15

 

Am Neujahrstag wurden Dottie und ich gegen neun Uhr wach. Wir standen auf und schoben die Bierflaschen beiseite, damit wir uns und Evie Frühstück machen konnten. Evies schwarze Locken tanzten im trüben Winterlicht, während sie ihre Cornflakes aß. In ihrem kleinen, herzförmigen Gesicht leuchteten rosige Wangen und tiefrote Lippen. Aus ihr würde mal eine Schönheit werden, was man von Dottie und mir nicht behaupten konnte. Ich mit meinem langweiligen Durchschnittsgesicht und Dottie mit ihrer Bretterbudenfigur. Was würde aus uns werden?, fragte ich mich plötzlich.

»Wie wär’s mit einem Zeichentrickfilm?«, fragte Dottie.

»Nein«, sagte ich. »Heute ist Rotes-Glas-Tag.«

Jedes Jahr am ersten Januar putzten Grand und ich das rubinrote Glasgeschirr, und sie erzählte mir dabei die Geschichte ihrer Mutter Emma, die als Waisenkind in Boston aufgewachsen war und für ein paar Penny auf der Straße getanzt hatte. Irgendwie war sie von dort zu Verwandten nach Spruce Point verschifft worden. Sie heiratete Harold Morse, der fünfundzwanzig Jahre älter war als sie. Er zog mit ihr nach The Point, und Emma bekam vier Kinder, wovon drei bei einer Grippeepidemie starben. Grand kam erst nach der Epidemie zur Welt. Als sie sechs war, starb ihr Vater im Alter von sechzig Jahren an seinem Geiz.

Harold ließ Emma mittellos zurück, und so beschloss sie, das Haus zu verkaufen, in die Stadt zu ziehen und sich Arbeit als Haushälterin zu suchen. Doch eines Tages, als Grand unter dem Bett ihrer Eltern Verstecken spielte, bemerkte sie ein Stück grünes Papier, das aus einem kleinen Riss an der Unterseite der Matratze hervorschaute. Sie zog eine ganze Handvoll davon heraus und zeigte es ihrer Mutter, weil sie es hübsch fand.

Wie sich herausstellte, hatte Harold die Matratze mit Zehnern, Zwanzigern und auch etlichen Fünfzigdollarscheinen gefüllt, die Emma sofort zu einer Bank in Long Reach brachte. Harold war Fischer gewesen, und nur der Teufel wusste, woher er das viele Geld hatte, sagte Grand, aber das war nicht wichtig. Es hatte ausgereicht, um Emma und Grand ein komfortables Leben zu ermöglichen, bis Grand zwölf Jahre später Franklin Gilham heiratete. Emma hatte bis zu ihrem Tod bei ihnen gelebt.

Grand hatte die Sparsamkeit ihres Vaters geerbt und sich ebenfalls ein kleines Polster geschaffen, um sicher zu sein, dass sie bis ins hohe Alter über die Runden kam. Sie brauchte nicht mehr als das, was sie besaß. Sie hatte ihre Lieblingsdinge um sich, und sie hatte ihren Garten. Ich freute mich schon wieder auf den Sommer, wenn ich meine Nase in ihre Pfingstrosen stecken konnte, um den Duft bis in mein Herz zu saugen. Genau daran dachte ich auf dem Weg von Dottie zu Grand, als ich plötzlich Stella mit ihrem Schmortopf unsere verschneite Einfahrt runterkommen sah.

Als sie mich erblickte, wurde ihr Gesicht so rot wie die Pfingstrose, die ich mir gerade vorgestellt hatte. »Frohes neues Jahr, Florine«, sagte sie. »Hast du dich bei Dottie gut amüsiert?«

Ich konterte sofort. »Und du, hast du dich bei Daddy gut amüsiert?«

Sie drückte den Topf mit der einen Hand gegen ihren grünen Wollmantel, während sie mit der anderen den Kragen gegen den kalten Januarwind hochschlug. »Es war ein sehr schöner Abend«, sagte sie und sah mir dabei direkt in die Augen.

»Bist du über Nacht geblieben?«

Sie holte tief Luft und stieß eine frostige Atemwolke aus. »Ja, bin ich.«

»Daddy ist ein verheirateter Mann«, sagte ich mit vor Empörung bebender Stimme.

