19
Carlie kam in diesem Sommer nicht zurück. Der Jahrestag ihres Verschwindens traf mich wie ein Stein ins Herz. Daddy nahm mich während der letzten beiden Wochen vor Schulbeginn mit aufs Boot, zusammen mit Sam. Ich half bei den Ködern, steuerte das Boot oder schob den Hummern Keile zwischen die Scheren, und manchmal saß ich einfach nur da und sah hinaus aufs Wasser. Die wortlose Gesellschaft dieser beiden vertrauten Männer beruhigte mich. Während wir die Tage dort draußen verbrachten, suchte Grand ein paar von Carlies alten Kleidern heraus und nähte mir zusammen mit Ida einen wunderschönen Quilt. Ich wickelte mich abends darin ein und schlief so gut wie lange nicht mehr.
Nach den Sommerferien 1964 brach für uns das letzte Jahr in der kleinen Dorfschule an. Ab dem Herbst 1965 würden wir in Long Reach die Junior Highschool besuchen. Wir gingen durch die Flure unserer zusammengeschrumpften Schule und hatten Mühe, unser herausgewachsenes Ich der Enge anzupassen.
Im Januar begannen die Gerüchte um Germaine, Glens Mutter. Alle wussten, dass sie seit fünf Jahren von Ray getrennt war. Alle wussten, dass sie in der Stadt wohnte, zusammen mit einer anderen Frau, Sarah. Aber wer es wagte, Glen gegenüber anzudeuten, seine Mutter wäre eine Lesbe, riskierte eine gebrochene Nase.
»Das ist sie nicht«, sagte Glen abends auf der Heimfahrt im Bus zu mir. Dicke Tränen kullerten über sein Mondgesicht. Ich bemerkte, dass sich ein paar Pickel rund um sein Kinn eingenistet hatten.
»Ist doch egal, ob sie’s ist oder nicht«, sagte ich. »Lass dich von denen nicht fertigmachen.«
»Ich bringe jeden um, der das behauptet«, sagte er.
An dem Abend kam Dottie zum Essen. Nachdem wir den Tisch gedeckt hatten, setzten wir uns in mein Zimmer und warteten darauf, dass Grand uns rief. Es gab Thunfisch-Nudelauflauf, eines von Dotties Lieblingsgerichten. Grand saß im Wohnzimmer und summte, während die Nachrichten aus dem Fernseher dröhnten.
»Sie wird allmählich schwerhörig«, sagte ich zu Dottie.
»Wenn’s nichts Schlimmeres ist. Ich wünschte, ich hätte noch eine Großmutter.«
Dotties Großeltern waren allesamt noch vor ihrer Geburt gestorben. Dieses Leben war hart für alte Leute. Grand war die Letzte aus ihrer Generation, die noch in The Point lebte.
»Meinst du, Grand weiß, was eine Lesbe ist?«, fragte ich Dottie.
»Ich bin ja nicht mal sicher, ob ich es weiß«, sagte sie. »Ich überleg schon die ganze Zeit, was da wohin kommt und wer was macht.«
»Kommt runter, ihr zwei«, rief Grand.
Auf der Treppe sagte ich zu Dottie: »Ich frag sie. Mal gucken, was sie sagt.«
»Vielleicht besser nicht«, meinte Dottie.
Während des Abendessens fragte ich: »Grand, weißt du, was eine Lesbe ist?«
»Eine was?«, sagte Grand. »Eine Lesbe? Nein, ich glaube nicht.«
»Die Leute in der Schule sagen, Glens Mutter wäre eine Lesbe.«
»Nein, das stimmt nicht. Sie ist eine Whitehead, aus Georgetown. Ich kannte ihre Mutter.«
Dottie schaute auf ihren Teller, als wäre der Auflauf das Interessanteste, was ihr je vorgesetzt worden war. Ihre Augenbrauen zuckten, ein sicheres Zeichen, dass sie kurz vor einem Lachanfall war.
»Nein, Grand«, sagte ich. »Die Leute meinen damit, dass Glens Mutter Frauen mag.«
Grand nahm sich noch einen Löffel vom Auflauf. »Was ist denn falsch daran, wenn Germaine Frauen mag?« Sie sah mich mit einem Blick voller Fragen an. Wahrscheinlich hätte ich da aufhören sollen, doch Grand sagte erneut: »Was ist falsch daran?«
Dottie fischte die Erbsen aus dem Auflauf und schob sie an den Tellerrand.
