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Drei Tage später kam Daddy aus Crow’s Nest Harbor zurück.
Ich saß den ganzen Sonntag am Picknicktisch vor unserem Haus und hielt nach ihm Ausschau. Endlich rumpelte der Pick-up die Straße hoch. Daddy war kaum ausgestiegen, da war ich schon bei ihm und klammerte mich an ihn wie ein kleines Äffchen. Er drückte mich an sich und trug mich ins Haus.
»Sam hat ein Sechserpack ‘Gansett für dich vorbeigebracht«, sagte Grand zu ihm. »Ich soll ihm Bescheid sagen, wenn du wieder hier bist. Willst du ihn sehen?«
»Meinetwegen«, sagte er. »Von mir aus ruf alle an, und ich erzähl ihnen, was los ist.« Daddy und ich setzten uns an den Picknicktisch, und nach und nach trudelten alle aus The Point ein.
Carlies Bild hing überall in der Stadt, erzählte er uns, und am Montag würde es auch in der Zeitung abgedruckt. Sämtliche Läden im Ort waren bereits überprüft worden. Die Polizei von Crow’s Nest Harbor, die State Police und die Küstenwache suchten nach ihr.
Als er von der Küstenwache sprach, grub ich meine Finger in seinen Arm. Ich hatte schon eine Liste mit »Schrecklichen Dingen, die passiert sein konnten« angefangen. Gedächtnisverlust und Entführung standen ganz oben, aber jetzt konnte ich noch eine andere, endgültigere Möglichkeit hinzufügen.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, nahm Daddy meine Hand und drückte sie. »Florine, meine Kleine, keiner weiß, was passiert ist. Aber sie tun alles, was in ihrer Macht steht, und ich bin sicher, dass sie es herausfinden. Jemand wie deine Mutter verschwindet nicht einfach so.«
»Was haben sie dich gefragt?«, wollte Sam wissen.
»Als Erstes, warum sie sich die Haare gefärbt hat. Und warum Patty sich die Haare gefärbt hat.« Daddy schüttelte den Kopf. »Was sollte ich denn darauf sagen? Dass sie einfach Lust dazu hatte und es getan hat? Aber genau das hab ich gesagt. Soweit ich weiß, war das der einzige Grund. Dann wollten sie wissen, ob sie glücklich war. Ob sie unruhig war. Ob sie sich seltsam benommen hat. Ob sie heimlich telefoniert hat oder vor mir die Post durchsehen wollte. Ob sie plötzlich viel Geld ausgegeben hat. Ob sie ein eigenes Konto hat. Worüber wir gestritten haben. Lauter so Zeug.« Daddy trank einen großen Schluck Bier und wischte sich über den Mund. »Viel konnte ich ihnen nicht erzählen. Sie hat immer vor mir die Post durchgesehen. Ich weiß nicht, ob sie heimlich telefoniert hat. Und von einem Konto weiß ich auch nichts. Die Reise hat sie von ihrem Trinkgeld bezahlt. Manchmal war sie glücklich, manchmal nicht, genau wie wir alle. Und gestritten haben wir uns meistens darüber, dass wir nie verreisen und dass ich ein Dickkopf bin.«
»Haben sie bei ihrer Familie angerufen?«, fragte Madeline.
»Ja, aber ohne Erfolg. Ich hab mit ihrem Bruder gesprochen, aber das hat auch nichts gebracht. Wenn ihr meint, ich war schweigsam, dann versucht mal, irgendwas aus Robert rauszukriegen. Die Mutter ist schwer krank, hat er gesagt, und der Vater ist vor einem Jahr gestorben. Keiner hat was von Carlie gehört.«
»War trotzdem gut, jemanden runterzuschicken, der mit ihnen redet«, meinte Ida. »Vielleicht wissen die ja irgendwas über sie, was wir nicht wissen.«
»Das haben sie vor«, sagte Daddy.
Wir saßen ein paar Stunden da draußen. Daddy rauchte eine Chesterfield nach der anderen und trank allein ein ganzes Sixpack ‘Gansett. Grand machte für alle gebratenen Fisch mit Mais, aber Daddy und ich stocherten nur auf unseren Tellern herum.
Dottie holte mein Krocketspiel und spielte gegen sich selbst, indem sie abwechselnd eine blaue und eine grüne Kugel durch die Tore schlug. Als die untergehende Sonne die Spitzen der Kiefern mit mattem Orange betupfte, gingen alle nach Hause.
Ein Mückenschwarm begann um unsere Köpfe zu sirren, und so verschwanden wir nach drinnen.
»Ich weiß, es ist erst halb neun, aber ich bin fix und fertig«, sagte Daddy. »Ich muss ins Bett.«
»Das glaube ich dir«, sagte Grand. »Florine, willst du heute bei mir schlafen?«
»Nein, ich will bei Daddy bleiben«, sagte ich. Er rieb sich mit den Händen durchs Gesicht, und Grand meinte: »Ich glaube, wir sollten ihn in Ruhe schlafen lassen.«
»Was ist, wenn Carlie anruft?«, fragte ich.
