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Für mein Dinner-Date wählte ich schließlich ein purpurrotes Bauernkleid mit Paisleymuster, das Dottie mir geschenkt hatte, weil es ihr zu eng war. Ich zog eine schwarze Strumpfhose darunter, schlüpfte in Mantel und Winterstiefel, drückte das warme Brot an mich und verließ das Haus. Fernseher und Küchenlampe hatte ich angelassen, damit es so aussah, als wäre ich da. Ich ging durch den Wald, die Taschenlampe auf den vertrauten Weg gerichtet.

Andy kam mir auf dem verschneiten Rasen entgegen. Er reichte mir die Hand und führte mich über die Veranda zur Vorderseite des Hauses. Unsere Schritte hallten dumpf auf den breiten Holzdielen. Andy ließ mich vorgehen und schloss dann die Haustür gegen die Dunkelheit.

Auf einem kleinen Tisch in der Eingangshalle stand eine Petroleumlampe, deren Licht über die dunkle Holzverkleidung an den Wänden flackerte. Eine Treppe, die auf halber Höhe die Richtung wechselte, führte hinauf in den ersten Stock. Ein verstaubter Kristallleuchter hing von der Decke herab wie eine Spinne. Der durchdringende Geruch nach Mottenkugeln brachte mich zum Niesen, und ich stieß eine weiße Atemwolke aus.

»Gesundheit«, sagte Andy.

»Ich weiß, du hältst dich hier irgendwie warm«, sagte ich. »Aber verrat mir noch mal, wie.«

»Oh, ich bin für jeden Härtefall gerüstet. Ich war viermal bei Outward Bound. Ich komme schon zurecht.« Er führte mich zur Küche, wo uns ein sanftes Licht empfing. Mehrere Petroleumlampen erhellten den Raum, und auf dem großen holzbefeuerten Ofen stand ein Topf, in dem etwas vor sich hin kochte.

Als ich Andy das Brot gab, hielt er die Nase daran und sog den Hefeduft ein. »Das halt ich nicht aus«, sagte er. »Kann ich es sofort anschneiden?«

»Tu dir keinen Zwang an.«

Ich hob den Deckel vom Topf. Fleischstücke, Möhren und Kartoffeln schwammen in einer Brühe. »So eine Art Eintopf«, sagte Andy.

»Riecht gut.« Während er das Brot aufschnitt, sah ich mich um. Die Wände in der Küche waren mit dem gleichen dunklen Holz verkleidet wie im Flur. Mit dem weichen, tanzenden Licht fühlte es sich an, als wäre man in einer Höhle.

Andy legte das Brot in einen Korb und stellte ihn auf einen kleinen Holztisch zwischen uns. Er nahm eine Scheibe, riss ein Stück davon ab und schob es sich in den Mund. Er lachte vor Begeisterung.

»Freut mich, dass es so gut ankommt«, sagte ich. »Aber es ist nur Brot. Nichts Besonderes.«

»Manchmal ist einfaches Brot der Himmel auf Erden. Bring es ins Wohnzimmer und stell es auf den Beistelltisch vor dem Feuer«, sagte er. »Heute Morgen habe ich eine Flasche Rotwein im Schrank gefunden. Er steht zusammen mit zwei Gläsern neben dem Kamin. Schenk uns schon mal ein, ich komme gleich nach.«

Der Kamin war so groß und so reichlich bestückt, dass er fast den ganzen Raum beleuchtete. Auf dem dunkelroten Teppich, der davorlag, hatte Andy etliche blau gemusterte Kissen verstreut. Ich zog Mantel und Stiefel aus und setzte mich auf eines davon. Dann schenkte ich den Wein ein und hielt mein Glas vor das Feuer. Rubinrot, wie die Gläser in Grands Vitrine, schimmerte es im Licht der Flammen. Ich prostete mir selbst zu und trank einen Schluck, aber das Zeug war so sauer, dass Grand darin Rote Bete hätte einlegen können. Ich spuckte den Wein zurück ins Glas und leckte mir den Mund aus, um den grässlichen Geschmack loszuwerden.

Als Andy mit einem Tablett hereinkam, auf dem zwei Schalen mit dampfendem Eintopf standen, behielt ich das mit dem Wein für mich, weil ich nicht sicher war, ob er wirklich schlecht war. Ich beschloss zu warten, bis Andy probiert hatte, und einen zweiten Versuch zu wagen, wenn er ihn in Ordnung fand.

