44

 

In der Nacht blieb ich in meinem eigenen Bett. Ich wartete auf Andy und machte mir Sorgen, als er nicht kam. Irgendwann in den frühen Morgenstunden schlief ich schließlich ein.

Gegen zehn am Samstagvormittag klingelte das Telefon. Es war Dottie, die wissen wollte, ob ich zu Hause war. Sonst rief Dottie eigentlich nie an, sondern kam einfach vorbei, und ihr Anruf machte mir bewusst, dass sie vermutlich etliche Male vor verschlossener Tür gestanden hatte. Auf einmal konnte ich es kaum erwarten, sie zu sehen, und zur Feier des Tages machte ich Kakao und einen Stapel Zimttoasts. Wir setzten uns an den Küchentisch und futterten drauflos, während Dottie ihre Neuigkeiten erzählte.

»Ich hätte fast einen Dreihunderter gebowlt«, sagte sie. »Na ja, eher so zweihundertfünfzig, aber auf jeden Fall näher an den Dreihundert als an den Zweihundert.«

»Dazu müsste ich wahrscheinlich zehn Partien spielen«, sagte ich.

»Schon möglich, aber dafür hast du andere Talente. Wie läuft’s mit Andy?«

»Gut«, sagte ich. »Nein, nicht so gut.«

»Na, was denn jetzt?«

Ich erzählte ihr von dem Essen, wie Andy sich zugekifft hatte und dass er immer neue Ausreden fand, um einem Treffen mit Daddy aus dem Weg zu gehen. »Er hat mir gesagt, dass sein Vater ihn oft geschlagen hat und dass er ein Trinker ist. Jedes Mal, wenn er von ihm spricht, ist es, als würde sich eine schwarze Wolke über ihn senken.«

»Na ja, an dem Tag, als wir uns bei ihm entschuldigen mussten, hat er sich auch aufgeführt wie ein General«, sagte Dottie. »Er ist an uns entlanggegangen, als wären wir junge Rekruten. Ich hab nur darauf gewartet, dass er eine Peitsche zückt und uns alle grün und blau schlägt.«

Bei der Vorstellung, wie Mr. Barrington versuchte, Daddy, Sam und Bert zu schlagen, musste ich schmunzeln.

»Madeline hat mich dazu überredet, mich bei ein paar Colleges zu bewerben«, sagte Dottie. »Sie meint, ich brauche einen Plan B, für den Fall, dass das mit dem Bowling nicht klappt.«

»Wieso liegt ihr so viel daran, dass du aufs College gehst?«, fragte ich und dachte daran, dass Dottie dann weit weg sein würde. »Sie ist doch auch nicht hingegangen, und es hat ihr nichts ausgemacht.«

»Ich weiß. Aber neulich abends beim Essen hat sie ne ganz komische Nummer abgezogen. Erst wickelt sie uns mit einer selbst gemachten Schoko-Biskuittorte ein, und während wir essen, sagt sie plötzlich, in der ganzen Familie war noch nie jemand weiter als bis zum Highschool-Abschluss gekommen. Dann fängt sie an zu weinen, Bert tröstet sie, und Evie und ich sehen uns nur an. Ich sag: >Na ja, ich würd’s ja probieren, aber ich bin zu doof dafür.< Darauf sagt sie, vielleicht könnte ich irgendein Stipendium kriegen und ich sollte es doch wenigstens mal versuchen. Dann sagt Bert: »Herrgott noch mal, Dottie, deine Mutter hat wirklich nie viel von dir verlangt. Du hast ein leichtes Leben gehabt. Jetzt kannst du auch mal was für sie tun.< Also hab ich mir ein paar Bewerbungsunterlagen geholt, und sie füllt sie für mich aus. Wer weiß, vielleicht gehe ich im Herbst tatsächlich aufs College.«

»Wow.« Mehr fiel mir dazu nicht ein.

»Aber ich hab natürlich nur die ausgewählt, wo eine Bowlingbahn in der Nähe ist.«

»Gute Planung.«

»Vielleicht ziehe ich das wirklich durch, und sei es nur, damit sie die Klappe hält.«

»Ja, klar. Und was willst du studieren?«

»Sport, denk ich mal. Da muss man, glaub ich, nicht so viel wissen. Außerdem kann ich den ganzen Tag in Shorts rumlaufen und Leute anpfeifen, dass sie sich in Bewegung setzen sollen. Das würd ich schon schaffen.«

»Darin wärst du sogar ziemlich gut.«

»Wann geht Andy eigentlich wieder in die Schule?«, fragte Dottie.