»Dann sage ich euch sofort Bescheid«, versprach Daddy.
Also gingen Grand und ich nach drüben. Es war das erste Mal seit Tagen, dass ich das Haus verließ. »Wir sollten ihn ein bisschen in Ruhe lassen, Florine«, sagte Grand. »Er muss erst mal wieder zu sich kommen.«
An dem Abend schläferte mich der gleichmäßige Rhythmus von Grands Schnarchen sofort ein, und ich wachte erst um neun am nächsten Morgen wieder auf. Als ich nach unten ging, sah ich durch die Fensterscheibe in der Küchentür hinunter zum Hafen. Die Carlie Flo lag nicht an ihrem Platz.
»Daddy ist weg«, rief ich und rannte, so schnell ich konnte, im Schlafanzug aus dem Haus und zu uns hinüber. Was, wenn das Telefon klingelte? Was, wenn Carlie das Gedächtnis verloren hatte und nach Hause kam und dann wieder verschwand, weil sie nicht wusste, ob es wirklich ihr Haus war?
Grand fand mich in der Küche, direkt vor dem Telefon.
»Florine, meine Nummer ist die nächste auf der Liste«, sagte sie. »Dein Daddy muss arbeiten. Sich um Alltagsdinge zu kümmern, kann ganz tröstlich sein. Parker hat meine Nummer, und Carlie weiß, dass sie mich anrufen kann. Zieh dich an, und dann arbeiten wir im Garten, bevor es zu heiß wird.«
Ich zupfte Unkraut und kniff das Verblühte aus den klebrigen rosafarbenen Petunien, die Grands Garten einrahmten. Von ihrem schweren Duft wurde mir ganz komisch, deshalb versetzte Grand mich in den Gemüsegarten, wo ich das Ungeziefer in den Tomaten zerdrückte.
Gegen elf kam Patty zu uns raufgefahren und parkte vor Grands Haus. Ihr gefärbtes rotes Haar wirkte rostig, und unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Ich schmiegte den Kopf zwischen ihre weichen Brüste und wollte sie gar nicht wieder loslassen. »Es tut mir so leid, meine Süße«, sagte sie. Grand bat sie in die Küche, und sie erzählte uns, was sie wusste. Das meiste davon hatten wir schon gehört. Sie hatten ihr eine Menge Fragen gestellt, genau wie Daddy. Warum sie sich die Haare gefärbt hatte. Warum sie nach Crow’s Nest Harbor gefahren waren. Ob Carlie und Daddy sich gut verstanden. Ob Carlie vorhatte, sich mit jemandem zu treffen. Ob Carlie leicht Kontakte knüpfte. Ob sie mit einem Fremden mitgehen würde.
»Was ist mit Mike?«, fragte ich sie.
Patty sah mich verwirrt an. »Welcher Mike?«
»Der Typ am Strand mit den schwarzen Haaren.«
Patty schüttelte den Kopf. »Nein, Florine, das ist nur ein Gast. Er ist verheiratet. Er flirtet gerne, aber das hat nichts zu bedeuten.«
»Er mochte sie wirklich«, sagte ich.
»Ja, das stimmt, aber sie mochte ihn nicht auf die gleiche Art.«
»Nun ja, Carlie liebt Leeman«, sagte Grand. »Für sie hat es nie einen anderen gegeben.«
Patty stimmte ihr zu. »Die Polizei hatte Carlies Koffer. Hat er ihn zurückbekommen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Grand. »Ich habe ihn nicht gesehen.«
»Ich schau mal nach«, sagte ich, und bevor sie mich davon abhalten konnten, flitzte ich schon die Einfahrt hinunter zu unserem Haus. Ich fand den blauen Koffer in Daddys Pick-up, auf dem Boden unter dem Beifahrersitz. Ich zerrte ihn heraus, schleppte ihn nach drinnen und klappte ihn auf.
Ihr Carlie-Duft nach Orangen und Pfingstrosen trieb mir die Tränen in die Augen, während ich auf den unordentlichen Haufen ihrer Kleider starrte. Es machte mich wütend, dass sie ihre Sachen so durchwühlt hatten. Ich fand, es hätte wenigstens jemand den Anstand haben können, sie wieder zusammenzufalten. Stattdessen tat ich es, und ich sog dabei den Duft jedes einzelnen Kleidungsstücks ein. Ich erinnerte mich daran, wann ich sie zuletzt in dieser Bluse, in jenen Shorts und in dem Badeanzug gesehen hatte, mit dem sie am Mulgully Beach gewesen war. Als ich ihr grünes Lieblingssommerkleid fand, vergrub ich mein Gesicht darin und weinte, bis es ganz durchnässt war.
Ein wenig später kam Grand rüber, setzte sich neben mich auf den Fußboden, was nicht leicht für sie war, und legte mir ihre große Hand auf die Schulter.