»Aber er ist auch ein einsamer Mann, Florine. Nur weil er mal eine Nacht nicht allein sein wollte, heißt das noch lange nicht, dass er deine Mutter nicht liebt«, sagte Stella. »Willst du, dass er einsam ist?«

»Lieber einsam als mit dir.«

Stellas Narbe verfärbte sich dunkelrot. »Ich möchte, dass wir Freunde sind.«

»Warum? Das wolltest du doch früher nicht.«

Mit ihrer Stiefelspitze hob sie ein wenig Schnee auf und schüttelte ihn dann wieder ab. »Frohes neues Jahr, Florine«, sagte sie noch einmal. »Bis bald.« Damit wandte sie sich um und ging die Straße hinunter. Sie wackelte mit dem Hintern wie eine Katze, die von der Sahne genascht hat. Und nicht nur davon.

»Und kochen kannst du auch nicht«, brüllte ich, obwohl wir beide wussten, dass das nicht stimmte. Wütend stapfte ich in Grands Haus und knallte die Tür hinter mir zu.

Grand trug gerade die rote Glaskaraffe von der Vitrine in die Küche. »Meine Güte, Florine, musst du denn so einen Krach machen?«

»Stella hat die Nacht bei Daddy verbracht«, rief ich.

»Immer mit der Ruhe. Setz dich, und ich stelle erst mal die Karaffe weg, bevor sie noch kaputtgeht.«

Stocksteif setzte ich mich aufs Sofa. Meine Knie zitterten vor Erregung. Wie konnte sie nur? Wie konnte er nur? Daddy hatte Carlie und mich wegen einer mageren, narbengesichtigen Schlampe verlassen. Am liebsten hätte ich sie alle beide umgebracht.

»Gib mir deinen Mantel«, sagte Grand. Ich schälte mich heraus, und sie hängte ihn an einen Haken im Flur. Dann setzte sie sich zu mir.

»Also, was ist passiert?«, fragte sie.

»Ich war gerade auf dem Weg hierher, und da hab ich gesehen, wie Stella aus unserem Haus kam. Sie hat gesagt, sie war die Nacht über bei Daddy. Sie haben es getan, Grand, ich weiß es ganz genau.«

»Was haben sie getan? Oh. Ach, du lieber Himmel.«

»Das können sie nicht machen, Grand. Daddy ist mit Carlie verheiratet.«

»Ist ja gut, ist ja gut«, sagte Grand. »Jetzt beruhige dich erst mal ein bisschen.«

Ich versuchte es, aber dann schlugen meine Fäuste auf meine Oberschenkel, als wollten sie sie platt klopfen, und ich brüllte: »Ich will sie nicht bei Daddy haben. Wie konnte er Carlie und mir das antun?«

Grand hielt meine Hände fest und sagte: »Ich weiß es nicht, Kleines. Ich nehme an, er ist ziemlich durcheinander.«

»Rede mit Daddy. Sag ihm, dass er das nicht machen kann. Sag ihm, dass Jesus was dagegen hat.«

»Florine, so etwas tue ich nicht. Ich würde niemals Jesus benutzen, um jemandem zu drohen.«

Ich entzog ihr meine Hände und stand auf. Ich lief auf und ab, ich brauchte irgendeine Beschäftigung. Dann fiel mir wieder ein, weshalb ich gekommen war. Ich ging zur Vitrine, nahm das Herz vom mittleren Regal und steuerte damit auf die Küche zu.

»Nicht heute, Florine«, sagte Grand. »Du bist zu aufgebracht. Du könntest etwas kaputt machen, und dann würden wir uns beide schlecht fühlen.«

»Dein blödes Glas ist also wichtiger als ich?«, schrie ich. Ich rannte aus dem Haus, über die Straße und den Weg hinauf, der aus unserem Garten zu den Cheeks führte. Ich kletterte über die Felsen und watete durch kniehohen Schnee in den Wald. Allein in der kalten Verlassenheit des Naturschutzgebiets, stapfte ich auf die Klippen zu. Ein schneidender Wind wehte mir vom Meer entgegen. Die alten Kiefern bogen sich ächzend, nach Luft ringend wie ein verletzter Elch, als ich mich an ihnen vorbeikämpfte. Mir war kalt, aber ich wollte ums Verrecken nicht umkehren, um meinen Mantel zu holen. Ich rutschte auf einer vereisten Stelle aus, fiel auf den Bauch, und das kleine Herz glitt mir aus der Hand. Fluchend suchte ich im Schnee danach, fand es und drückte es an mich. Schließlich kam ich zu der Stelle, wo das Meer unablässig mit einem rasselnden Fauchen gegen die steilen Granitfelsen donnerte. Die Gischt bedeckte mein Gesicht mit eisigen Küssen.