»Ich weiß nicht. Bisher sind wir noch in der Phase, wo wir die meiste Zeit im Bett verbringen. Er hat mir gerade gesagt, dass er mich liebt.«

»Und hast du’s ihm auch gesagt?«

»Gestern. Jetzt frage ich mich, ob das richtig war.«

»Wieso?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Er war bekifft. Ich war durcheinander. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.«

»Irgendein Typ hat Evie gesagt, dass er sie liebt. Das hat er teuer bezahlt, denn sie ist danach wie eine Blöde hinter ihm hergerannt. Schließlich hat er sich ‘ne andere Freundin zugelegt, nur um sie loszuwerden. Evie war völlig durch den Wind. Madeline hat ihr gesagt, sie muss warten, bis die Jungs zu ihr kommen. Mir ist das alles total egal. Wenn mal einer bei mir auftaucht, muss er Geld haben, um meine Bowlingkarriere zu unterstützen.«

Wir tranken unseren Kakao. Da ich Nachschub haben wollte, stand ich auf und machte noch mal Wasser heiß.

Dottie sagte: »Bud mag Andy nicht.«

»Der kann mich mal kreuzweise.«

»Das sag ich ihm.«

»Von mir aus. Ich hab nie was Schlechtes über Susan gesagt.«

»Bud sagt, Andy kriegt seinen Stoff von Kevin. Erinnerst du dich noch an Kevin Jewell? Der ist ‘n richtiger Dealer. Und Bud sagt, Andy ist sein bester Kunde.«

»Woher weiß Bud das alles?«

»Von Susan, schätze ich. Die kommt mehr rum.«

»Schön für Susan.«

Als Andy leise »Hallo« sagte, zuckten wir beide vor Schreck zusammen.

Heute sah er besser aus, die Augen klar, das Haar gekämmt und der Bart gestutzt. Ich überlegte, wie viel er wohl von unserem Gespräch mitbekommen hatte, doch bevor ich fragen konnte, stand Dottie auf, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: »Ich bin Dottie Butts. Ich weiß nicht, ob du dich noch an mich erinnerst.«

Andy schüttelte ihr die Hand. »Natürlich erinnere ich mich. Jemanden wie dich vergisst man nicht.«

»Das nehme ich mal als Kompliment«, sagte Dottie.

»So war’s auch gemeint. Florine hat mir schon so viel von dir erzählt. Ich hatte gehofft, die berühmte Dottie mal wiederzusehen.«

Andy ließ ihre Hand los, und die beiden musterten sich etwa fünf Sekunden lang. Dann geschah etwas, das ich bei Dottie noch nie erlebt hatte: Sie errötete. »Ich hab noch einiges zu erledigen«, sagte sie. »War nett, dich wiederzusehen.« Und schon war sie zur Tür hinaus.

Andy und ich sahen uns an, dann sagte er: »Ich hab dich im Stich gelassen. Tut mir leid.«

»Ich hab ihnen gesagt, du wärst erkältet. Wir haben alle drei so getan, als wär’s die Wahrheit.«

»Sind sie jetzt zu Hause?«

Als ich nickte, sagte er: »Lass uns hingehen.«

Hand in Hand überquerten wir die Straße, und er klopfte an die Tür.

»Ich bin Andy Barrington«, sagte er, als Daddy öffnete und uns hereinließ. »Es tut mir leid, dass ich das Essen verpasst habe.«

»Du klingst gar nicht erkältet«, bemerkte Stella.

»Ich habe gehört, mir ist ein fantastisches Mahl entgangen«, erwiderte er mit einem Lächeln.

Stella kochte Kaffee, und wir setzten uns an den Tisch. Daddy sagte nicht viel, aber Stella stellte dafür jede Menge Fragen, nach seiner Familie, wo er aufgewachsen war und wie es in der Schule lief. Als wir ausgetrunken hatten, standen wir auf. Andy gab Daddy die Hand, dankte Stella für den Kaffee, und wir gingen wieder rüber zu Grands Haus.

