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Am Donnerstag, dem 1. August, ging Charlie wieder in den Lobster Shack. »Ich hab heute eine Doppelschicht«, sagte sie zu mir. »Geh zum Mittagessen zu Grand.« Als sie weg war, blieb ich im Wohnzimmer sitzen, aß meine Cornflakes und sah mir The Match Game an.
Als Dottie vor dem Fenster auftauchte, schob ich das Fliegengitter hoch und half ihr beim Reinklettern. Mit einem breiten Grinsen ließ sie sich auf den Fußboden plumpsen.
Sie erzählte mir, dass ihre Mutter mit ihrer kleinen Schwester Evie in die Stadt gefahren war. »Ich kann nicht lange bleiben. Wenn sie mitkriegt, dass ich weg bin, gibt’s einen Riesenärger. Sie ist echt stinksauer. In der ersten Woche musste ich morgens das Haus putzen, und nachmittags hat sie mich auf mein Zimmer verbannt. Ich hab gedacht, ich verlier noch den letzten Rest Verstand, und davon hab ich eh nicht so viel.«
Sie berührte mich an der Schulter, und ich zuckte zusammen. »Wo hast du dir denn den Sonnenbrand eingefangen?«, fragte sie.
»Ich war neulich mit Carlie am Strand.«
»Das nenne ich mal ‘ne harte Bestrafung«, sagte Dottie. Wir setzten uns aufs Sofa.
»Das Schlimmste ist, dass wir uns noch vier Wochen nicht sehen dürfen«, sagte ich.
»Stimmt.«
Ich erzählte Dottie von Schiefzahn-Mike.
»Sah er aus wie ‘n Schleimer?«, fragte sie.
»Ja, er hatte so fettiges Zeug in den Haaren.«
»Hm, das ist komisch«, sagte Dottie. »Vielleicht war es nicht derselbe Typ, aber vor ein paar Wochen war jemand mit genauso ‘nem Zahn bei uns und hat gefragt, wo Leeman wohnt. Wollte angeblich Hummer bei ihm kaufen. Mein Vater hat ihm dann stattdessen welche verkauft.«
»Hat Bert ihm gesagt, wo wir wohnen?«, fragte ich.
»Nein. Er hat nur gemeint, er würde Leeman sagen, dass ihm ein Geschäft durch die Lappen gegangen ist. Die beiden haben gelacht, Dad hat ihm ein paar Hummer geholt, und dann ist der Typ wieder gegangen. Sag mal, hast du was zu essen da?«
Als wir beide vor dem offenen Kühlschrank standen, schwang plötzlich mit lautem Quietschen die Fliegengittertür auf. Ich zuckte vor Schreck zusammen. »Jesses!«
»Sofern Jesus nicht in dem Kühlschrank ist, solltest du dich bei ihm entschuldigen«, sagte Grand.
»Tut mir leid«, sagte ich.
»Das sollte es auch. Schließlich ist er für deine Sünden gestorben.« Ihr Blick fiel auf Dottie. »Ich nehme mal an, ich habe dich hier nicht gesehen, Dorothea?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Dottie und verschwand wie ein geölter Blitz.
»Du musst mal mit rüberkommen«, sagte Grand. »Ich bin dabei, Brot für das Bohnenessen morgen Abend zu backen, und da brauche ich deine Hilfe.« Damit marschierte sie aus dem Haus, und ihr breiter Hintern schwang von Seite zu Seite, während ich hinter ihr hertrottete.
Ich nannte sie Grand, weil sie wirklich groß war, in jeder Hinsicht. Sie maß einen Meter fünfundsiebzig und hatte das, was die Leute »kräftige Knochen« nennen. Sie hatte mich auf ihren breiten Hüften herumgetragen, bis sie sicher war, dass ich laufen konnte, ohne mich umzubringen.
Ihr Haus war das älteste von The Point. Es stand einzeln auf einem Felsvorsprung schräg gegenüber unserer Einfahrt. Daddy hielt das Meer und das Wetter im Zaum, indem er das Haus fast jedes Jahr neu anstrich, die Wände weiß und die Fensterläden grün. Neben dem Haus war ein Garten mit Blumen, Obst und Gemüse. Zum Wasser hin neigte sich eine zwanzig Meter breite Rasenfläche bis zum Felsrand, und darunter ging es sechs oder sieben Meter steil hinunter zum Ufer. An der Seeseite war eine verglaste Veranda, von der aus man beobachten konnte, welche Boote rausfuhren und wieder reinkamen. Die große Küche ging nach Süden raus, und durch die beiden Fenster sah man zu unserem Haus hinüber. Im oberen Stock waren zwei Schlafzimmer und das Bad, und von der Diele kam man in ein gemütliches Wohnzimmer.
