26
Glen bekamen wir kaum noch zu sehen, seit er ein Footballstar geworden war, neue Freunde hatte und die Mädchen aus Long Reach durchprobierte. Er sah nicht gut aus, aber er war hartnäckig, und er war verrückt nach den Frauen.
»Ich bin fix und fertig«, gestand er Dottie und mir, als wir an einem Samstagabend beim Bohnenessen im Rod and Reel Club zusammensaßen. »Der Trainer hat gesagt, wenn ich nicht auf den Pfad der Tugend zurückkehre, werde ich die nächste Saison mit dem fehlgeleiteten Teil meines Hirns auf der Bank sitzen. Aber ich liebe nun mal die Frauen.«
»Irgendwer muss es ja tun«, sagte Dottie. »Warum also nicht du?«
»Er kann seinen besten Spieler nicht auf die Bank setzen«, wandte ich ein.
»Florine hat recht«, sagte Dottie. »So wies aussieht, kannst du rummachen, bis dir die Lampe ausgeht.«
»Kannst du mir mal was von dem dunklen Brot geben?«, sagte Daddy leise zu mir. Ich saß eingezwängt zwischen ihm und Dottie, die wiederum Bert neben sich hatte. Stella saß natürlich an Daddys anderer Seite, fast auf seinem Schoß. Glen, Dottie und ich hatten eigentlich keine Lust gehabt zu kommen, doch an diesem Abend bekam Grand eine Auszeichnung für all die Bohnenessen, die sie organisiert und für die sie gekocht hatte, und man hatte uns dringend nahegelegt, uns bei der festlichen Veranstaltung blicken zu lassen. Ida und Maureen waren auch da, nur Bud und Sam fehlten. Bud war mit Susan unterwegs, und Sam fühlte sich nicht wohl.
»Das Brot ist lecker«, sagte Daddy zu mir. »Hast du das gemacht?«
»Ja.«
»Nächsten Monat mache ich meinen Führerschein«, sagte Glen. Dottie, Glen und ich würden alle in den nächsten Wochen sechzehn werden. Bud, der bereits sechzehn war, hatte seinen Führerschein schon und war kurz davor, sich das Auto zu kaufen, für das er seit seinem zwölften Lebensjahr sparte.
»Ich auch«, sagte Dottie. »Passt bloß auf, wenn ich auf die Straßen losgelassen werde.«
»Dann kannst du zu jeder Bowlingbahn von hier bis Timbuktu fahren«, sagte ich.
»Wo zum Teufel ist Timbuktu?«, fragte Glen.
Dottie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Das könnte ich wirklich machen. Von Stadt zu Stadt fahren, von Bowlingbahn zu Bowlingbahn. Ich halte an, zeige ihnen, wie’s geht, und dann fahre ich wieder, ab in den Sonnenuntergang.«
»Die einsame Bowlerin reitet wieder«, spottete Glen. »Hiho, Strike und zurück in den Sattel.«
»Ich wünschte, ich könnte auch den Führerschein machen«, sagte ich.
»Nächstes Jahr«, sagte Daddy. »Gib mir bitte mal das Salz.«
Daddy hatte mich gebeten, noch zu warten. Wahrscheinlich befürchtete er, ich würde abhauen, und damit lag er nicht ganz falsch. Während Dottie im Bowlingrausch war, träumte ich davon, mit Petunia über die Straßen zu rollen, Radio zu hören, mit den rosa lackierten Fingernägeln im Takt aufs Lenkrad zu klopfen und nach meiner Mutter zu suchen.
Ich gab Daddy das Salz, und er überschüttete seine Bohnen damit. Stella legte ihre Hand auf seinen kräftigen Arm. »Lee«, sagte sie mit ihrer Wenn-du-brav-bist-schlaf-ich-auch-mit-dir-Stimme. Daddy stellte das Salz weg. Sie tätschelte ihm den Arm.
»Braver Junge, Lee, braver Junge«, sagte ich. Er und Stella ignorierten mich.
Ich schob meinen Teller weg, obwohl ich wusste, dass das süße Brötchen, das darauf lag, mir nur zu gern auf der Zunge zergangen wäre. Grand hatte die Brötchen gebacken, es waren die besten auf der Welt.
»Was wünschst du dir zum Geburtstag?«, fragte Daddy. »Der sechzehnte ist ja was Besonderes.«
»Den Führerschein«, sagte ich.