Ich zog die Knie an die Brust und betrachtete Andy, während er das Tablett auf den niedrigen Tisch stellte. Er hatte seinen alten Pullover ausgezogen und das rote T-Shirt darunter in die Jeans gesteckt, sodass ich seinen knackigen Po und den flachen Bauch bewundern konnte. Er setzte sich auf eins der Kissen neben mir, griff nach seinem Weinglas und sagte: »Prost. Auf die Erneuerung unserer Bekanntschaft.« Er trank einen kräftigen Schluck, verzog das Gesicht und spuckte den Wein zurück ins Glas.

»Genau das hab ich auch getan«, sagte ich.

»Gütiger Jesus, tut mir leid.«

»Beschwer dich nicht bei Jesus, bring den Wein zurück in den Laden.«

»Staubtrockener Humor«, sagte Andy, so leise, dass ich mich zu ihm beugen musste, um ihn zu verstehen.

Ehe ich wusste, wie mir geschah, lag ich auf dem Boden.

Er legte sich auf mich, und wir küssten uns, bis meine Lippen sich anfühlten wie zwei betrunkene Schnecken. Ich war zu allem bereit, aber Andy hielt inne und setzte sich auf.

»Oh Mann«, sagte er. »Oh Mann.«

»Was ist?«

Er betrachtete mich mit seinen dunklen, glänzenden Augen. »Du. Wahnsinn.«

Wir sahen uns eine Weile schweigend an, lauschten auf unseren Herzschlag, die Stille um uns herum und das Knistern des Feuers. Er legte seinen Zeigefinger auf meine Lippen, und ich nahm ihn in den Mund. Er holte tief Luft und zog seinen Finger zurück. Dann küsste er mich drängend. »Ich will dich«, sagte er. »Aber erst machen wir etwas, was dich umhauen wird.« Er sprang auf und verschwand in der Küche.

Während er weg war, ließ ich den Blick über die gespenstisch verhüllten Möbel wandern. Hier ein behäbiger Polstersessel. Da etwas, das wie ein Schaukelstuhl aussah. Dazwischen ein Couchtisch. Ich stellte mir den Raum an einem Sommerabend vor, gefüllt mit Menschen, die ein Glas in der Hand hielten, Karten spielten oder plauderten. Könnte ich je einer von ihnen sein? Wollte ich das überhaupt?

Andy summte in der Küche schief vor sich hin. Ich stand auf, fuhr mir durchs Haar und strich mein Kleid glatt. Dann warf ich ein paar neue Scheite in das gierige Feuer. Es verschlang knisternd die Splitter, bevor es sich über das eigentliche Holz hermachte. Andy kam zurück, eine dicke selbst gedrehte Zigarette in der Hand. Er grinste. »Hast du schon mal bekifft gevögelt?«

Beinahe hätte ich erwidert: »Ich hab noch nie gevögelt.« Stattdessen sagte ich: »Ich hab noch nie gekifft.«

Er starrte mich mit offenem Mund an und wich einen Schritt zurück, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. »Das gibt’s nicht. Jeder hat schon mal gekifft.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Aber ich probier’s gerne aus. Immer her damit.«

Er zündete den Joint an, und mir stieg ein widerlich süßer Geruch in die Nase. »Puh.«

»Daran gewöhnst du dich«, sagte er. »Zieh den Rauch in die Lunge wie bei einer normalen Zigarette, halte die Luft an, bis es nicht mehr geht, und dann lass ihn raus.«

Ich traute mich nicht, ihm zu sagen, dass ich auch noch nie geraucht hatte. »Okay, ich versuch’s mal.«

Andy nahm einen Zug und hielt den Atem an. Sein Gesicht lief rot an, seine Augen fingen an zu tränen, und zwischen seinen Lippen drang ein leises Wimmern hervor. Er reichte mir den Joint. Ich zog kräftig daran - und dann wälzte ich mich röchelnd auf den Kissen. Meine Lungen bockten und keilten, während sie sich daran zu erinnern versuchten, was ihre eigentliche Aufgabe war. Ich ließ den Joint fallen und griff mir an die brennende Kehle.

»Himmel, wirf ihn doch nicht weg«, sagte Andy und hob hastig den Joint auf.

»Was zum Teufel ist das?«, krächzte ich.

»Das Beste«, sagte er und hielt den Joint, als wäre er ein kostbares Juwel.

»Das Beste wofür? Um jemanden umzubringen?« Ich nippte an dem roten Essigwein, um meine Kehle zu beruhigen, während Andy sich vergewisserte, dass der Joint keine Schäden davongetragen hatte. Er war ausgegangen, aber immer noch prall und keck.

