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Am Tag nach der Kranzparty holte ich den Kinderpullover aus der Tüte und sah ihn mir genauer an. Es war ein ziemlich einfaches Muster, das Grand mir schon vor Jahren beigebracht hatte, und ich beschloss, ihn zumindest versuchsweise fertig zu stricken. Seit ihrem Tod hatte ich keine Nadeln mehr in der Hand gehabt, aber nach einem etwas holprigen Start fühlte es sich wieder vertraut an. Klappernd ließ ich die elfenbeinfarbenen Maschen durch meine Finger gleiten, und das Wollknäuel schrumpfte, während der Pullover wuchs. Ich stellte mir vor, wie Jemandes Mutter ihn über einen kleinen Kopf zog, über die vorwitzige Stupsnase und das trotzige Kinn, und dann das aufgeladene Haar glatt strich, während Jemand ungeduldig darauf wartete, sich spannenderen Dingen zuzuwenden. Dieser Pullover würde ein Teil von Jemandes Leben werden. Und wenn ich mir Mühe gab, würde er an Jemand Anders weitergegeben.

Am frühen Nachmittag war ich fertig. Ich hielt den Pullover hoch und musterte mein Werk. Obwohl ich erkennen konnte, wo Grands Arbeit aufhörte und meine begann, war ich ziemlich sicher, dass es außer mir niemand sehen würde. Für einen Moment verspürte ich Traurigkeit, weil von nun an alles, was ich strickte, ganz allein mein Werk sein würde, aber ich schüttelte sie ab, weil ich den Pullover waschen und zu Ray bringen musste, damit er ihn verschicken konnte.

Ich rollte ihn gerade in ein Handtuch, um das Wasser herauszudrücken, als Bud auf dem Weg nach Hause vorbeifuhr. Ich sah aus dem Küchenfenster, er bemerkte mich, und wir lächelten uns zu. Überrascht spürte ich, wie meine Brustwarzen sich aufrichteten. Ich war so scharf, dass ich sogar mit einem Gartenzwerg geknutscht hätte.

Als es abends gegen zehn an der Tür klopfte, saß ich vor dem Fernseher, nahm Maschen für einen neuen Pullover auf und dachte zwischendurch immer wieder an Bud. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich zur Tür ging. Doch es war nur Dottie, die mit ihrem Mondgesicht durch die Scheibe spähte. Sie hauchte auf das kalte Glas und schrieb »ich«.

Sobald sie drinnen war, zog sie die Stiefel aus und schälte sich aus ihrer Wollhose. Darunter trug sie Nylons, und ihre Zehen sahen völlig abgefroren aus.

»Willst du ein Paar Socken?«, fragte ich.

»Gute Idee.«

Ich setzte den Wasserkessel auf. »Ich hol dir gleich welche. Übernachtest du hier?«

»Nein. Bin grad vom Bowlen zurückgekommen. Wir haben gegen eine Mannschaft aus Brunswick gespielt. Und gewonnen«, sagte sie. »Als ich sah, dass bei dir noch Licht war, dachte ich mir, ich schau mal vorbei und sag Hallo.«

Als ich mit den Socken wieder nach unten kam, saß Dottie vor dem Fernseher. Der Wasserkessel pfiff, und ich ging in die Küche. Ich bereitete uns Kakao zu, nahm die Becher mit ins Wohnzimmer und stellte sie auf den Beistelltisch. Bevor ich mich zu Dottie aufs Sofa setzte, fiel mir etwas ein. Ich holte den fertigen Pullover und zeigte ihn ihr. »Wie findest du den? Ist selbst gestrickt.«

»Der ist ja niedlich.« Sie berührte den kleinen Ärmel und strich über die Vorderseite des Pullovers. »Und so weich.«

Sie nahm einen Schluck von ihrem Kakao. »Ich hab Madeline übrigens mal nach dem Hummerscherenkranz gefragt. So schusselig, wie ich bin, hätt’s auch sein können, dass ich’s mir nur eingebildet habe. Aber nein, sie erinnert sich noch daran. Fand ihn originell. Du hattest in dem Jahr Mumps, deshalb wusstest du nichts davon. Evie und ich haben dann im Januar damit flachgelegen.«

»Komisch, dass sie ihn nicht mit nach Hause gebracht und mir gezeigt hat«, sagte ich.