»War es so schlimm, wie du befürchtet hattest?«, fragte ich.

»Nein, meine Süße«, sagte Andy und drückte meine Hand.

Vor dem Haus stand Rays Pick-up. Auf der Ladefläche saß Hoppy mit heraushängender Zunge und halb geschlossenen Augen in der Wintersonne. Als Ray um den Wagen herumkam, um wieder einzusteigen, sah er uns. »Ich hab grad bei dir geklopft«, sagte er. »Ich brauche Brot, was Besonderes. Vier Stück für ein Abendessen. Schaffst du das bis um fünf?

Hi«, sagte er zu Andy. Andy nickte ihm zu und kraulte Hoppy hinter dem Ohr.

»Kein Problem«, sagte ich. Ray stieg ein, wendete und fuhr davon.

»Ich geh zurück zum Haus, räume auf und koche uns was zum Abendessen«, sagte Andy. »Mach uns doch auch ein Brot und bring es mit.«

»Danke, dass du hergekommen bist.«

»Du bist mein Schatz«, sagte er leise und umfasste mein Kinn. »Und um meinen Schatz muss ich mich kümmern.«

Ich fühlte mich so warm und nachgiebig wie der Teig, den ich an dem Tag knetete und formte. Der Geruch erfüllte meinen Kopf und mein Herz, und auf einmal verstand ich, was Andy so besonders daran fand. Einmal, als er nur ein bisschen bekifft gewesen war, hatte er den Kanten von einem frisch gebackenen Brot abgeschnitten, ihn an seine Nase gehalten und ganz tief eingeatmet. »Da drin könnte ich leben«, hatte er gesagt. »Es ist warm und weich, und am liebsten würd ich einfach reinkriechen. Es riecht so, wie sich Zuhause anfühlen sollte.«

In dem Moment hatte ich gelacht, aber als ich jetzt am Küchentisch saß und zusah, wie der Teig unter den feuchten Tüchern aufging, die ich über die Formen gebreitet hatte, musste ich ihm zustimmen. Ich trödelte im Haus herum, während das Brot im Ofen war. Gegen halb fünf packte ich die Laibe ein und brachte sie zu Ray.

Vor dem Laden stand ein fremdes Auto mit einem Kennzeichen aus Massachusetts. Es schimmerte weiß in der Winterdämmerung, und ich fragte mich, ob es wohl den Leuten gehörte, die das Brot bestellt hatten. Es war ein Mercedes oder BMW. Ich konnte mir nie merken, welches Symbol zu welcher Marke gehörte. Ich spähte durch die Scheiben. Buttergelbe Ledersitze. Am liebsten hätte ich mich hineingesetzt, nur um zu sehen, ob sie auch so weich waren wie Butter.

Im Laden stand ein Mann, mit dem Rücken zu mir, und sprach mit Stella. Ich legte das Brot für Ray auf den Tresen, und als Stella mich bemerkte, geschah etwas Merkwürdiges. Sie wurde plötzlich stocksteif, in ihren Augen lag Angst, und dann drehte der Mann sich um.

»Du bist bezaubernd«, hörte ich ihn im Geiste sagen, klar und deutlich, als wäre es gestern gewesen. Dann hörte ich Dotties Stimme, ebenso klar: »Ich hab nur darauf gewartet, dass er eine Peitsche zückt und uns alle grün und blau schlägt.« Und Andys Stimme: »Er hat mich geschlagen.«

Als Mr. Barrington mich erblickte, wurden seine Augen kalt wie die einer Schlange. Aber sein Lächeln war schön, genau wie das seines Sohnes. Ich wusste nicht, ob ich flüchten oder bleiben sollte. Ich warf Stella einen finsteren Blick zu, nur um woanders hinschauen zu können.

Stellas Gesicht war rot, als sie übertrieben munter sagte: »Mr. Barrington ist hergekommen, um Andy zur Schule zurückzubringen. Er muss dieses Wochenende wieder nach Hause.«

»Hallo, Florine«, sagte Mr. Barrington leise. »Stella hat mir alles über euch beide erzählt.«

Ich zuckte die Achseln. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen«, sagte ich und wandte mich ab. Mein Herz schlug wie wild, und mein Kopf sagte: Lauf, so schnell du kannst. Ich wollte vor ihm bei Andy sein, wollte ihn warnen. Aber ich versuchte, ruhig zu bleiben, während ich darauf wartete, dass Ray mir mein Geld gab. Er sah mich eindringlich an, als er mir die Scheine in die Hand drückte. Ich bedankte mich und verließ den Laden. Sobald die Tür hinter mir ins Schloss fiel, rannte ich, so schnell ich konnte, hinauf in den Wald, zum Sommerhaus und zu Andy.