»Nichts«, sagte ich. »Aber ich dachte, Frauen sollen Männer mögen, nicht Frauen.«
Grand schwenkte drohend ihren Löffel in meine Richtung. »Jetzt hör mir mal gut zu. Und du auch, Dorothea. Das Leben ist zu kurz, um sich Gedanken darum zu machen, was andere Leute denken. Und ich habe eine Frage an euch. Tut Germaine euch damit weh, was sie mag oder tut?«
»Nein«, sagte ich. »Ich hab mich nur gefragt -«
»Was ist mit dir, Dorothea? Tut sie dir damit weh?«
»Nein«, sagte sie. »Es ist mir ganz egal.«
»Gut, denn es geht euch nichts an. Es geht niemanden etwas an. Jesus kümmert es nicht, wer was mag oder tut, solange die Menschen an ihn glauben und auf ihn hören, wenn es darum geht, einander zu lieben, ganz gleich, was geschieht. Das ist meine Meinung.« Grand stand auf, um den Tisch abzuräumen. »Jesus liebt jeden«, murmelte sie, während sie in der Küche hantierte. »Jeden Einzelnen von uns.«
»Sie hat sich ganz schön aufgeregt«, sagte Dottie zu mir.
»Ja«, sagte ich. »Ich wünschte, ich hätte den Mund gehalten.«
Später, als ich im Bett lag, in diesem Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen, sah ich Jesus, wie er über den verlassenen Mulgully Beach ging. Ich lief hinter ihm her, um mich zu ihm zu gesellen, und wir kamen zu dem Felsen, wo Carlie und ich an dem Tag gesessen hatten, an dem wir mit Patty verabredet waren. Jetzt saß sie auch dort. Sie wandte Jesus und mir den Rücken zu, und ihre helle Haut hob sich von einem schwarzen Badeanzug ab, den ich noch nie an ihr gesehen hatte. Sie blickte übers Meer zu ihrem geliebten Horizont.
Ich blieb stehen, aber Jesus ging weiter. »Carlie?«, sagte ich. Doch sie drehte sich nicht um. Sie schien mich gar nicht gehört zu haben. Als ich mich zu Jesus wandte und ihn bitten wollte, etwas zu tun, damit sie mich hörte, löste er sich in Luft auf, und als ich mich wieder umdrehte, war auch Carlie verschwunden. Ich öffnete die Augen und starrte an die Zimmerdecke. Unten lief immer noch laut der Fernseher.
Ich ging hinunter und setzte mich zu Grand. »Hab schlecht geträumt«, sagte ich.
»Das passiert jedem, Florine«, sagte Grand. »Das passiert jedem.«
»Ich hab dich lieb, Grand.«
»Das ist gut«, sagte sie. »Schließlich müssen wir’s wohl noch eine Weile miteinander aushalten.«
Am nächsten Morgen an der Haltestelle sagte ich zu Glen: »Du solltest froh sein, dass du eine Mutter hast, ganz egal, was sie tut.«
Doch Glen konnte sich nicht damit abfinden, und er weigerte sich, Germaine in der Stadt zu besuchen. Er ging auf jeden los, der aussah, als wollte er ein Wort mit »L« sagen, bis Bud sich ihm an die Fersen heftete, um dafür zu sorgen, dass es keinen Ärger gab.
Als wir am 26. April, Glens Geburtstag, von der Bushaltestelle zu Rays Laden gingen, wartete Germaine draußen vor der Tür. Ich fragte mich manchmal, wie sie und Ray einen so kräftigen Sohn produziert hatten. Germaine war klein und zierlich, mit hellblondem, jungenhaft kurzem Haar. Ray war auch nicht groß. Aber Parker war ein Riese, und vielleicht hatte Ray das an Glen weitergegeben.
Als ich Germaine dort stehen sah, mit der verzweifelten Sehnsucht, von Glen akzeptiert zu werden, packte mich der Neid. Wie oft hatte ich mir in letzter Zeit gewünscht, dass Carlie mich von der Bushaltestelle abholte? Und da stand Germaine, die Frauen mochte und trotzdem von Jesus geliebt wurde, und verzehrte sich nach ihrem Kind. Glen sagte: »Ach du Scheiße.«
»Sie ist deine Mutter«, sagte ich. »Und sie ist hier. Das ist doch was.«
»Sie hat recht«, sagte Bud hinter mir. »Florine hat recht.« Als Dottie, Bud und ich an Germaine vorbeikamen, sagten wir »Hallo« und gingen weiter. Wenn Glen nicht stehen geblieben wäre, um mit ihr zu reden, hätte ich ihm eine reingehauen. Aber er tat es.
Als der Sommer 1965 kam, wabbelten auf Dotties Brust zwei Puddinge, während ich immer noch flach wie ein Brett war.
An einem Julitag, als wir in ihrem Zimmer waren, sagte sie: »Willst du mal was sehen?«
»Was denn?«
Sie zog ihre Shorts runter, dann auch noch ihren rosa Baumwollschlüpfer, und deutete auf das fleischige V zwischen ihren Beinen. »Da«, sagte sie. »Ist das nicht eklig?«
»Was meinst du?«
»Geh näher ran.«
»Ich bin nah genug.«
»Jesses, Florine, sieh hin.«
Nach einigem Suchen entdeckte ich vier oder fünf blonde Haare, die wie eingerollte Farntriebe aus ihrer glatten, rosigen Haut sprossen.
»Ich wünschte, ich hätte auch welche«, sagte ich, während mir glühender Neid durch die Adern schoss.
