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Der Mai war ziemlich verregnet, aber am 5. Juni stieg die Temperatur auf zwanzig Grad, und von da an schien fast jeden Tag die Sonne. Morgens rutschte ich nach unten und humpelte in die Küche, um mir Frühstück zu machen. Dann setzte ich mich auf die Veranda und sah zu, wie das Wasser in der Bucht von trübem Grün zu dem leuchtenden Blau wechselte, das den Sommer ankündigte. Und zum ersten Mal seit Jahren spürte ich so etwas wie Hoffnung. Die Mühsal meines schweren Gipses und das Wissen, dass ich beinahe mein Leben verloren hätte, wurden von Freude überlagert, wenn ich das leise Tuckern des Fairlane am Haus vorbeiziehen hörte. Ich wusste auf die Minute genau, wann Bud den Motor startete, und in der Frühe, nachdem ich die Augen aufgeschlagen hatte, blickte ich auf das verschlafene Morgenlicht an der Decke über meinem Bett und wartete auf das Geräusch. Er hupte jetzt immer, bevor er aufs Gas trat und die Straße hinauffuhr. Nach dem Hupen stand ich auf. Wenn Stella morgens vorbeikam, war ich bereits gewaschen, gefüttert und startklar für den Tag. Und wenn Daddy nachmittags nach mir sah, war ich entweder mit Stricken beschäftigt oder kochte mir etwas zum Abendessen. Sie hörten auf, sich um mich zu sorgen, wie ich es ihnen gesagt hatte.
Ich verbrachte meine Tage damit, so gut es ging aufzuräumen, bei Ray Lebensmittel zu bestellen und Pullover zu stricken. Wenn der Sommer kam, mit seinen Festen und dem neuen Kunsthandwerkermarkt, der zur Feier des 4. Juli in Long Reach stattfinden sollte, würde ich bereit sein.
Jeden Tag gegen ein Uhr beschleunigte sich mein Herzschlag, und meine Ohren lauschten in dem Gemisch aus Möwen, Wind, Booten und rappelnden Pick-ups nach dem vertrauten Tuckern. Diesmal hielt es vor meiner Tür, und Bud kam herein und brachte mir die Lebensmittel. Nachdem er sie weggeräumt hatte, setzten wir uns auf die Veranda, schauten hinaus aufs Meer und redeten.
Eines Tages sprach er darüber, warum er kein Hummerfischer werden wollte. »Die Arbeit ist zu hart. Jesses, hast du dir unsere Alten mal genauer angesehen? Nein, ich werde Automechaniker.«
»Und was sagt Susan dazu?«, fragte ich.
»Sie hat damit kein Problem.«
Wir beobachteten zwei Möwen, die sich von den Luftströmungen über dem Wasser tragen ließen. Erst stieg die eine auf, dann die andere, immer im Wechsel.
»Warum magst du Susan eigentlich?«, fragte ich.
Er runzelte die Stirn. »Was meinst du damit? Warum sollte ich sie nicht mögen?«
Vorsichtig ruderte ich ein Stück zurück. »Sie ist hübsch, sie ist nett und witzig. Ich frage mich einfach nur, was Leute dazu bringt, sich zu mögen.«
»Keine Ahnung. Manchmal denkst du echt komische Sachen.«
Ich lachte. »Ich bin verrückt, das weißt du doch.«
Die Möwen segelten jetzt nebeneinander, getragen vom Wind. Ich dachte, wie schön es wäre, wenn wir das auch könnten.
Dann sagte Bud: »Ich weiß nicht, wie sie gerade auf mich gekommen ist. Sie hätte jeden haben können. Aber sie wollte mich. Sie gibt mir das Gefühl, klüger zu sein, als ich bin. Sie gibt mir den Glauben daran, dass ich es zu etwas bringen kann. Sie glaubt, dass ich etwas Besonderes bin.«
Eine der beiden Möwen stieg ein Stück höher auf, wendete und glitt am Hafen vorbei hinunter zur Bucht. Die andere schwebte noch einen Moment auf ihrer Strömung, dann flog sie in eine andere Richtung davon.
»Ich weiß, dass du etwas Besonderes bist«, sagte ich leise. »Ich glaube es nicht nur.«
Lächelnd stand Bud auf. »Du bist meine älteste Freundin«, sagte er. »Wir kennen uns schon sehr lange. Natürlich denkst du so über mich. Ich tue das umgekehrt auch.« Er klopfte mir auf die Schulter und ging.
Am Wochenende bastelte er bei sich in der Einfahrt an seinem Fairlane herum. Ich liebte es, in der Küche zu sitzen, aus dem Fenster zu sehen und seinen schmalen Hintern zu betrachten, wenn er sich über den Motor beugte. Ich beobachtete ihn so lange, wie er da draußen war. Ich konnte mir keine schönere Beschäftigung vorstellen.
Susan hatte sich zwei Wochen lang nicht blicken lassen. Bud sagte, sie müsse viel für ihre Abschlussprüfungen lernen. »Vermisst du sie?«, fragte ich ihn und hoffte, er würde »Nein« sagen und über mich herfallen.