»Und sonst?«
Wie aus dem Nichts kam mir eine Idee. »Ich will nach Crow’s Nest Harbor fahren.« Bevor Daddy etwas darauf sagen konnte, stand Stinnie Flaherty am vorderen Ende des Saals auf und rief mit seiner zigarettenverknarzten Stimme: »Alle mal herhören!«
Grands großer Augenblick war gekommen. Stinnie ließ sich darüber aus, was für ein feiner Kerl sie sei, wie viel sie für den Club und die Gemeinschaft getan habe, ohne je irgendwas dafür zu verlangen, und was für ein wunderbares Vorbild sie für junge Leute wie zum Beispiel Florine da drüben sei (ich schlang die Arme um mich und machte mich ganz klein, als sich alle Köpfe zu mir umwandten). Am liebsten würde er ihr eine Million Dollar schenken, aber sie würde sich mit diesem hübschen roten Herz zufriedengeben müssen. Er hielt ein Glasherz hoch, und Grand nahm es entgegen und drückte es an ihre Brust.
Dann sagte sie, wie dankbar sie uns allen sei und dass sie gar nicht damit gerechnet hätte, und nein, den Beifall wollte sie nicht und eine Rede halten schon gar nicht, und dann gab Stinnie ihr einen lauten Schmatzer auf die Wange, was alle zum Lachen brachte. Dottie stieß mich in die Seite und sagte: »Jetzt klatsch schon«, und ich gehorchte, aber meine Hände fühlten sich ganz taub an, während ich auf das rubinrote Glasherz in Grands Händen starrte.
Dann standen alle auf, um zu gehen, und der Saal versank in Stimmengewirr und Durcheinander. Daddy und Stella waren fort, bevor ich eine Antwort wegen Crow’s Nest Harbor bekommen hatte.
Später saßen Grand und ich in der Küche. Sie polierte das Glasherz mit einem Geschirrtuch und hielt es gegen das Licht, um hindurchzusehen. Es war größer und dicker als jenes, das ich ins Meer geworfen hatte.
»Wie nett von ihnen«, sagte Grand. »Das wäre aber wirklich nicht nötig gewesen.«
»Es tut mir leid, dass ich das andere weggeworfen habe«, sagte ich.
»Nun ja, du warst an dem Tag schrecklich durcheinander.«
»Wie sind sie auf die Idee gekommen, dir ein neues zu schenken?«
Sie ging mit dem Herz in der Hand zur Vitrine. »Kann ich dir nicht sagen. Ich denke, viele wissen, dass ich das Zeug sammele.«
»Hast du irgendwem gesagt, dass deins weg ist?«
»Ich weiß es nicht mehr, Florine«, sagte Grand. »Kann sein, dass ich es Ida oder Madeline erzählt habe, aber das ist vier Jahre her. Mittlerweile bin ich froh, wenn ich mich noch erinnern kann, was vor vier Tagen war.«
Als sie zu mir in die Küche zurückkam, sah ich, wie mühsam sie bei jedem Schritt ihre Hüfte bewegte. Mir ging plötzlich durch den Kopf, dass ich eines Tages auch so aussehen würde, das Haar dünn und zerzaust, die Arme faltig und trocken, dass mir das Gehen wehtun, dass ich vergesslich werden und vielleicht allein sein würde, wenn nicht irgendeine kleine Nervensäge in meiner Obhut landete.
»Ich habe Daddy gebeten, mit mir nach Crow’s Nest Harbor zu fahren«, sagte ich. »Er hat mich gefragt, was ich mir zum Geburtstag wünsche, und das war meine Antwort. Ich möchte sehen, wo Carlie gewohnt hat und wo sie vielleicht hingegangen ist.«
Grand ließ sich auf dem Stuhl mir gegenüber nieder und kniff die Augen zusammen. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, aber ich verstehe, warum du dahin möchtest.«
»Warum ist es keine gute Idee?«
»Ich weiß, dass du immer wieder daran denken musst, was passiert ist und wo sie sein könnte. Aber vielleicht solltest du deiner Mutter irgendwo einen Platz in deinem Herzen geben und dich neuen, eigenen Dingen zuwenden. Genau das würde Carlie dir selbst auch raten.«
Ich sah hinunter auf meine Hände. Eine Träne tropfte auf meinen rechten Ringfinger und bildete eine kleine Pfütze auf dem Knöchel.
»Das kann ich nicht, Grand, solange ich nicht weiß, was passiert ist.« Ich hob den Kopf und sah sie an. Im trüben Küchenlicht sah sie aus wie der Tod, der sich mal wieder richtig ausschlafen musste. »Jedenfalls habe ich Daddy gebeten, mit mir dahin zu fahren.« Ich stand auf, ging zu ihr und küsste sie auf den Kopf, wo die rosige Haut durch das dünne weiße Haar schimmerte. »Ich gehe jetzt ins Bett.« Noch bevor ich oben ankam, hörte ich, wie sie in der Küche umherschlurfte und das Haus für die Nacht fertig machte.