»Alles in Ordnung?«, fragte Andy.

»Alles bestens.«

»Du musst nicht das ganze Ding in einem Zug aufrauchen«, sagte er sanft und zündete den Joint wieder an. »Pass auf.« Er zog sachte daran. »Nur leicht einatmen, und dann die Luft anhalten.«

Wir hatten den Joint schon zur Hälfte aufgeraucht, als mir auffiel, dass Andy wunderschönes Haar hatte. »Mein Gott, dein Haar«, sagte ich und haschte danach wie ein Kätzchen.

Er imitierte mich, und wir fingen an zu lachen. Wir lachten und lachten. Ich kann nicht sagen, ob Stunden vergingen oder nur wenige Minuten, aber es war auch egal. Wir konnten nicht mehr aufhören. Wir rollten und wälzten uns auf dem staubigen Holzfußboden zwischen den Geistermöbeln. Das Kichern schwappte von seinem Körper zu meinem und wieder zurück.

»Ich fühle mich dir so verbunden«, sagte er. Es klang so kitschig, dass ich erneut losprustete.

Dann verschwand die Zeit in einer Nebelbank. Ich weiß nicht, wer von uns anfing, den anderen auszuziehen. Knopf um Knopf, Schicht um Schicht, sanftes Zupfen und Ziehen, bis er nackt auf mir lag und ich seine Brust küsste und den Duft seiner Haut einsog.

»Das ist nicht ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte«, sagte ich.

»Was meinst du damit?«, fragte er. Dann, nach einer kurzen Pause: »Bist du noch Jungfrau?«

»Ja«, sagte ich. »Und du?«

»Nein. Ganz und gar nicht.«

Wir machten kurzen Prozess mit meiner Unschuld. Es tat höllisch weh, aber ich wollte nicht, dass er aufhörte. Ich betrachtete Andys Gesicht. Seine Augen waren geschlossen, der Mund leicht geöffnet, die Stirn in Falten. Als ich sein Gesicht berührte, öffnete er die Augen und lächelte. Sein Blick war voller Sterne, und ich konnte sehen, dass er in einer anderen Welt war.

»Alles in Ordnung?«, flüsterte er.

Ich nickte, und er küsste mich, dann stützte er sich auf und zog sich aus mir zurück. Ich sehnte mich danach, ihn wieder in mir zu spüren, aber er hockte sich auf seine Fersen, zündete den Joint wieder an und nahm einen Zug. »Ich bin von einer, äh, Frau mit Erfahrung in New York entjungfert worden. Hat mir beigebracht, sie an den richtigen Stellen zu berühren. Zum Beispiel hier.« Er legte den Joint weg und berührte mich an dem kleinen Knubbel, der genau in meinem Zentrum saß, mal fest, mal sanft, immer wieder anders, sodass ich nie wusste, was mich als Nächstes erwartete. Und bevor ich wusste, wie mir geschah, kam ich. Ich bäumte mich auf und schrie hinauf zur dunklen Decke. »Warte!« Andy drang in mich ein und schrie kurz darauf ebenfalls auf. Nach ein paar Minuten löste er sich von mir und legte sich neben mich auf die Kissen. Ich strich mit den Fingern über seinen von Gänsehaut überzogenen Rücken.

»Und?«, sagte er.

»Und was?«

Er lächelte. Sein Gesicht war gerötet, seine Haare zerzaust. »Hat’s dir gefallen?«

»Es war gut«, sagte ich. In der Beziehung war ich Daddys Tochter. Was wir gerade getan hatten, war für mich so gewaltig wie das Meer, aber mehr als »gut« würde Andy von mir nicht zu hören bekommen. Außerdem war ich so entspannt, dass ich Mühe hatte, meinen Mund zu bewegen.

»So gut wie noch nie.« Andy lachte und zog zwei Schlafsacke über uns. Kurz danach schlief ich in seinen Armen ein.

Als ich aufwachte, war es so finster wie auf der Rückseite des Mondes. Es war kalt, und ich fragte mich, ob Grands Ofen ausgefallen war. Irgendwo zu meiner Rechten zeichnete sich ein schwacher Lichtschein ab, aber das konnte nicht sein; in Grands Zimmer kam das Licht von der anderen Seite.