»Ich würd sie gern öfter sehen. Aber sie muss tun, was zu tun ist.« Er klang stolz, als er das sagte. Sie würde in Farmington aufs College gehen, genau wie Dottie, die es tatsächlich geschafft hatte, zweifellos aufgrund von Madelines Entschlossenheit. Dottie hatte mir schon von der Bowlingbahn dort erzählt.
Glen hatte sich wirklich dazu entschlossen, nach Vietnam zu gehen. Die Vorstellung machte mich traurig, aber der Entschluss stand wie immer unverrückbar in seine Stirn gemeißelt. Ich hoffte, er würde sich aus dem größten Ärger heraushalten, um irgendwann zu Evie Butts zurückzukehren. Evie war zwar erst vierzehn, aber schon eine richtige Schönheit, und Glen war verrückt nach ihr.
»Madeline flippt total aus«, sagte Dottie. »Glen hat ihr geschworen, dass er Evie nicht anrührt, bis sie erwachsen ist. Er meint, bis er zurückkommt, hat sie das richtige Alter für ihn.«
»Meinst du, er wartet so lange?«, fragte ich.
»Wenn er seine Eier behalten will, dann ja. Ach du Scheiße! Er könnte mein Schwager werden.«
»Du hast doch immer gesagt, er und Bud wären wie Brüder für uns.«
»Hab ich das gesagt? Nutze jede Gelegenheit, deine Klappe zu halten - das sollte mein Motto werden.«
Angesichts all dieser Planungen fing ich ebenfalls an, ein paar Pläne zu schmieden. Ich nahm mir vor, Petunia aus dem Schuppen zu holen und Autofahren zu lernen. Vielleicht würde Bud es mir beibringen. Dann könnte ich nach Long Reach fahren und mir dort einen Job suchen. Damit hatte ich drei Ziele. Erstens: Autofahren lernen. Zweitens: einen Job finden. Drittens: Bud heiraten.
Der Unfall und die lange Zeit, in der ich im Bett liegen musste und nicht viel anderes tun konnte als nachdenken, hatten mich verändert. Mittlerweile fand ich, dass Stella recht gehabt hatte mit ihrer Bemerkung, dass man sich nehmen musste, was man vom Leben wollte. Eine gewisse Entschlossenheit hatte sich in mir eingenistet und vieles klarer gemacht. Dass Bud nicht frei war, kümmerte mich nicht mehr. Ich wusste, dass wir irgendwann und irgendwie zusammenkommen würden. Susan war Geschichte. Sie wusste es nur noch nicht.
Ich fragte mich, ob sie eine Art Radar besaß, denn plötzlich tauchte sie wieder auf. Eines Nachmittags, als Bud mir die Lebensmittel brachte, die ich bei Ray bestellt hatte, war sie bei ihm.
Sie war schlanker und hübscher, als ich sie in Erinnerung hatte, ganz strahlendes Lächeln und glänzendes Haar. Bud stellte die Lebensmittel vor mich auf den Küchentisch, Susan legte den Arm um seine Taille, und beide schauten mich an.
»Wie geht’s dir?«, fragte Susan.
»Gut, vielen Dank.«
»Du siehst auch gut aus.« Ihre Augen verengten sich, wie bei einer Katze, kurz bevor sie springt. Und da wusste ich, dass sie es wusste. »Kommt der Gips bald ab?«, fragte sie.
»Ja.«
»Da bist du doch bestimmt froh, wenn du keine Hilfe mehr brauchst.«
»Ich komme schon klar«, sagte ich. Dann verengte ich meine Augen. Und sie wusste, dass ich wusste, dass sie es wusste. Und sie wusste, dass es mir egal war.
Bis Ende Juni setzte sie sich in einen Liegestuhl neben die Einfahrt und las, während Bud an seinem Wagen herumschraubte. Sie trug superkurze Shorts, obwohl es noch nicht warm genug dafür war, und band ihre Bluse unter der Brust zu einem Knoten, sodass ihr Bauch, ihr Rücken und ihre kurvigen Flanken zu sehen waren. Ab und zu streckte sie sich, und dabei schaute sie immer in meine Richtung. Ich weiß nicht, ob sie mich sah, aber nach diesem Blick tat sie immer etwas Demonstratives, strich etwa Bud über die Rückseite seines Schenkels und ließ die Hand auf seinem Hintern liegen. Manchmal kam er dann unter der Motorhaube hervor und gab ihr einen langen, innigen Kuss. Aber das störte mich nicht. Es hatte nichts mit meiner Zukunft zu tun.
Ende Juni kam der Gips ab, und ich machte mich daran, wieder normal gehen zu lernen. Mein Bein war schwach, aber mein Wille war stark, und obwohl ich hinkte, ließ ich nicht locker. Ich machte einen gründlichen Hausputz und fing an, mich um den Garten zu kümmern, wenn ich nicht gerade Bud zusah.
