Collins noch nie gesehen. Sie hatten mir auch nie ein Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk geschickt, nicht einmal eine Karte. Ich wusste, dass Carlie einen Bruder hatte, Robert, dass er mein Onkel war und seine Kinder meine Vettern und Cousinen, aber Carlie hatte keine Fotos von ihnen, und sie sprach nicht über sie. Es machte mir nichts aus, dass ich sie nicht kannte, denn mein Leben war mit all den anderen Menschen um mich herum gut ausgefüllt. Daddy hatte sie auch noch nie gesehen. Aber schließlich schaffte er es, Carlie zu einem Besuch zu überreden, zum Teil auch meinetwegen.

»Florine sollte deine Seite der Familie kennen«, sagte Daddy zu ihr. »Vielleicht braucht sie sie eines Tages. Grand und ich sind alles, was sie von meiner Seite hat.«

Carlie war nicht erpicht darauf, doch sie willigte ein.

In The Point wurden die Häuser jeden Sommer gestrichen. Der Rasen wurde gemäht, was kaputt war, wurde repariert, und gepflegte Blumen- und Gemüsegärten holten das Beste aus dem kargen Boden heraus. In der Stadt, wo Carlie aufgewachsen war, hatte der Gehweg an der Hauptstraße Risse, durch die das Gras spross. An den Ecken standen Leute herum und schauten uns nach. Riesige Gebäude nahmen Block um Block ein. Carlie sagte, es wären Leinenwebereien gewesen und sie stünden schon seit ihrer Geburt leer, oder zumindest seit sie ein kleines Mädchen gewesen war.

»Wo müssen wir hin?«, fragte Daddy.

Carlie deutete nach links, und Daddy bog ab.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

Sie nickte. »Nach dem nächsten Stoppschild ist es das dritte Haus auf der rechten Seite.«

Vor dem ersten Haus auf der rechten Seite erledigte ein schwarzer Hund mit grauer Schnauze sein Geschäft. Der Vorgarten des zweiten Hauses bestand nur aus nackter Erde und Unkraut, und der ungestrichene Lattenzaun sah aus wie ein Gebiss, bei dem ein paar Zähne ausgeschlagen worden waren.

Das Haus, vor dem Daddy parkte, hatte einen unversehrten Zaun. Er konnte mal wieder einen Anstrich gebrauchen, aber dafür war der lückenhafte Rasen im Vorgarten vor Kurzem gemäht worden. Auf einem alten Gartenstuhl saß eine schwarzhaarige Patti-Playpal-Puppe.

»Tja, da wären wir«, seufzte Carlie und stieg aus dem Auto. Sie hob mich ein Stück hoch und drückte mich kurz an sich, bevor sie mich auf dem Boden absetzte. »Bringen wir’s hinter uns.« Sie ging den Weg zum Haus hinauf, Daddy und ich folgten ihr. Vor dem Eingang hob sie die Hand, um zu klopfen, hielt inne, lachte und öffnete mit einem Kopfschütteln die Tür.

Wir kamen in einen dunklen Flur. In der Ecke stand ein Wäschekorb, der Boden war mit Spielzeug übersät, und mitten auf dem schwarz-weiß gestreiften Läufer lag ein dicker, gelber Kater, als wäre er geschmolzen und daran kleben geblieben. Sein Schwanz zuckte. Carlie sagte: »Tiger«, und versuchte ihn zu sich zu locken, doch Tiger starrte sie nur aus orange glühenden Augen an und begann dann, seine rechte Vorderpfote zu lecken. Chlorbleiche und Zigarettenrauch stiegen mir in die Nase.

Zwei kleine Kinder kamen in den Flur. Das eine konnte gerade eben laufen und war bis auf eine Windel nackt. Das andere, ein Mädchen, war etwas älter und trug eine braune Cordlatzhose und darunter eine blau gestreifte Bluse. Es schob die Finger in den Mund und starrte uns an. Beide Kinder hatten dunkelrotes Haar und braune Augen. Das kleine Mädchen lächelte mich an, und ich lächelte zurück.

»Hallo«, sagte Carlie. »Ich bin eure Tante Carlie.« Und, zu dem Mädchen gewandt: »Du musst Robin sein.« Das andere Kind verlor seine Windel, und Daddy sagte: »Dann ist das hier wohl Ben.« Die Kinder schwiegen, Tiger hörte auf, an seiner Pfote zu lecken, und niemand sonst kam, um nachzusehen, wer da an der Tür war.

»Netter Empfang«, murmelte Carlie. Sie holte tief Luft, stieg über den Kater hinweg und ging um die Ecke nach links. Ich wich an die Wand zurück, als Tiger erneut mit seinem buschigen Schwanz zuckte und mich mit seinen Glutaugen musterte.

Der Raum links vom Flur, in den Carlie verschwunden war, lag so im Dunkeln, dass ich nichts weiter erkennen konnte als das Bild des Fernsehers, der in der Mitte vor der Wand stand. Es war Mittag, und draußen schien die Sonne, aber die schweren Vorhänge waren fest zugezogen. Als meine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, konnte ich den Umriss eines Sessels erkennen. Der Lichtschein des Fernsehers fiel auf die linke Armlehne, auf der der Unterarm eines Mannes lag. Die Hand am Ende des Arms hielt eine brennende Zigarette. Neben dem Sessel stand ein Aschenbecher voller Stummel. Die Hand bewegte sich und schnippte die Asche der Zigarette hinein.

