31
Der Winter brachte Grand eine erneute Grippe und mehrere schlimme Erkältungen. Sie kämpfte tapfer dagegen an, mit Medikamenten und selbst gemachten Hausmitteln aus Honig, Ginger Ale und Canada Mints. Sie trank starken, heißen Tee, bis ihr der Dampf aus den Ohren kam, und griff aus medizinischen Gründen sogar zum Whiskey.
»Ich verstehe nicht, warum ich das nicht loswerde«, sagte sie. »Ich komme mir so töricht vor.«
Ich kochte Suppen und Eintöpfe und vergewisserte mich, dass sie alles hatte, was sie brauchte, bevor ich mich auf den Weg zur Schule machte. Meistens war sie auf den Beinen, wenn ich ging, aber es war nicht zu übersehen, dass etwas Hartnäckiges sie am Wickel hatte, und wenn ich nachmittags nach Hause kam, lag sie meistens auf dem Sofa und schlief oder sah fern.
Irgendwann beschloss Susan, wieder mit mir zu reden, obwohl sie nicht halb so freundlich war wie früher. »Tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe«, sagte sie. »Ich glaube, ich war eifersüchtig, weil ihr mich nicht mitgenommen habt. Aber Bud hat mir gesagt, du bist für ihn wie eine Schwester.«
Ich sagte ihr nicht, dass Bud für mich keineswegs wie ein Bruder war. Überhaupt fiel es mir zu der Zeit schwer, für irgendein männliches Wesen, das mir ins Auge fiel oder meinen Arm streifte oder sich auch nur im näheren Umkreis aufhielt, geschwisterliche Gefühle zu entwickeln. Unter meiner Haut glühte es.
Im Mai 1969, zwei Monate vor der Mondlandung, wurde ich siebzehn. Grand nannte mich Fräulein Wankelmut, weil meine Aufmerksamkeit und meine Stimmungen schwankten, flackerten und blakten wie eine tropfende Kerze. Tagsüber arbeitete ich im Garten, backte Brot oder saß auf der Veranda und winkte den Booten zu. Nachts rieb ich mich an meiner Decke, die ich mir zusammengerollt zwischen die Beine schob. Ich wusste nicht, wohin mit mir vor lauter Hunger und Sehnsucht danach, zu berühren und berührt zu werden. Diese Sehnsucht fühlte sich wirklicher an als der Rest meines Lebens.
Der Frühling stieß gegen den Sommer, entschuldigte sich und eilte weiter. Wir sahen zu, wie der erste Mensch auf dem Mond landete, staunten über dieses Wunder, und dann war es vorbei, und wir alle landeten wieder auf der Erde.
»Wer weiß, vielleicht haben sie da oben ja Carlie getroffen«, sagte ich zu Dottie, an einem der seltenen Tage, die wir zusammen verbrachten.
Sie arbeitete den Sommer über als Wanderführerin im Naturschutzgebiet. Es war interessant, sagte sie, wenn es sie nicht gerade wahnsinnig machte. Sie hatte immer tolle Geschichten zu erzählen. »Neulich war wieder so ein Dämlack dabei. Ich sag zu dem Kerl: >Das ist Giftsumach, den sollten Sie besser nicht anfassen<, aber natürlich macht er’s trotzdem. >Das ist kein Giftsumach<, sagt er, und ich sag: >Doch, ist es<, und dann bin ich weitergegangen. Und was glaubst du, ‘ne Woche später kommt er anmarschiert, als ich mich gerade mit ein paar Mädchen vom YMCA-Camp unterhalte, dreht mir seine Kehrseite zu, zieht sich die Shorts runter und das Hemd hoch und sagt: >Siehst du, was mir deinetwegen passiert ist?< Himmel, der Kerl war bis zu den Ohren mit Ausschlag bedeckt. Ich sag zu ihm: >Genau deshalb hatte ich Sie davor gewarnt, das Zeug anzufassen.< Ich dreh mich zu den Mädchen um - die standen mit offenem Mund da, als wollten sie Mücken fangen - und erkläre ihnen: >Das ist der Grund, warum man Giftsumach nicht anfassen soll.< Da fängt der Typ an, er will den Geschäftsführer sprechen. Ich hab ihm gezeigt, wo das Büro ist, und dann ist er abgedampft.«
»Klingt nach einem Arschloch«, sagte ich.
»Wahrscheinlich hat’s ihn da auch gejuckt«, sagte Dottie.