Ich stürmte in die Küche, die nach Brathähnchen und Hasch roch. Andy stellte gerade zwei Weingläser auf den Teppich vor dem Kamin. Das Lächeln, mit dem er mich ansah, war unverstellt wie das eines Kindes. Doch als ich sagte: »Dein Vater ist hier. Er will dich holen«, verwandelte es sich in den Ausdruck eines wilden Tieres, das in eine Falle geraten ist.

»Scheiße«, fluchte er. »Verdammt, ich stecke in der Scheiße.«

Aus der Eingangshalle erklang ein spöttisches Lachen. »Sei doch nicht so dramatisch, Andrew.« Mr. Barrington lehnte sich gegen den Türrahmen. »Du bist eine schnelle Läuferin«, sagte er zu mir.

Als ich darauf nicht reagierte, fügte er hinzu: »Das ist ein Kompliment. Bitte sieh mich nicht an, als wäre ich der böse Wolf. Ich bin hier, um Andy nach Hause zu holen, weiter nichts.« Er sah Andy an. »Wie geht’s dir, mein Sohn?« Andy zuckte die Achseln. Sein Blick wanderte unruhig umher, er wirkte verwirrt, in die Ecke getrieben.

Mr. Barrington schnupperte. »Mmmh. Ist das Hähnchen, was ich da rieche?«

Da Andy nicht antwortete, sagte ich: »Ja.«

»Dachte ich mir«, sagte Mr. Barrington. »Ich bin halb verhungert.«

Ich sah Andy an. Er ließ die Arme hängen, und die Finger der Hand, die nicht die Weinflasche hielt, zuckten nervös. Ich fand die Situation gar nicht so furchtbar. Obwohl ich Mr. Barrington nicht traute, benahm er sich nicht unangenehm, und betrunken schien er auch nicht zu sein. Vielleicht konnten wir das Ganze ja beim Abendessen klären. Vielleicht fanden wir eine Lösung.

»Möchten Sie mit uns essen?«, fragte ich ihn. Andy starrte mich mit großen Augen an, als traute er seinen Ohren nicht.

»Mit dem größten Vergnügen«, sagte Mr. Barrington. »Und wie ich sehe, gibt es sogar Wein.«

Andy sah hinunter auf die Flasche, als frage er sich, wie sie in seine Hand gekommen war.

»Kann ich euch was helfen?«, fragte Mr. Barrington mich.

»Andy, kann er uns was helfen?«, fragte ich Andy.

»Nein«, sagte Andy mit tonloser Stimme. »Es ist alles fertig.«

»Wunderbar«, sagte Mr. Barrington. »Nun, der Teppich ist sicher sehr schön, aber wie wär’s, wenn wir das Tuch vom Tisch nehmen und ihn vor den Kamin stellen? Fasst du mal mit an?«

Andy stellte die Flasche auf den Boden und folgte seinem Vater. Die beiden schleppten den schweren Eichentisch herüber und stellten ihn auf den Teppich, auf dem ich entjungfert worden war und wo wir viele Male gegessen, geredet, geschlafen und uns geliebt hatten.

»So«, sagte Mr. Barrington. »Und jetzt holen wir das Essen. Florine, setz dich doch schon mal auf das Sofa, Andy und ich bedienen dich.«

»Nein, schon gut«, sagte ich. »Ich helfe mit.«

Wir gingen in die Küche. Zu dem Hähnchen hatte Andy Möhren und Kartoffelpüree gemacht. Er füllte alles auf die Teller, während ich das Brot anschnitt. Mr. Barrington stand zwischen uns und erzählte von der Fahrt hierher. Im Aschenbecher auf dem Herd lag ein angefangener Joint. Mr. Barrington musste ihn gesehen haben, aber er sagte nichts dazu, nicht einmal, als Andy ihn hinter den Kartoffeltopf schob.