»Aber ich nicht«, sagte Dottie. »Ich wird sie abrasieren.«
»Hast du schon deine Tage?«
»Blöder Name, als war nicht jeder Tag mein Tag«, sagte Dottie. »Nein, hab ich noch nicht. Madeline hat mir ein paar Binden gekauft. Aber ich bin nicht scharf darauf. Klingt verdammt lästig, das Ganze.«
»Alle Frauen kriegen das«, sagte ich.
»Ich will keine Frau sein.« Dottie zog sich die Hose wieder hoch und setzte sich neben mich aufs Bett. »Warum nicht?«
»Wozu? Ich will keine Kinder haben. Und einen BH ziehe ich auch nicht an«, sagte sie aufmüpfig, als hätte ich ihr gerade genau das befohlen.
»Und ich will nicht für immer flach bleiben«, sagte ich. »Ich will einen Busen haben. So einen wie Carlie.«
»Diese blöden Puppen.« Dottie wies mit dem Kopf auf das Regal. »Glotzen mich an, als würden sie irgendwas von mir erwarten. Willst du sie haben, für später, wenn du eine Frau bist und Kinder hast?«
»Gib sie Evie«, sagte ich.
Dottie schnaubte. »Die hat selber genug von den verdammten Dingern.«
»Vielleicht änderst du ja deine Meinung. Und vielleicht mögen deine Kinder Puppen, auch wenn du sie nicht magst.«
»Ich will keine Kinder«, sagte Dottie erneut.
Das verunsicherte mich. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass wir später mit unseren Ehemännern und Kindern zusammen hier leben würden. Aber das behielt ich für mich. Stattdessen sagte ich: »Wollen wir uns sonnen?«
»Von mir aus.«
Wir zogen unsere Badeanzüge an, gingen runter in die Bucht und breiteten unsere Handtücher auf dem von Kieseln durchsetzten Sand aus.
Es war still am Strand ohne die Jungs. Glen füllte für Ray die Regale auf, und Bud war mit Sam und Daddy auf dem Boot. Wir hatten die beiden in der letzten Zeit nicht oft gesehen, aber vor Kurzem war ich Bud auf der Straße begegnet, als ich gerade aus Rays Laden kam.
»Hey«, sagte er.
»Hey«, sagte ich.
»Warst du fischen?«, fragte ich.
»Ja«, sagte er. »Warst du einkaufen?«
»Ja.«
»Na, dann«, sagte er und ging weiter.
Als ich über die Schulter zurückblickte, sah ich, dass er sich auch noch mal umgedreht hatte. Er zog den Kopf ein, winkte verlegen und setzte sich wieder in Bewegung.
Jetzt, als Dottie und ich in der Sonne lagen, sprangen mir plötzlich vollkommen fremde Worte in den Mund. Ich stützte mich auf die Ellbogen und sah Dottie an. »Ich muss dir was sagen. Ich mag Bud.«
Dottie hielt sich schützend die Hand über die Augen und blinzelte zu mir hoch.
»Du magst Bud?«, fragte sie. »Du meinst, du bist in ihn verknallt?«
»Ja.«
»Das geht aber nicht«, sagte Dottie. »Dann müsste ich ja in Glen verknallt sein.«
»Wer sagt denn das?«
»Na, ist doch logisch.«
»Ich mag Bud trotzdem«, sagte ich. »Und du musst Glen nicht mögen.«
»Hör mal, Bud ist ein netter Kerl. Glen auch. Aber die beiden sind wie Brüder für uns. Es war total merkwürdig, wenn ihr zwei zusammen wärt.«
»Mal abwarten, was passiert«, sagte ich.
Was passierte, war, dass es in der Tat merkwürdig wurde. Während der restlichen Sommerferien wartete ich zusammen mit Grand auf die Rückkehr der Boote, aber ich winkte nicht, wenn ich Bud an Bord der Carlie Flo oder der Maddie Dee sah. Wenn die Männer von den Booten kamen, ging ich manchmal runter, um Daddy und Sam Hallo zu sagen, aber Bud konnte ich nicht ins Gesicht sehen, und ich brachte kein Wort heraus.
Bud verhielt sich genauso sonderbar. Er trat von einem Fuß auf den anderen und blickte zu Boden, wenn er mich sah, dann hatte er plötzlich jede Menge zu tun und ignorierte mich ebenso wie ich ihn.
Nach ungefähr zwei Wochen des Schweigens und Aneinandervorbeiguckens beschloss ich, dass es mir reichte.
Als wir wieder mal am Strand lagen, sagte ich zu Dottie: »Ich bin nicht mehr in Bud verknallt. Das Ganze ist mir zu blöd. Du hattest recht.«
Später an dem Tag begegnete ich Bud wieder auf der Straße; diesmal kam er aus Rays Laden und ich von der anderen Seite.
»Hey«, sagte ich.
»Hey«, erwiderte er.
Ich musste meine ganze Willenskraft zusammenraffen, aber ich drehte mich nicht noch mal um.