Am Ende der Diele stand eine Vitrine aus Mahagoni, in der Grand ihre Geschirrsammlung aus rubinrotem Glas aufbewahrte: eine Karaffe, Gläser, Tassen und Untertassen, kleine Schälchen für Gebäck oder Mixed Pickles und noch alles Mögliche andere. Viermal im Jahr nahmen Grand und ich jedes einzelne Teil heraus, wuschen es vorsichtig, trockneten es ab und stellten es zurück in die sorgfältig gewachste und polierte Vitrine. Mein Lieblingsstück war ein kleines rotes Glasherz, das genau in der Mitte lag. Mein Großvater Franklin hatte es Grand zur Hochzeit geschenkt. Grand hing sehr an diesem Herz. Als Daddy zehn Jahre alt gewesen war, hatte Franklin bei einem Abendessen mit Freunden einen Herzinfarkt gehabt und war tot umgefallen.
An Sommertagen saßen wir oft in den Schaukelstühlen auf der Veranda, ich trank eine Brause und las eine Geschichte aus einem der Hardy-Boys-Bücher meines Vaters. Die Bücher waren so alt, dass die Würmer sich an einigen Stellen quer hindurchgefressen hatten. Wenn ich die Bücher schräg hielt und schüttelte, rieselten vertrocknete Wurmreste heraus.
Doch an diesem Tag war keine Zeit zum Lesen. Grand musste Brot backen, und sie schien fest entschlossen zu sein, es mir ebenfalls beizubringen. Ich wickelte mir die Bänder einer Blümchenschürze zweimal um den Bauch und schnürte sie zu, dann stellte ich mich an den alten hölzernen Küchentisch, der so groß war, dass zehn Leute daran sitzen konnten. Der starke Hefegeruch, der aus der riesigen senfgelben Brotschüssel drang, ließ mich zurückweichen.
»Was soll ich tun?«, fragte ich und versuchte, nicht zu atmen.
»Der Teig ist schon zweimal gegangen«, sagte sie. »Drück die Luft raus, streu etwas Mehl auf den Tisch und knete ihn kräftig durch. Dann klopf ihn flach, roll ihn wieder zusammen und knete ihn zu einem Laib. Leg ihn in eine von den Formen und stell das Ganze auf die Fensterbank.«
Bei der Vorstellung, diesen aufgeblähten, fettigen Teigkloß anfassen zu müssen, drehte sich mir der Magen um, aber ich tat, was sie mir gesagt hatte, und pikste mit dem Finger in die bleiche Kugel. Die Hefegase zischten heraus wie ein leiser Furz.
»Heiliger Strohsack«, sagte Grand. »Das ist bloß Teig, Florine. Stell dich nicht so an. Du musst kräftig zupacken. Pass auf, ich zeig’s dir.«
Sie stieß ihre kräftige Faust in den Teig, drückte und zog, schlug und knetete, formte ihn und ließ den Laib in eine Form gleiten. Dann breitete sie ein Geschirrtuch darüber und stellte die Form auf die sonnige Fensterbank, wo bereits vier weitere standen.
»Die Sonne gibt ihnen Kraft«, sagte sie. »Und jetzt beeil dich. Sie sollen ja gemeinsam gehen.«
Beim nächsten Teig gab ich alles, schlug und knetete, so fest ich konnte. Als ich meine zweite Form auf die Fensterbank stellte, packte sie mir schon den dritten Teigkloß auf den Tisch.
Wir schwitzten wie verrückt. Bevor Carlie zur Arbeit gegangen war, hatte sie mir die Haare zu zwei straffen Zöpfen gebunden, die nicht mal ein Sturm zerzaust hätte, aber Grands feine weiße Strähnen, die sie hochgesteckt hatte, hatten sich beinahe gelöst. Wenn ich sie ansah, wurde mir noch heißer.
»Kannst du mir sagen, warum ich mich bereit erklärt habe, das hier zu machen, Florine?«
Ich wusste, warum. Stella Drowns hatte uns in Rays Laden gesehen und festgenagelt. Stella wohnte in einem kleinen Apartment über dem Laden. Sie machte die Kasse, löste Krabbenfleisch aus und erledigte alle möglichen anderen Dinge, für die Ray keine Zeit hatte.