Ich schrie all meinen Zorn, meine Trauer und meinen Schmerz hinaus in die Winterhölle aus tobendem Wasser und peitschendem Wind. »MUTTER«, brüllte ich, »komm zurück! SOFORT!«

Doch das Meer und die Felsen führten ungerührt ihren eisigen Kampf fort. In meiner Verzweiflung rief ich: »Hier!

Jetzt gib sie mir zurück!«, und warf das rubinrote Herz in die eisblaue See. Ich schwöre, kurz bevor es auf die Wasseroberfläche traf und verschwand, sah ich einen Funken aufsprühen.

Und dann war Carlie bei mir. Von Kopf bis Fuß umfing mich wohlige Wärme, als meine Mutter mich in die Arme schloss. Ich roch ihr Parfüm und drückte meine Nase in ihr Haar. Da waren wir, ganz für uns allein in einem kleinen leuchtenden Kreis aus Wärme. Love me sweet, never let me go sangen wir, und von mir aus hätte es damit enden können.

Doch plötzlich war Glen da und warf seinen dicken, gefütterten Jagdanorak über mich.

»Los, komm, Florine«, sagte er. Ich sah auf und lächelte ihn und Bud und Dottie an.

»Seht ihr? Ich hab sie gefunden«, sagte ich, während Carlie mich fester an sich drückte.

»Florine, verdammt noch mal, deine Lippen sind ganz blau«, sagte Dottie. »Wo ist dein Mantel?«

»Kannst du aufstehen?«, fragte Bud. Ich blickte an mir hinunter und sah überrascht, dass ich auf den kalten Felsen saß. »Ich will gar nicht aufstehen«, sagte ich. »Seht ihr denn nicht, dass sie hier ist?«

»Herrgott noch mal, Glen, heb sie hoch«, sagte Dottie. »Sie ist völlig unterkühlt.«

Glen schwang mich über seine Schulter und schleppte mich durch den Wald zurück nach Hause, obwohl das der letzte Ort war, wo ich hinwollte. Ich versuchte, Carlie festzuhalten, doch sie entglitt mir zusehends, während Dottie immer wieder brüllte: »Nicht einschlafen! Bleib wach! Nicht einschlafen …«

Irgendwann wachte ich in meinem Bett wieder auf. Es musste wohl gegen Nachmittag oder Abend sein, aber nachsehen konnte ich nicht, weil meine Augen sich anfühlten, als hätte jemand Ziegelsteine daraufgelegt. Grand war in der Küche und sprach mit Daddy.

»Florine verkraftet es noch nicht, dass du was mit jemand anderem anfängst. Sie ist eine einzige klaffende Wunde. Sie ist verdammt zäh, aber sie ist auch ein Mädchen, das seine Mutter verloren hat.«

»Das Letzte, was ich will, ist, meiner Kleinen wehzutun. Wenn ich gewusst hätte, wie schlimm das für sie ist, hätte ich’s natürlich nicht gemacht«, sagte Daddy. »Aber, Ma, es kommt mir vor, als würde ich in der Hölle leben. Es hat gutgetan, für eine Nacht ein bisschen Trost zu bekommen. Ist das denn so schlimm?«

»Was denkst du?«, fragte Grand. Danach herrschte Schweigen, wahrscheinlich weil Daddy überlegte. Grand sagte: »Vielleicht kommt Carlie zurück. Und selbst wenn nicht, muss Florine das erst mal mit dem Verstand und dem Herzen begreifen.«

Darauf sagte Daddy mit einer Stimme, die so tief war, dass sie über den Boden zu schleifen schien: »Ma, Carlie kommt nicht zurück. Ich kann nichts mehr tun. Ich hasse es, Parker und die anderen anzurufen. Und sie hassen es, dass sie mir nichts berichten können. Verdammt, wir drehen uns im Kreis. Ich habe diese Frau mehr geliebt, als ich sagen kann, und wenn sie wieder durch diese Tür käme, würde ich sie mit einem Feuerwerk empfangen. Aber, Ma, sie kommt nicht zurück. Und ich kann einfach nicht mehr.« Er weinte eine Weile, und ich hörte Grands »Schhh, ist ja gut« und konnte mir vorstellen, wie sie ihm über den Rücken strich.

Eine Weile später spürte ich seine klamme, schwere Hand auf meiner Stirn. Ich zwang meine Lider auseinander und sah in seine besorgten blauen Augen. Dann drehte ich mich zur Wand.

»Lass mich allein«, sagte ich.