Wir saßen am Ende des Kais und ließen die Beine baumeln. Ich sah hinunter in das Grün, das bei Hochwasser unergründlich schien. Wenn das Meer sich zurückzog, kamen die muschelbesetzten Felsen und Algen zum Vorschein, aber bei Flut war nichts davon zu sehen.
»Du glaubst, Carlie ist auf dem Mond?«, fragte Dottie.
»Wieso nicht? Ich hab sie mir schon überall vorgestellt. Warum also nicht auf dem Mond?«
»Ist schon ziemlich lange her, dass sie weg ist.«
»Ja, eine halbe Ewigkeit«, sagte ich. Die Sonne knallte uns auf den Kopf.
»Aber ich bete immer noch jeden Abend für sie«, sagte Dottie.
»Wirklich?« Die Vorstellung rührte mich. »Ich wusste gar nicht, dass du überhaupt betest.«
»Was glaubst du, woher die ganzen Strikes kommen?«
Eines Samstagabends im August saßen Grand und ich vorm Fernseher. Gerade als ich überlegte, ob ich raufgehen und mich mit meinem Bettzeug vergnügen sollte, klopfte es an der Tür.
»Erwartest du Besuch?«, fragte ich Grand.
»Jimmy Stewart wollte noch vorbeischauen«, sagte sie. »Vielleicht ist er es.«
James Stewart war Grands Lieblingsschauspieler. »Er sieht aus, als könnte man gut mit ihm auskommen«, sagte sie oft. »Ein richtig netter Kerl.«
»Ich schau mal nach.« Als ich die Tür öffnete, stand Susan vor mir.
»Kannst du mal kurz rauskommen?«, flüsterte sie. »Wer ist es denn?«, rief Grand. »Susan«, rief ich zurück.
»Hallo, Susan«, rief Grand. »Komm nur rein. Und bring Bud mit. Sag ihm, ich hab ein paar von den Gewürzkeksen, die er so gerne mag.«
Ich verdrehte die Augen. »Bin gleich wieder da«, sagte ich zu Susan und ging zurück ins Wohnzimmer. Grand hatte sich schon halb aus dem Sofa gehievt, um uns ein paar Leckereien hinzustellen.
»Lass das.« Mein Ton fiel schärfer aus, als ich beabsichtigt hatte. Ich holte tief Luft und sagte sanfter: »Susan möchte draußen mit mir reden. Ist das in Ordnung?«
»Na ja, schon. Aber sie kann auch gerne reinkommen.«
»Das weiß sie«, sagte ich und rannte fast wieder hinaus.
Susan sah hinunter zum Kai.
»Was ist los?«, fragte ich sie.
Sie schob ihre kleinen Hände in die aufgenähten Taschen und seufzte. »Ich hoffe, du flippst jetzt nicht aus, aber ich hab dir ein Date organisiert.«
»Was soll das heißen, ein Date organisiert?«
»Meine Güte, jetzt reg dich nicht gleich auf, okay?«
»Wer hat denn gesagt, dass ich ein Date brauche?«
»Niemand, aber wenn du eins haben willst, dann kannst du eins haben. Und ich hoffe, du willst, er ist nämlich hier.«
»Wer ist hier?«
»Kevin Jewell.« Der Haarfan.
»Wir haben ihn in Long Reach getroffen, als Bud Bier geholt hat, und er ist extra hergekommen, um dich zu sehen«, sagte Susan. »Kevin findet dich toll, hat er gesagt, aber letztes Jahr war er zu schüchtern, um dich zu fragen, ob du mit ihm ausgehst.«
Ich schnaubte. »Der und schüchtern? Dass ich nicht lache.«
Susan runzelte die Stirn. »Er ist ein netter Kerl. Du solltest ihm eine Chance geben. Aber wenn du nicht willst, denke ich mir halt was aus. Musst du wissen.«
Sie drehte sich um und ging die Straße hinunter, während ich noch überlegte. Drinnen warteten Grand, eine langweilige Fernsehsendung und eine weitere Liebesnacht mit meinem Bettzeug. Meine Füße setzten sich in Bewegung und folgten Susan Richtung Kai. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, Bud und Kevin zu erkennen, aber die Nacht war voll dunkler Schatten.
Eine Zigarettenspitze brannte ein Loch in die Dunkelheit. Ich fand es grässlich, dass Bud jetzt rauchte, aber was ging es mich an? Seine Freundin schien nichts dagegen zu haben. Als wir näher kamen, sagte er: »Hey.« Er zog an seiner Zigarette, und seine Augen glühten in dem orangeroten Schein.
