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Die Mädchen und Jungen in Long Reach beäugten uns neugierig, als wir in der achten Klasse auf die Junior Highschool kamen. Ein paar Idioten meinten, wir würden nach Fisch riechen, weil wir aus The Point kamen. Die Junior High kam uns riesig vor nach der kleinen Dorfschule, die wir bisher besucht hatten, und überall wimmelte es von Leuten. Nach ein paar Wochen hatte es sich herumgesprochen, dass ich das Mädchen war, dessen Mutter verschwunden war. Die mitleidigen Blicke der anderen gingen mir auf die Nerven.

Während ich in den Pausen durch die Flure ging, stellte ich mir vor, wie Carlie als Schülerin mit ihren vielen Freundinnen geplaudert und gelacht hatte. Ob sie ein großes, dünnes Mädchen wie mich wohl bemerkt hätte? Ob sie mich zu ihrer Freundin gemacht hätte?

Allein war ich schüchtern wie ein Maulwurf. Wenn ich die Flut von Leuten sah, die sich durch die dämmrige Eingangshalle schoben, in Klassenzimmer abbogen oder plötzlich hinter irgendwelchen Türen auftauchten, wäre ich am liebsten nach The Point zurückgerannt. Stattdessen packte ich meine Bücher fester, biss die Zähne zusammen und beging den Fehler, die Aufmerksamkeit von Terry Comeau auf mich zu ziehen, der Anführerin einer stacheligen Bande von Mädchen, die in meiner Klasse waren. Eines Tages ging ich im Flur hinter ihnen, als sie plötzlich stehen blieben und sich um jemanden scharten. »Chick, chick, chick«, riefen sie. »Chick, chick, chick Als eine von ihnen ein Stück beiseiterückte, sah ich das arme Wesen, auf das sie es abgesehen hatten. Es war Rose. Ihre unverändert schmächtige Gestalt duckte sich über ein paar Bücher, und auf ihrem Gesicht lag dasselbe kleine Lächeln wie früher. »Here a chick, there a chick, everywhere a cbick, chick«, sang Terry, und beim Refrain stimmten die anderen mit ein: »Old Macdonald had a farm, ee-eye, ee-eye, oh.« Ohne nachzudenken, griff ich in den Kreis aus Dornengestrüpp und zog Rose heraus. »Lasst sie in Ruhe«, sagte ich, und wir gingen davon. »Na, da haben sich ja zwei Zurückgebliebene gefunden«, rief Terry uns nach. Als wir weit genug von ihnen weg waren, steuerte ich Rose in einen ruhigen Winkel.

Ich beugte mich zu ihr hinunter und sagte: »Ich bin’s, Florine. Erinnerst du dich an mich?«

Sie blickte aus ihren schräg stehenden Augen zu mir auf und blinzelte.

»Ich habe dir in Mrs. Richmonds Klasse bei Mathe geholfen. Dottie und ich haben dich mal nach Hause gebracht.«

»Dottie?« Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Ihr habt mich damals nach Hause gebracht.«

Ich nickte. »Wo ist dein Klassenzimmer?«

Rose führte mich durch den Flur, eine Treppe hinauf, durch einen weiteren Flur und in einen sonnendurchfluteten Raum. Etwa zehn weitere Schüler schauten mich an. Einige sahen ein bisschen seltsam aus, so wie Rose, und andere sahen sehr seltsam aus, wie zum Beispiel ein Junge, der in einer Ecke in einem Rollstuhl saß, verdreht wie ein krumm gewachsener Ast.

»Rose! Da bist du ja!« Eine rundliche Frau mit hellbraunem Haar kam auf uns zu. »Du musst um Erlaubnis fragen, bevor du hinausgehst.« Sie sah eher besorgt aus als streng. »Hallo«, sagte sie zu mir. »Hast du Rose zurückgebracht?«

»Wie man’s nimmt«, sagte ich. »Sie wusste schon, wo sie hinmusste.«

»Oh ja, Rose kennt ihr Klassenzimmer«, sagte die Lehrerin. »Trotzdem danke. Ich bin übrigens Miss Belanger.«

»Das ist Florine«, sagte Rose. »Wir sind zusammen zur Schule gegangen.«

Die Lehrerin sah überrascht aus. »Oh! Tatsächlich?«

»Hast du meinen Poppy gesehen?«, fragte Rose mich. »Ich hab ihn schon lange nicht mehr gesehen.«

»Nein«, sagte ich. Ich fragte mich, ob der Teufel ihn und Bigger durch ein stinkendes Loch im Boden gezerrt und dann alles wieder zugescharrt hatte.