Eines Sonntagnachmittags, nachdem Susan mal wieder die Hand auf Buds Pobacke gelegt und im Austausch einen Zungenkuss bekommen hatte, sah ich zu meiner Überraschung, wie sie sich umwandte und auf Grands Haus zukam. Sie marschierte ohne Umschweife in die Küche und baute sich vor mir auf, das hübsche Gesicht von ihrem langen Haar umrahmt. »Florine«, sagte sie. »Was soll das?«
»Was meinst du?«
»Warum beobachtest du uns?«
»Mir gefällt die Aussicht«, sagte ich und lächelte.
Sie strich ihr Haar zurück. »Okay, das ist ja nichts Neues. Also, ich muss jetzt mal was sagen, und ich hoffe, ich verletze dich damit nicht. Bud ist sehr nett zu dir gewesen, und das ist auch einer der Gründe, warum ich ihn liebe. Aber ich hoffe, du bildest dir nicht ein, dass hinter seiner Nettigkeit mehr steckt.«
»Ich bilde mir nichts ein.«
»Gut«, sagte Susan. »Ich weiß, ich war selten hier, aber wir sind definitiv zusammen.«
»Dann sollte es dir nichts ausmachen, wenn ich euer Glück bewundere.«
»Um ehrlich zu sein, ist mir das unheimlich.«
»Warum? Ich sehe doch nicht dich an.«
»Willst du damit sagen, du siehst dir nur Bud an?«
»Ja«, sagte ich. »Findest du ihn nicht sehenswert?«
»Doch, natürlich. Schließlich ist er mein Freund.«
»Noch.«
»Was soll das heißen?«
»Nichts gegen dich, aber irgendwann wird er nicht mehr dein Freund sein.«
»Wie kommst du darauf? Wir sind fester zusammen als je zuvor.«
»Wenn du meinst.«
»Ja, das meine ich. Hör mal, ich will ja nicht gemein sein, aber es wird Zeit, dass du dir jemand anders suchst, der dir hilft. Er hat keine Lust mehr dazu. Hat er mir selbst gesagt.«
»Das glaube ich nicht«, sagte ich. »Ich glaube, er kommt gerade erst in Fahrt.«
»Nein«, sagte Susan. »Nein. Er hat mir gesagt, du tust ihm leid. So, jetzt ist es raus.«
»Du tust mir leid.«
»Warum?«
»Weil er mich heiraten wird.«
Susan wurde blass. »Du spinnst.«
»Nein, tu ich nicht«, sagte ich. »Und jetzt solltest du besser gehen.«
Wütend stapfte sie zurück zu Bud und tippte ihm auf den Rücken. Er richtete sich auf, und ich sah, wie sie gestikulierte und in meine Richtung zeigte. Er blickte zum Haus herüber und sah mich aus dem Fenster schauen. Ich winkte und lächelte. Er winkte zurück, aber ohne zu lächeln. Dann schloss er mit einem dumpfen Knall die Motorhaube. Susan kletterte auf den Beifahrersitz des Fairlane, er stieg auf der Fahrerseite ein, und sie fuhren davon. Er hupte nicht, als sie am Haus vorbeikamen.
Aber ich wusste, er würde zurückkommen, denn er liebte mich. Ich würde ihm nur den Weg zeigen müssen. Ich hatte den Schlüssel.
Als er spät am Abend an die Tür klopfte, lag ich mit einem Buch im Bett. Er kam herein, nahm zwei Stufen auf einmal und baute sich mit finsterer Miene im Türrahmen auf.
»Hattet ihr einen schönen Abend?«, fragte ich ihn.
»Susan ist meine Freundin. Finde dich damit ab. Und hör auf, uns anzustarren. Das ist gruselig.«
»Es ist doch nicht verboten, die Aussicht zu genießen, oder? Wir leben an einem sehr schönen Ort, Bud.«
»Florine, wir haben das doch alles schon mal besprochen. Ich dachte, es wäre für dich so in Ordnung.«
»War es auch. Aber die Dinge haben sich geändert.«
»Nicht für mich.Wenn ich wählen müsste, dürfte ich mich nicht mehr mit dir treffen.«
Ich schwang mich aus dem Bett und stellte mich vor Grands Lampe. Das warme, gelbe Licht schien von hinten durch mein Nachthemd, sodass sämtliche Konturen zu sehen waren, das dunkle Dreieck zwischen meinen Schenkeln und meine Brustwarzen. Ich wusste, wie es aussah, weil ich es vorher im Spiegel überprüft hatte.
»Ich glaube nicht, dass du das kannst.«
Seine Augen wanderten über meine Brüste und hinunter zu meinem Bauch. »Jesses …«
Ich beugte mich zum Nachttisch und hielt Petunias Autoschlüssel hoch. »Ich will, dass du mir das Fahren beibringst, Bud.«
»Vielleicht wär’s besser, du fragst Leeman.«
»Wie du meinst«, sagte ich und gähnte. »Ich bin müde.« Ich hob die Arme und zerwuschelte mir das Haar. Wieder wanderten seine Augen über meinen Körper, dann wandte er sich ab und ging hinaus. »Gute Nacht«, rief ich. »Und vielen Dank für all deine Hilfe.«
Er stolperte die Treppe hinunter und durch die Tür. Kurz darauf sprang der Motor des Fairlane an, und Bud tuckerte hinüber zum Haus der Warners.