»Hey«, sagte ich.
»Hi«, sagte Kevin. Ich konnte nicht viel von ihm sehen, aber immerhin rauchte er nicht.
»Schön, nachdem wir das erledigt haben, können wir ja jetzt zum Bier übergehen«, sagte Susan. Bud griff hinter sich, und ich hörte eine Papiertüte rascheln. Er holte eine große Dose ‘Gansett hervor und reichte sie mir. Ich lehnte mich an das Geländer und öffnete den Verschluss. Ich hatte noch nie zuvor eine ganze Dose Bier getrunken, und erst recht keine mit einem halben Liter. Aber ich hatte gesehen, wie sie runtergekippt, ausgerülpst und in den Schnee gepinkelt wurden. All das konnte ich auch, und ich nahm an, dass das Bier mit mir wohl nichts anderes machen würde.
Kevin stellte sich neben mich. Die Härchen an unseren Armen berührten sich, und ich rieb mir über die Haut, um das Kitzeln zu unterdrücken. Bud und Susan, die in dem grauschwarzen Zwielicht nur als Umrisse zu erkennen waren, standen uns gegenüber. Wir tranken alle einen Schluck von unserem Bier.
Dann sagte Kevin zu mir: »Wie wär’s, wenn du mir ein bisschen die Gegend zeigst?«
»Geh doch mit ihm über die Felsen runter zu dem kleinen Strand«, schlug Susan vor.
»Aber seid vorsichtig. Da ist es ziemlich glatt«, sagte Bud.
»Das weiß ich selber«, gab ich zurück.
»Ich weiß, und ich an deiner Stelle hätte Schiss, mir auf den Felsen den Schädel einzuschlagen.«
»Sie ist ein großes Mädchen, Buddy«, sagte Susan. »Sie kann allein auf sich aufpassen.«
»Nehmt mein Feuerzeug mit«, sagte Bud und reichte es Kevin.
Im schwachen Schein des Feuerzeugs sah der Pfad aus wie eine weiße Schlange, die sich zum Strand hinunterwand. Dann verschwand die Schlange unter einer Mauer aus Felsbrocken.
»Wir müssen um diese Felsen herum«, sagte ich. Kevin legte seine eine Hand auf meine Schulter und hielt mit der anderen das Feuerzeug hoch. »Und dann hier entlang. Achtung, jetzt geht’s runter.« Ich hatte es kaum ausgesprochen, da knickte ich um und fiel, und dann saß ich auf meinem Hintern und zischte vor Schmerz durch die Zähne. Gluckernd lief das Bier aus meiner Dose in den Sand. Kevin richtete sie auf und kniete sich neben mich. »Alles okay?«, fragte er.
»Schon gut«, japste ich. »Nicht weiter schlimm.«
»Danach hört sich’s aber nicht an«, sagte Kevin. »Halt dich an mir fest.« Er half mir, zu einem der Felsen zu hoppeln und mich hinzusetzen. Mit dem flackernden Feuerzeug leuchtete er auf meinen Fuß.
»Na toll«, sagte ich. Ich hatte meine ausgeblichenen blauen Turnschuhe an, die ich nur noch zu Hause trug. Sie waren zu klein, und meine wachsenden Füße hatten am großen und am kleinen Zeh Löcher in den Stoff gebohrt. Sie sahen furchtbar aus, und ich legte die Hände über die Augen.
Doch Kevin sagte nichts zu den Löchern, und seine Hände waren sanft. Er stützte meinen Fuß ab und löste vorsichtig die Schnürsenkel. »Doppelknoten, hm?« Er lächelte mich an. »Mache ich auch immer.« Er zog mir den Schuh aus und umfasste meinen nackten Fuß mit seiner Hand. Dann hielt er das Feuerzeug dicht an meinen Knöchel, sodass die Haut ganz warm wurde, während er ihn musterte.
»Probier mal, ob du den Fuß bewegen kannst«, sagte er.
Ich zuckte vor Schmerz zusammen, aber es ging.
»Und jetzt die Zehen.« Auch das ging.
»Nichts Schlimmes passiert.« Er reichte mir mein Bier. »Trink einen Schluck.« Es schmeckte wie kaltes Metall, aber es nahm dem Schmerz ein wenig die Schärfe.
Kevin setzte sich neben mich.