»Patty musste los«, erklärte sie mir. »Sie hat gesagt, sie ist immer für dich da, wenn du sie brauchst.«
Später erfuhr ich von Dottie, die gehört hatte, wie Madeline sich mit Tillie Clemmons unterhielt, die eigentlich niemandem irgendwas erzählen durfte, dass Parker ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte, die Polizei glaube, Carlie und Patty hätten das Ganze geplant. Dass Carlie weggelaufen war und Patty sie deckte. Sie hatten Patty nach jedem Mann gefragt, der ins Restaurant gekommen war, und wissen wollen, wie Carlie sich in seiner Gegenwart benommen hatte, und sie hatten sie auch gefragt, ob sie ein Verhältnis mit Daddy hatte. Man hatte zwar keine Anklage gegen sie erhoben, und sie konnte sich frei bewegen, aber sie musste sich in regelmäßigen Abständen bei der Polizei melden.
Zwei Tage nachdem sie bei Grand und mir gewesen war, ging Patty fort. Auf dem Weg schaute sie noch kurz bei uns vorbei. »Tut mir leid, aber ich halte es hier nicht mehr aus«, sagte sie zu mir. »Ich wünschte, mir würde noch irgendwas einfallen, das helfen könnte. Ich vermisse sie auch. Sie ist meine beste Freundin.« Sie gab mir eine Adresse und versprach, sich zu melden. Dann fuhr sie nach New Jersey, wo ihre Familie lebte. Ich schrieb ihr einmal, aber es kam nie eine Antwort.
Am Tag nachdem Patty fortgegangen war, kam ein Mann von der State Police zu uns ins Haus, um mit Daddy und mir zu reden. Parker begleitete ihn. Im Gegensatz zu seinem Bruder Ray, der klein und rund war wie ein Bierfass, war Parker groß, mit grau-schwarzem Haar und dichten, zusammengewachsenen Brauen, die über stürmischen, dunkelgrünen Augen Wache hielten. Aber neben dem anderen Polizisten wirkte selbst Parker wie ein Zwerg.
»Das ist Trooper Scott Sargent«, sagte Parker, und dann setzten Daddy und die beiden sich zu mir an den Küchentisch. Trooper Sargent hatte einen blank rasierten Schädel, aber ein nettes Gesicht. Seine Augen waren haselnussbraun wie meine eigenen, und seine Mundwinkel zeigten schwungvoll nach oben. Er legte seinen Hut auf den Tisch und faltete die Hände, während er mir Fragen stellte. Warum ich meine Mutter Carlie nannte. Ob sie manchmal ohne Grund traurig war. Ob sie flüsterte, wenn sie am Telefon war. Ob sie irgendwann davon gesprochen hatte, dass sie fortgehen wollte. Ob sie manchmal ohne jeden Grund wütend wurde. Ob schon mal fremde Männer im Haus gewesen waren, wenn Daddy nicht da war. Ob ich irgendwann gesehen hatte, dass sie mit fremden Männern sprach.
»Mike«, sagte ich, obwohl Patty gemeint hatte, er hätte nichts damit zu tun.
Trooper Sargent sah Daddy und Parker an.
»Das ist der Vollidiot - entschuldige, Florine -, mit dem wir schon geredet haben. Patty hatte ihn erwähnt«, erklärte Parker dem Trooper. »Er hat ein Alibi. An dem Tag, als Carlie verschwunden ist, war er mit seiner Frau im Krankenhaus, weil sie ihr erstes Kind bekommen haben.«
Danach gingen Parker und Trooper Sargent. Daddy brachte sie zur Tür. Dann setzte er sich mir gegenüber und sagte: »Bald Zeit fürs Abendessen. Was möchtest du?«
Als er den Ausdruck auf meinem Gesicht sah, kam er sofort zu mir und drückte mich so fest an sich, dass mir die Tränen seitwärts an den Wangen runterliefen.
Der August tickte hinüber in den September. Ich saß oft stundenlang auf dem großen weißen Stein am Ende unserer Einfahrt und beobachtete die Straße, lauschte auf das Geräusch eines Autos, hielt Ausschau nach einer zierlichen Frau, die den Hügel herab- und auf mich zukam. Die Tage gingen vorüber, und ich fühlte mich wie taub. Dottie hockte stundenlang bei mir, und ab und zu kamen auch Bud und Glen vorbei. Aber die meiste Zeit saßen wir nur herum und schwiegen, weil ich an nichts anderes denken konnte als daran, dass meine Mutter verschwunden war. Meine Mutter, die mir noch vor einem Monat die Zehennägel knallrot angemalt hatte. Der Lack war mittlerweile halb abgeplatzt, aber wenn ich auf meine Füße schaute, dachte ich an ihre kleinen Hände, die ruhig und gleichmäßig pinselten.
Daddy kaufte mehr ‘Gansett und erweiterte seine Getränkeauswahl um Wodka. Jeden Abend saß er vor dem Fernseher, während ich auf dem Sofa neben seinem Sessel einschlief. Jeden Morgen wachte ich in meinem Bett auf, in das Daddy mich getragen hatte. Und den ganzen Tag über betete ich, dass meine Mutter zurückkommen würde.