»In dem Punkt kann ich dir nicht weiterhelfen.«

Wir tranken unseren Kakao, ich strickte an dem neuen Pullover weiter, und wir schauten Hawaii Fünf-Null. Plötzlich stellte Dottie ihren Becher ab, ging zum Fernseher und drehte den Ton leiser. Sie sah mich mit ungewohnt ernster Miene an.

»Ich habe einen Entschluss gefasst«, sagte sie. »Ich werde Profibowlerin.«

»Kann man damit denn Geld verdienen?«

»Na klar. Es gibt eine richtige Profiliga. Kennst du Barb Raymond?«

»Nein.«

»Sie ist jeden Samstagnachmittag im Fernsehen. Verdient nicht schlecht damit. Und ich könnte das auch. Gus, der Typ, dem die Bowlinghalle gehört, meint, ich soll Profi werden, und der kennt sich aus. Sieht schließlich jeden Tag Hunderte von Leuten bowlen. Er sagt, ich hätte einen ganz ähnlichen Stil wie Barb Raymond.«

»Was ist so besonders an ihr?«, fragte ich.

Dottie ging in die Hocke und fixierte durch die Wohnzimmertapete die Pins am Ende der Bowlingbahn. »Sie bewegt sich wie eine Katze zur Linie, wirft ihren Ball und BUM - Strike. BUM - Strike.« Sie richtete sich wieder auf. »Weißt du, wie das ist, wenn man plötzlich kapiert, dass man für etwas bestimmt ist? Tja, Gott sprach zu mir und sagte: >Dottie, du sollst bowlen.<«

»Weiß Madeline es schon?«

»Noch nicht.«

Wir wandten uns wieder dem Fernseher und Jack Lord zu. Eine schwarze Locke fiel ihm in die Stirn, und in mir zog sich alles zusammen. Es erinnerte mich an Bud.

»Schnapp sie dir, Danno«, sagte Dottie.

Dann kam Werbung, und ich legte das Strickzeug beiseite und lockerte meine Hände.

»Du hast echt lange, schlanke Finger«, sagte Dottie. Sie hielt ihre Hand hoch, und ich legte meine dagegen. Ihre Hand hatte normale Größe, aber ihre Finger waren kurz und dick.

»Dafür hast du perfekte Bowlingfinger«, sagte ich.

Daraufhin fing sie wieder an und erzählte, dass sie versuchen wollte, einen Job in der Bowlinghalle zu kriegen, damit sie umsonst üben konnte, wenn die Bahn geschlossen war.

Wieder ein bisschen Fernsehen. Dann fragte Dottie: »Was hast du eigentlich für Pläne?«

Ich zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht heiraten. Kinder kriegen.«

»Hast du jemand Bestimmtes im Sinn?«

»Vielleicht Bud.«

»Wie soll das denn gehen?«, sagte Dottie. »Er ist doch ganz vernarrt in Susan.«

»Hör mal, du hast deine Träume, und ich hab meine, okay?« Mein Gesicht glühte.

»Reg dich doch nicht so auf.«

»Du findest das vielleicht idiotisch, aber ich nicht.«

»Nimm’s dir nicht so zu Herzen.« Dottie stand auf und streckte sich, dann beugte sie das Knie und tat so, als würde sie einen Bowlingball werfen. »Strike!«, rief sie.

»Nein, stimmt nicht«, sagte ich. »Du hast da rechts einen Pin stehen lassen. Das ist nur ein Spare.«

Achselzuckend richtete sie sich auf und wandte sich zum Gehen. Ich folgte ihr. Sie zog sich Hose, Stiefel und Mantel an, und als sie die Haustür öffnete, hätte uns der Wind beinahe umgestoßen.

»Bis dann«, sagte Dottie und schloss die Tür. Sie war kaum zwei Schritte gegangen, da riss ich die Tür wieder auf und rief: »Ich hab mich vertan! Der Pin ist grad umgefallen. Strike!«

Sie drehte sich um und lächelte. »Dachte ich mir. Dottie Butts macht keine halben Sachen.«

Ich schloss die Haustür. »Du hast deine Träume«, sagte ich erneut. »Und ich hab meine.« Doch ein Teil von mir wusste, dass sie recht hatte. Ich musste mehr raus. Vielleicht konnte ich es ja sogar wagen, mal meinen eigenen Weg zu gehen, ohne mir Sorgen zu machen, dass jemand umkippte oder Gott weiß wohin verschwand.