Wir setzten uns an den Tisch vor dem Kamin, Andy und ich auf das Sofa, Mr. Barrington in einen knarzenden Schaukelstuhl neben mir. Er griff nach der Weißweinflasche und betrachtete das Etikett. »Nicht übel«, sagte er. »Gib mir mal den Flaschenöffner, mein Sohn.«

Andy sah sich suchend um. Nach einer Weile entdeckte er den Offner auf dem Kaminsims. Er holte ihn, wischte die Asche ab und reichte ihn seinem Vater.

»Danke«, sagte Mr. Barrington. »Wo hast du den Wein eigentlich her?«

»Aus der Stadt«, sagte Andy.

»Und wie bist du darangekommen?«

»Ich habe ihn gekauft.«

»Wie?«

»Sie haben ihn mir verkauft.«

»Wer ist >sie<?«

»Der Lebensmittelladen in der Stadt.«

»Haben sie dich nicht nach deinem Ausweis gefragt?«

»Nein.«

»Aha. Na, dann gib mir mal dein Glas«, sagte Mr. Barrington. »Du musst ja nicht mehr fahren. Magst du auch, Florine?«

»Nein, danke.«

»Ach, komm schon. Die Franzosen trinken immer ein Glas Wein zum Essen.« Er schenkte mir ein wenig ein und wartete, bis ich einen Schluck davon trank.

»Ich fahre mit dem Pick-up nach Hause«, sagte Andy.

»So?«

»Ich wollte ohnehin noch ein oder zwei Wochen hierbleiben.« Andy trank einen großen Schluck Wein. »Und dann zurückfahren.«

»Ach ja?«, sagte Mr. Barrington. »Zurück wohin?«

»Weiß ich noch nicht.«

»Nicht zur Schule, nehme ich an.«

»Nein.«

Mr. Barrington beugte sich zu mir und senkte die Stimme, als wollte er mir ein Geheimnis anvertrauen. »Andrew ist nämlich im November rausgeflogen. Hat er dir erzählt, dass er schon bei vier Schulen rausgeflogen ist?«

»Lass sie in Ruhe«, sagte Andy. Er sah dabei nicht seinen Vater an, sondern seinen Teller, auf dem er das Essen hin und her schob. Er manövrierte Möhrenscheiben in einen Pferch, den er aus seinem Kartoffelpüree geformt hatte.

»Ich tue ihr ja gar nichts«, sagte Mr. Barrington. »Ich habe mich nur gefragt, ob du es ihr erzählt hast.«

»Es macht mir nichts aus«, sagte ich.

»Oh. Na, dann ist ja alles in Ordnung, nicht?«, sagte Mr. Barrington. »Ja, alles in bester Ordnung.« Er schnüffelte. »Hier hängt noch ein Geruch in der Luft. Was ist das? Hähnchen ist es nicht. Auch nicht Möhren oder Kartoffeln. Nein, es riecht süßlich. Vielleicht ein Nachtisch?«

»Du weißt, was es ist«, sagte Andy.

Mr. Barrington zwinkerte mir zu. »Nur ein kleiner Scherz, Andrew. Natürlich weiß ich, was es ist.« Wieder beugte er sich zu mir und flüsterte: »Andrews Haschrauchen hat mich ein paar Tausend Dollar gekostet - wenn man die Schulwechsel, die Strafen, die Kaution und so weiter mitrechnet.«

»Mir macht das nichts aus«, sagte ich erneut.

»Nein, natürlich nicht, Florine. Aber du musstest die Strafen ja auch nicht zahlen«, sagte Mr. Barrington. »Sollen wir dich nach Hause bringen, wenn wir nach Boston fahren?«

»Ich fahre mit dir nirgendwohin«, sagte Andy.

»Oh doch, das wirst du«, sagte Mr. Barrington in heiterem Tonfall. »Ich habe den Sheriff gebeten, vorbeizukommen, für den Fall, dass du Überredung brauchst. Er weiß, dass du dich hier oben eingenistet hast. Ich habe ihm erlaubt, das Haus zu durchsuchen, falls es nötig sein sollte. Du kannst gerne eine Weile sein Gast sein. Oder wir beenden unsere Mahlzeit, räumen auf und fahren nach Hause. Der Pick-up kann ruhig hier stehen bleiben.«

»Wie hast du mich überhaupt gefunden?«, fragte Andy.