»Geht’s wieder?«, fragte er. Ich nickte, und er strich mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Du hast unglaublich tolle Haare«, sagte er. »So wild wie ein Fluss im Frühling.« Er legte seine Lippen an mein Ohr und flüsterte: »Ich finde dich schön.«
Ich kicherte, und dabei bewegte ich versehentlich meinen Knöchel. Der Schmerz durchzuckte mich wie eine Gewehrkugel.
»Bist du sicher, dass alles okay ist?«, fragte Kevin, als er sah, wie ich das Gesicht verzog. »Ja.«
»Gut.« Er nahm meine Hand und küsste sie. »Denn alles, was wir haben, ist dieser Augenblick. Stell dir vor, in einer halben Stunde würde die Welt untergehen, und das ist die ganze Zeit, die dir noch bleibt. Wärst du da nicht lieber zu zweit als allein?«
Bevor ich einen Lachanfall wegen seines Geschwafels kriegen konnte, war seine Zunge in meinem Mund, meine Zunge berührte seine, und dann lagen wir im Sand, er halb auf mir, und wir küssten uns wie die Besessenen. Kevin schob seine Hand zwischen meine Beine und drückte. Ich stöhnte, und er tat es noch einmal.
»Gut so?«, fragte er.
Er schob meine Beine auseinander, wobei er meinen Knöchel, den er eben noch so rücksichtsvoll behandelt hatte, über den Kies und den Sand schleifte. Als ich vor Schmerzen aufschrie, murmelte er: »‘tschuldige«, und öffnete den Reißverschluss seiner Jeans. Etwas Bleiches und Hartes sprang mir entgegen.
Und dann drang ein schwaches Rufen an mein Ohr, woher, konnte ich nicht sagen, aber es klang zittrig und voller Sorge.
»Florine«, wimmerte es. »Florine.« Ich stieß Kevin von mir, dass er hintenüberfiel, und rappelte mich mühsam hoch. Auf einem Bein hüpfte ich zum Ufer und sah aufs Meer hinaus, voller Angst, was von dort kommen mochte. Kevin folgte mir.
»Was zum Teufel…?«, fragte er.
Dann wieder die Stimme: »Flooriiiiine.«
Als sich Schritte näherten, wandte Kevin sich ab und versuchte, seinen Reißverschluss wieder hochzuziehen. Bud rief von irgendwo oberhalb der Felsen: »Grand ruft nach dir, Florine.«
Der Ruf ertönte erneut, und da erkannte ich die Stimme, und ich konnte sogar hören, wo Grand stand - auf der Straße vor dem Haus.
»Das ist meine Großmutter«, sagte ich zu Kevin.
»Oh Mann. Kann sie nicht warten?«
»Florine?«, rief Grand.
»Soll ich ihr sagen, dass du hier unten bist?«, fragte Bud. »Nein, ich komme rauf«, sagte ich.
»Na gut«, flüsterte Kevin mir ins Ohr. »Dann eben später. Wir haben ein Date mit dem Schicksal.«
Kevin und Bud halfen mir den Pfad hinauf zu Grands Haus.
»Ich wollte gerade deinen Vater holen«, sagte sie, als wir bei ihr ankamen. »Hast du dich verletzt?«
»Ich bin nur umgeknickt«, sagte ich.
»Na, vielen Dank, Jungs, dass ihr sie nach Hause gebracht habt.« Grand sah Kevin an. »Hallo«, sagte sie und reichte ihm die Hand. »Ich bin Florines Großmutter, Mrs. Gilham.«
»Kevin Jewell, Ma’am«, sagte Kevin. Grand lud alle ein hereinzukommen, doch Kevin sagte, er müsse zurück in die Stadt, und kurz darauf fuhren er und Bud und Susan am Haus vorbei, während ich in die Küche humpelte. Bud hupte im Vorbeifahren, und Grand sagte: »Sah nett aus, der Junge.«
Ich knirschte mit den Zähnen. Am liebsten hätte ich erwidert: »Er wollte mich entjungfern, Grand, und das hätte er auch getan, wenn du die Klappe gehalten hättest.« Aber ich schluckte meinen Ärger hinunter und schwieg, während Grand einen alten Verband um meinen Knöchel wickelte. Sie stellte sich auf der Treppe hinter mich, als ich mühsam Stufe um Stufe erklomm, und half mir in mein Zimmer. Nachdem ich mir ein Kissen unter den Knöchel geschoben hatte, streckte ich mich mit einem Seufzer auf dem Bett aus. Ich fragte mich, ob und wann Kevin wiederkommen würde. Doch im Grunde wusste ich die Antwort bereits.