Ich wandte den Kopf und sah die matte Glut eines Feuers, und schlagartig fiel mir wieder ein, dass ich mit Andy Barrington in dem Sommerhaus war, das wir beinahe abgefackelt hätten. Einen Atemzug später ging mir auf, dass ich keine Jungfrau mehr war, dass es zwischen meinen Beinen wehtat und dass ich höllische Kopfschmerzen hatte. Meine Schenkel waren lahm, und mein Gesicht brannte von Andys Küssen.

Ich war durstig und hungrig, aber bei der Vorstellung, diesen scheußlichen Wein zu trinken und kalten, fettigen Eintopf zu essen, drehte sich mir der Magen um. Ich wollte ein großes Glas Wasser und einen Teller warme Hafergrütze mit Honig. Auch wenn es mitten in der Nacht war, der Drang, mich zu waschen, etwas zu essen und in meinem eigenen Bett aufzuwachen, war stärker als der Nachhall einer romantischen Nacht.

Als ich aufstand, lief etwas Warmes an meinen Beinen hinunter. Ich tastete unter dem Schlafsack nach meiner Unterhose und zog sie rasch an. Mein Kleid lag am Kopfende unseres Lagers, und auch die Strumpfhose war nicht weit. Nachdem ich mich angezogen hatte, legte ich die beiden letzten Scheite in die Glut und gab noch ein paar Zweige und trockenes Moos dazu. Es würde nicht lange vorhalten, aber Andy, der fest schlief und sich nicht rührte, würde schon zurechtkommen. Er schien zu wissen, was er tat.

Als das Feuer wieder in Gang kam, entdeckte ich auch meinen Mantel und meine Stiefel an der anderen Seite des Raumes, in der Nähe der Tür, die zu der großen Eingangshalle führte. Ich kniete mich hin, küsste Andy aufs Haar und ging auf Zehenspitzen hinaus. Ich schlüpfte in die Dunkelheit der Nacht und lief im Schein der Taschenlampe den verschneiten Waldweg entlang. Den Mantel eng um mich gezogen, eilte ich über die Spuren, die ich, noch als Jungfrau, auf dem Weg hierher hinterlassen hatte. Der kleine Ausflug ins Paradies, den ich erst vor wenigen Stunden erlebt hatte, verblasste rasch. Abgesehen von den Schmerzen in und zwischen meinen Beinen fühlte meine Kehle sich an wie mit Asche und Pech überzogen. Wörter wie Wasser, Badewanne und Bett kreisten mir durch den Kopf, während ich vorwärtseilte.

Doch plötzlich spürte ich mit aller Macht Carlies Gegenwart, und ich blieb wie angewurzelt stehen.

Das Gefühl ihrer Anwesenheit war so stark, dass ich leise ihren Namen rief. Ich leuchtete mit der Taschenlampe um mich herum. Die Vorstellung, dass sie auf mich zukommen würde, machte mir Angst, weckte aber auch den kleinen Rest Hoffnung, den ich immer noch in mir trug. Der Einzige, der antwortete, war der Wind, aber ich beschloss, trotzdem mit ihr zu reden. »Ich vermisse dich, Mutter«, flüsterte ich. »Ich bin nicht mehr deine kleine Verbrecherin, aber ich vermisse dich noch genauso wie damals.« Dann, wie ein Seufzer nach dem Luftanhalten, ließ die Sehnsucht so weit nach, dass ich mich wieder bewegen konnte. Am ganzen Körper zitternd, ging ich weiter. Ich wollte nur noch schlafen.

Alle Fenster in The Point waren dunkel - außer meinen -, aber ich war sicher, dass mich jemand beobachtete. Am nächsten Morgen würde jeder im Ort wissen, dass Florine Gilham erst mitten in der Nacht nach Hause gekommen war. Ich schaltete den Fernseher aus, trank zwei volle Gläser Wasser, machte mir eine Portion Hafergrütze und aß sie hastig, während ich auf dem Heizungsrost im Wohnzimmer stand und mir die wohltuende Wärme unter das Kleid steigen ließ.

Die Nacht umwirbelte mich in einem wirren Gemisch von Geschmäckern und Gerüchen, während ich mir ein Bad einlaufen ließ. Immer wieder döste ich ein, bis ich hörte, wie ein Auto angelassen wurde, und begriff, dass es für alle braven Kinder Zeit war, zur Schule zu gehen. Vor Müdigkeit taumelnd verließ ich das Bad, hängte Andy, Carlie, Grand und alles andere, was mir durch den Kopf ging, an den Bettpfosten und versank in tiefem Schlaf.