»Stella - heißt sie so, Florine? - hat mich angerufen. Meinte, du wärst hier oben, und machte sich Sorgen, dass es in dem Haus zu kalt sein könnte. Ich habe zu ihr gesagt - wie heißt, sie, Stella? Deila?«

»Stella«, sagte ich.

»Danke. Ich habe zu Stella gesagt, Sie müssen sich irren. Er ist bei seiner Mutter in New York und bekommt Privatunterricht. Aber dann habe ich bei deiner Mutter angerufen, und es stellte sich heraus, dass sie auf den Bahamas ist. Also habe ich sie dort angerufen, und sie hat mir gesagt, sie meinte, du brauchtest mal eine Pause. Sie hätte dir erlaubt, hier raufzufahren, und dir etwas von dem Geld mitgegeben, das ich ihr jeden Monat für deinen leidigen Unterhalt zahle.« Mr. Barrington stand auf und trat, das Weinglas in der Hand, an den Kamin. Er sah ins Feuer. »Du bist geschickt im Feuermachen, mein Sohn«, sagte er, die Stimme fast zu einem Flüstern gesenkt. »Die Scheite sind perfekt aufgeschichtet. Gut gemacht. Sehr gut.« Andy saß vollkommen reglos da. Er sah mich an, und sein Gesicht war kalkweiß.

»Was ist los?«, fragte ich ihn lautlos, doch er schüttelte nur den Kopf.

Ganz leise sagte Mr. Barrington: »Andrew, ich erlaube dir nicht, hier zu sein«, und schleuderte sein Weinglas in den Kamin. Es zerbarst klirrend. Dann trat er mit dem Fuß mitten ins Feuer, dass die Funken nur so sprühten. Ich zuckte zusammen und kippte mir meinen Wein über den Schoß. Andy rührte sich nicht, sondern schloss nur die Augen.

Mit kalter Wut sagte Mr. Barrington: »Du hast mich zu viel Geld und zu viele peinliche Momente gekostet, um einfach hier anzutanzen, dich mit Hasch und Alkohol einzudecken und die Fischerstochter zu vögeln. Jetzt iss deinen Teller leer, und dann fahren wir.«

Abgesehen von Mr. Barringtons Atem herrschte absolute Stille.

»B-b-beleidige Florine nicht«, sagte Andy. »Ich liebe sie.«

»Oh Andrew«, rief Mr. Barrington und warf die Hände in die Luft. »Andrew, mein Sohn, du würdest die Liebe nicht mal erkennen, wenn sie dich in den Hintern beißen würde.« Er sah mich an, wie ich auf dem Sofa saß, eine Weißweinpfütze auf den Schenkeln. »Jetzt ist sie bezaubernd«, sagte er und machte eine Handbewegung, als wollte er mich verschwinden lassen. »Aber das sind viele, viele Frauen, und es ist nicht von Dauer. Es ist auch auf Dauer nicht wichtig. Bitte benutz deinen Kopf, das Ding auf deinen Schultern. Ich flehe dich an. Geh zurück zur Schule - sofern wir eine finden, die dich nimmt. Und dann geh aufs College. Tu es. Bring wenigstens diese EINE Sache zu Ende.«

Andy stand auf und ging um den Tisch herum. Er streckte die Hand nach mir aus, und ich nahm sie und stellte mich neben ihn. Wein rann mir an den Beinen hinunter. Andys Hand zitterte, aber er wandte sich um und sah seinen Vater an.

»Ich komme nicht mit«, sagte er. »Wir können in Florines Haus wohnen. Ich brauche dich nicht.«

Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich ihm angeboten hatte, zu mir zu ziehen, und es gelang mir nicht, aber jetzt war nicht der richtige Moment, um das zur Sprache zu bringen. Andy widersetzte sich seinem Vater, und ich konnte sehen, wie schwer ihm das fiel. Ich musste zu ihm stehen.