Rechts davon saß eine Frau auf einem Sofa, das vor der Wand kaum zu erkennen war. Sie hatte Kleider zusammengelegt, als wir hereinkamen. Ihr Gesicht flackerte in unterschiedlichen Weißtönen, je nachdem, was auf dem Bildschirm zu sehen war. Ihr Haar konnte schwarz sein oder auch dunkelbraun.

»Hallo, Mom«, sagte Carlie zu ihr. »Überraschung!« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und klatschte in die Hände wie ein kleines Mädchen. Ihre Stimme klang hoch und schrill.

»Ja, Grundgütiger«, sagte die Frau. Sie stand auf, sagte noch einmal »Ja, Grundgütiger« und umarmte Carlie kurz und heftig. Dann sah sie zu Daddy und hinunter zu mir. »Mom, das ist Leeman, mein Mann«, sagte Carlie. »Und das ist Florine, unsere Tochter.«

»Ja, Grundgütiger«, sagte die Frau wieder, und ich fragte mich, ob sie auch noch andere Wörter kannte. Sie warf einen schnellen Blick auf den Sessel, dann schaute sie mich an. »Was für ein hübsches Mädchen«, sagte sie. »Florine? Das ist ein ungewöhnlicher Name. Und Leeman auch«, fügte sie hinzu, und Daddy gab ihr die Hand. Ein paar »Nett, Sie kennenzulernen« wurden über meinen Kopf hinweg gewechselt, aber ich hörte nicht mehr zu.

Etwas an der Hand mit der Zigarette zog mich an. Ich machte ein paar Schritte, bis ich neben dem Sessel stand, nicht weit von dem Aschenbecher. Ich betrachtete die Hand. Sie war klein, fast wie die von Carlie. Mein Blick wanderte den Arm hinauf, und ich sah in ein graues Männergesicht, das mich aus tief in den Höhlen liegenden Augen anstarrte. Der Mann zog an seiner Zigarette, stieß den Rauch aus, schnippte die Asche weg und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Ich folgte seinem Blick. Zwei Männer prügelten sich in einem Boxring. Dann sah ich wieder sein Gesicht an.

»Was gibt’s da zu glotzen?«, krächzte er, die Augen starr auf den Fernseher geheftet.

»Nichts«, sagte ich.

Er hustete und spuckte etwas in ein Taschentuch. »Nichts? Was ist das denn für ‘ne dämliche Antwort?«

»Daddy«, sagte Carlie und legte ihre Hand auf meinen Kopf. »Das ist meine Tochter Florine.«

Er sagte nichts, sah sie nicht einmal an.

Doch dann sagte Daddy mit seiner höflichsten Stimme: »Wie geht es Ihnen, Sir?«, beugte sich hinunter und streckte die Hand aus. Der Mann sah ihn an, legte das Taschentuch beiseite und ergriff die Hand. Er murmelte etwas, das ich nicht verstand, dann wandten Daddy und er sich dem Boxkampf zu.

Die beiden Kinder hatten sich auch noch ins Wohnzimmer gedrängt, und Carlies Mutter sagte zu Carlie: »Komm, wir gehen in die Küche, ich mache uns einen Kaffee.« Als ich hinter Carlie herging, fühlte ich, wie eine kleine Hand nach meiner griff. Ich sah Robin an. »Du bist meine Cousine«, sagte sie. Wir gingen in die Küche, die gelbe Wände hatte und einen roten Tisch mit fünf Stühlen drum herum. In der Ecke neben dem Herd standen Tigers Näpfe. Eine Fliege schwirrte summend um eine halb gefressene Portion Katzenfutter.

Carlie setzte sich an den Küchentisch. Ben tapste grinsend mit seinen nackten Füßen auf dem Fußboden herum und sah immer wieder aus dem Augenwinkel zu mir. Robin hielt weiter meine Hand. »Wo ist Robert?«, fragte Carlie.

»Oh, der arbeitet«, sagte Carlies Mutter. Sie trug ein grün kariertes Hauskleid und alte Pantoffeln, die über den Boden schleiften, wenn sie ging. Sie kippte Kaffeereste in einen fast vollen Mülleimer, spülte den Filter aus und gab frischen Kaffee hinein.

»Tut mir leid, dass ich euch nicht besucht habe«, sagte Carlie. »Der Weg ist so weit.«

»Es ist schön, dich zu sehen«, sagte Carlies Mutter rasch. Dann sah sie mich an. »Du bist wirklich eine Hübsche.« Als sie lächelte, sah ich Carlie in ihr. »Wie alt bist du?«, fragte sie.

»Sechs«, antwortete ich, und Carlie sagte, sie fände, ich sähe Leeman sehr ähnlich.