Sie war schmal und blass, mit einem Kissen aus schwarzem Haar, das glänzte wie eine nasse Miesmuschelschale. Sie trug roten Lippenstift und Wimperntusche und lackierte sich die Nägel an ihren langen Fingern. Ihre hellgrauen Augen waren schwarz umrandet. Eigentlich war sie hübsch, bis auf eine lange Narbe, die quer über ihre Wange lief und bis unters Kinn reichte.
Ich hasste sie, weil sie gemein zu Carlie war. Vor Carlie hatte Daddy sich jahrelang immer wieder mal mit Stella getroffen. Angeblich war Stella der Geduldsfaden gerissen, weil er ihr keinen Heiratsantrag machte, und sie hatte The Point verlassen, um zu sehen, ob er ihr nachlaufen würde. Das hatte er nicht getan, Carlie war aufgetaucht, und als Stella sich zur Rückkehr entschloss, waren die beiden schon verheiratet gewesen.
Einmal, ich war damals sieben, waren Carlie, Madeline, Dottie und ich zusammen von Rays Laden nach Hause gegangen. Während Dottie und ich an einem Riegel Turkish Taffy herumkauten, unterhielten sich Carlie und Madeline, die mit den Einkaufstüten auf dem Arm hinter uns hergingen. Carlie sagte zu Madeline: »Ich schwöre dir, diese Frau würde mich am liebsten in Stücke reißen und in alle Winde verstreuen.«
»Was? Wer?«, fragte Madeline.
»Stella«, sagte Carlie. »Wenn sie mich nur ansieht, kriege ich eine Gänsehaut.«
»Ach, nimm dir das nicht so zu Herzen«, sagte Madeline. »Seit dem Unfall ist sie ein bisschen seltsam.«
Stella hatte als Einzige von sechs Jugendlichen einen schweren Autounfall am Pine Pitch Hill überlebt. Es hieß, Glassplitter hätten ihre Wange so aufgeschlitzt, dass die Haut gegen Augen und Nase geklappt war und wieder angenäht werden musste.
Einmal, als ich allein in Rays Laden gegangen war, hatte sie mich dabei ertappt, wie ich die Narbe anstarrte. Sie fuhr mit dem Finger darüber und sagte: »Siehst du dir das hier an, Florine?« Sie beugte sich über den Tresen und senkte die Stimme. »Stell dir vor, ein schöner Sommerabend, all die Jungs und Mädchen um mich herum tot, nur mir ging’s gut, bis auf das Blut, das mir in die Augen lief. Schau sie dir gut an, meine Kleine, damit du nie vergisst, was du besser nicht tust.«
Sie konnte einem Angst einjagen, aber sie wusste auch, wie man Leute umgarnte. Vor ein paar Tagen, als Grand und ich im Laden gewesen waren, um Milch zu kaufen, hatte Stella Grand Komplimente gemacht, wie gut sie doch backen könne. Und jetzt stand Grand in der Küche und backte Brot für die einhundert Gäste, die am Samstag zum Bohnenessen kommen würden. Während wir den Teig dafür bearbeiteten, beschimpfte ich Stella im Stillen mit Ausdrücken, von denen Grand bestimmt nicht wusste, dass ich sie kannte.
»Mir tun die Arme weh«, maulte ich.
»Sei froh, dass du Arme hast«, gab Grand zurück.
Draußen ertönte das Signalhorn eines Bootes.
»Gelobt sei der Herr, sie sind wieder da.« Jeden Nachmittag begrüßte Grand die hereinkommenden Hummerboote. Das ließ sie niemals ausfallen, ganz gleich, was geschah. Es würde Unglück bringen, sagte sie.
Als wir auf die verglaste Veranda traten, glitten zwei ansehnliche Boote an Grands Haus vorbei: Bert Butts rote Maddie Dee, gefolgt von Daddys Carlie Flo, deren dunkelgrüner Bug sich durch den Kanal pflügte. Bert zog noch einmal am Horn der Maddie Dee, und Daddy winkte uns zu. Bud und sein Vater Sam waren auch an Bord der Carlie Flo; sie halfen öfter beim Fang. Ich durfte nicht mit Bud sprechen, aber das würde mich nicht davon abhalten, zum Hafen runterzugehen und Daddy zu begrüßen.