»Du bist achtzehn Jahre alt«, sagte Mr. Barrington. »Sie ist siebzehn. Möglicherweise gibt es ein Gesetz dagegen, dass ihr zwei es miteinander treibt, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall war es mein Ernst, Andrew, als ich gesagt habe, der Sheriff ist unterwegs hierher. Ich habe ihn gebeten, mir eine halbe Stunde Vorsprung zu geben. Es tut mir leid, dass ich so weit gehen musste, aber ich dachte mir schon, dass du Schwierigkeiten machen würdest.«

»Nun, wenn das so ist, verschwinde ich sofort«, sagte Andy. »Wir gehen zu Florines Haus. Dort hast du kein Recht, mich rauszuholen.« Er zog mich hinter sich her in die Eingangshalle und schnappte sich unsere Mäntel.

»Andrew«, rief Mr. Barrington, »sobald du den Fuß aus ihrem Haus setzt, lasse ich dich verhaften, ich schwöre es. Und zwar zu deinem eigenen Besten.«

»Komm«, flüsterte Andy, und wir schlüpften durch die Küchentür nach draußen. Als mein Blick auf die Einfahrt fiel, stellte ich mir vor, dass eine jüngere Ausgabe von Bud, Dottie und Glen hinter den Büschen kauerte, wie in jener Sommernacht vor langer Zeit. Sie sahen mich traurig an, als Andy und ich die Stufen hinuntergingen und auf den Pick-up zusteuerten. Mr. Barrington folgte uns. »Andrew«, rief er. Ich blickte mich um und sah gerade noch, wie er auf einer vereisten Stelle ausrutschte und mit voller Wucht rücklings auf die Stufen fiel. Er rührte sich nicht mehr. »Scheiße«, sagte Andy, und wir liefen zurück zu seinem Vater. Sein Gesicht wirkte wächsern in der Dunkelheit, sein Körper war schlaff. Eine dunkle Flüssigkeit schimmerte auf der Stufe hinter ihm. Ich ging in die Hocke und hob ganz vorsichtig seinen Kopf an. Warmes, klebriges Blut lief über meine Finger.

»Andy, wir müssen einen Arzt rufen«, sagte ich.

»Okay.«

Ich legte Mr. Barringtons Kopf wieder auf die Stufe zurück. Andy griff in die Tasche seines Vaters, holte die Autoschlüssel heraus und ergriff meine Hand. »Sein Wagen ist schneller als meiner. Los, komm.«

Wir liefen zu dem Mercedes-BMW, er öffnete mir die Beifahrertür, und ich versank in dem weichen, buttergelben Ledersitz. Doch anstatt mich zu entspannen, saß ich stocksteif da, während Andy den Motor anließ, wendete und den unbefestigten Weg hinunterraste. Ich dachte, er würde nach The Point abbiegen, aber er fuhr geradeaus weiter.

»Wohin fährst du?«, fragte ich. »Was hast du vor? Wir müssen ein Telefon finden. Wir können ihn nicht da liegen lassen.«

»Hilfe holen.«

»The Point ist näher, Andy. Lass uns umkehren.«

»Ich kann nicht zurück«, sagte er.

Parker kam uns in seinem Streifenwagen entgegen und fuhr vorbei, und als ich mich umdrehte, sah ich ihn um die Kurve verschwinden.

Andy und ich atmeten angestrengt, untermalt von irgendeiner Sinfonie auf dem Klassiksender, den Mr. Barrington wohl auf dem Weg hierher eingeschaltet hatte. Ich betrachtete das halb getrocknete Blut an meinen Händen.

»Andy, wir müssen einen Arzt rufen«, sagte ich erneut.

»Das machen wir in Long Reach, und dann holen sie ihn.«

»Du bist durcheinander. Lass uns umkehren und nach The Point fahren, das geht schneller.«

»Nein«, sagte Andy. »Nein. Ich kümmere mich schon darum.«

Er trat auf das Gaspedal, und der Mercedes-BMW schaltete dröhnend in einen anderen Gang. »Andy, nicht so schnell!«

Er nahm den Fuß vom Gas und trat auf die Bremse, genau in dem Moment, als wir auf der Kuppe des Pine Pitch Hill waren. Doch es war zu wenig, und es kam zu spät. Wir segelten durch die Luft und auf dieselben Bäume zu, die Stella aus dem Totenreich ausgespuckt hatten. Im Scheinwerferlicht des Wagens leuchteten die Stämme hell und dünn auf wie Zahnstocher. Es wird schon glattgehen, dachte ich. Die Bäume werden durchbrechen, und wir landen sanft und weich in den Büschen.