»Sie hat dein Haar«, sagte Carlies Mutter. »Dieselben Locken. Sie sieht ein bisschen aus wie du in dem Alter.«

»Sie hat meinen Mund.«

Carlies Mutter lächelte. »Gott steh ihr bei.«

»Wie alt ist Robin?«, fragte Carlie.

»Viereinhalb.«

»Und wo ist Liz?«

»Sie und Robert haben sich scheiden lassen«, sagte Carlies Mutter. Dann, zu Robin gewandt: »Hast du nicht Lust, Florine deine Spielsachen zu zeigen?« Als wir die Küche verließen, hörte ich, wie sie sagte: »Hat angefangen, zu trinken. Robert hatte genug, und …«

Ich folgte Robin eine steile Treppe hinauf, und wir kamen in einen zweiten Flur, in dem noch mehr Wäschekörbe standen. Robins Zimmer lag am Ende des Flurs, hinter einem Bad und einem weiteren Zimmer auf der rechten Seite, in dem ein Kinderbett stand.

Ihr Zimmer war vollgestopft mit Puppen in allen Formen und Größen. »Heiliger Strohsack«, sagte ich, »du hast aber viele Puppen.«

»Ich stell sie dir vor«, sagte Robin. Sie hielt jede einzelne hoch und nannte mir ihren Namen. Ich erwiderte: »Freut mich, dich kennenzulernen«, gab ihnen die Hand, und wir kicherten.

»Wir könnten Schwestern sein«, schlug ich ihr vor.

Robin sagte: »Einverstanden«, und wir sahen uns an.

»Du kannst mich ja mal besuchen kommen«, sagte ich, und Robin hüpfte vor Freude auf und ab. Dann sagte sie: »Komm, ich bürste dir die Haare.« Sie nahm eine winzige blaue Bürste aus einem glänzenden Plastikpuppenkoffer, der auf ihrem Bett lag, und fuhr damit über meinen Lockenwust. Ihre kleinen Hände kitzelten wie Mottenflügel, als sie mir ein paar Strähnen aus dem Gesicht strich. Dann bürstete ich ihr langes, glattes Haar. Als ich fertig war, sagte ich: »Wir können Daddy und Carlie ja mal fragen, ob du mit zu uns kommen kannst.« Doch wir hatten kaum ihr Zimmer verlassen, da fing Ben unten an zu weinen, und ich hörte laute Männerstimmen und Carlie, die jemanden anschrie. »Komm, wir müssen nachsehen, was da los ist«, sagte ich zu Robin. Ich schlängelte mich durch den Krempel im Flur, lief die Treppe hinunter, schlug einen Haken, um Tigers Krallen zu entgehen, und schlich zur Tür des Wohnzimmers.

Carlies Mutter hielt Ben auf dem Arm, der Mann saß immer noch in seinem Sessel, und Daddy stand neben Carlie, den Arm um ihre Schultern gelegt. Carlie war stocksteif und starrte den Mann im Sessel an.

Der Mann zeigte mit dem Finger auf Carlie und sagte: »Mir ist es egal, ob du uns besuchen kommst. Was mich betrifft, bist du schon lange tot.« Dann wandte er sich wieder dem Boxkampf zu. Carlies Mutter trug Ben aus dem Zimmer.

»Da irrst du dich, du alter Scheißkerl«, sagte Carlie zu dem Sesselrücken. »Ich habe überhaupt erst angefangen zu leben, seit ich von hier weg bin.« Ihre Stimme war halb Schluchzen, halb Fauchen. »Mir reicht’s. Ich komme nie wieder.« Damit machte sie kehrt und verließ das Haus.

Ich zögerte, ließ mich dann aber von Robin in die Küche ziehen. Carlies Mutter stand vor dem Herd, den Kopf gesenkt, die Arme wie zum Festhalten an den Seiten abgestützt. Ben umklammerte ihr Bein.

Daddy kam in die Küche und sagte: »Komm, Florine.« Er beugte sich zu mir herunter, und ich ließ Robins Hand los, als er mich hochhob.

»Es war nett, Sie kennenzulernen, Mrs. Collins«, sagte er.

Carlies Mutter nahm ein zusammengeknülltes Papiertuch aus ihrer Schürzentasche und wischte sich damit über die Augen. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir leid.«

»Sie können uns jederzeit besuchen kommen«, sagte Daddy. »Es wird Ihnen gefallen. Wir fahren mal mit dem Boot raus. Und bringen Sie die Kinder mit.«

»Wir werden es versuchen«, sagte Carlies Mutter.

Doch sie kamen nie. Ich dachte an Robin und malte sie auf Papier, mit ihren Augen und ihren Haaren und den Kleidern, die sie an dem Tag angehabt hatte. Kurze Zeit nach dem Besuch fragte ich Carlie, ob ich ihr einen Brief schreiben dürfe. Ich schickte ihr ein Bild von uns beiden in ihrem Zimmer, umgeben von Puppen. Ich bekam nie eine Antwort von ihr.

Als Carlie verschwand, war ihre Familie keine Hilfe. Denn wie Carlies Vater zu seiner einzigen Tochter gesagt hatte: »Was mich betrifft, bist du schon lange tot.«