Miss Belanger sagte: »Rose lebt seit ungefähr einem Jahr bei mir. Sie ist eine richtige Künstlerin. Wenn du Zeit hast, können wir -« Doch Rose zog mich bereits zu einer Wand und deutete auf ein Bild in einem dunklen Holzrahmen. Drei Figuren, Engel oder Mädchen, schwebten in weiß-blauen Kleidern an einem purpurroten, von Sternen und Kometen übersäten Himmel. Weit unter ihnen zeichneten sich drei Häuser mit gelben Lichtquadraten vor dem Abendhimmel ab. In einem Haus saß genau in der Mitte ein Herz. Beim zweiten hockte ein lächelnder Vollmond auf dem Dach. Im dritten befand sich ein Augenpaar, das zu den drei Engelmädchen hinaufschaute.

»Es ist wunderschön«, sagte ich.

Miss Belanger schrieb mir eine Notiz für meine Lehrerin, um zu erklären, warum ich zu spät kam.

In der nächsten Pause riefen Terry und ihre Bande mir »Spastifreundin« hinterher.

»Ignorier sie einfach«, sagte Grand, als ich ihr davon erzählte. »Gib ihnen nicht die Befriedigung, dich darüber zu ärgern.«

Warum Grand meinte, dass Gemeinheit einfach verschwand, wenn man sie ignorierte, leuchtete mir nicht ein. Ich ärgerte mich trotzdem darüber. Dennoch gab ich mir Mühe, möglichst wenig aufzufallen. Wenn ich ins Klassenzimmer kam, ging ich direkt zu meinem Platz und starrte so konzentriert auf die Tafel, dass ich nach einer Weile lesen konnte, was in der Stunde vorher dort gestanden hatte.

Eines Tages saßen wir herum und warteten auf eine Lehrerin, die sich verspätet hatte. Während die anderen sich unterhielten, hielt ich den Kopf gesenkt und kritzelte Blümchen in mein Heft.

»Du hast schöne Haare«, sagte jemand hinter mir.

Ich kritzelte weiter.

»Hey, du hast schöne Haare«, wiederholte er und stupste mich in den Rücken.

Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Hinter mir saß ein Junge, dessen Nase ein bisschen schief war, als wäre sie mal gebrochen gewesen, und an der Lippe hatte er eine Narbe. Als ich ihn ansah, lächelte er mich mit großen weißen Zähnen an. »Hi«, sagte er. »Du hast schöne Haare. Es funkelt richtig, das Rot. Sieht toll aus.« Er hielt mir seine große, kräftige Hand hin. »Ich bin Kevin.«

»Hi«, sagte ich und wandte mich wieder meinen Blümchen zu.

Auf dem Heimweg im Bus erzählte ich Dottie von Kevin.

»Ist doch prima, dass er deine Haare schön findet«, sagte Dottie. »Du solltest ein paar Leute kennenlernen. So übel sind die gar nicht. Ich bin heute Mitglied bei der Mädchen-Bowlingmannschaft geworden.«

Als ich nach Hause kam, saß Grand auf dem Sofa und sah sich eine Fernsehshow an. Sie hatte die Schürze umgebunden und Mehl im Gesicht, und sie strickte wieder mal an irgendetwas.

Auf dem Backbrett in der Küche stand eine Schale mit Mehl. Ray hatte für morgen fünf Brote bestellt. Normalerweise war Grand um diese Zeit schon halb damit fertig. »Meinst du, das Mehl verwandelt sich von selbst in Teig?«, rief ich.

»Was hast du gesagt?«

Ich ging zurück ins Wohnzimmer. Sie sah mich über ihre Brillengläser hinweg an, in denen sich die Fernsehbilder spiegelten. Sie wurde bald achtundsiebzig, und in letzter Zeit kam sie mir tatsächlich alt vor.

»Soll ich mich um das Brot kümmern?«, fragte ich.

Sie runzelte die Stirn. »Grundgütiger, ich verliere den Verstand«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu mir. Sie legte ihr Strickzeug beiseite und schlurfte an mir vorbei in die Küche.

»Ich kann das für dich tun, Grand«, bot ich ihr an, doch sie wollte mich nicht alleine machen lassen. Ich bemerkte, dass ihre Fingerknöchel geschwollen waren und dass die Haut an ihrem Kinn hin und her schlackerte, während sie den Teig knetete. Was mochten andere Leute denken, wenn ich sie mit nach Hause brachte und ihnen Grand vorstellte? Die meisten anderen Mädchen hatten bestimmt junge, hübsche Mütter, so wie ich früher auch. Wie würde Grand neben denen abschneiden? Ich schämte mich für meine Gedanken und ließ es am Teig aus.

Später, als ich im Bett lag, streichelte ich mich und stellte mir dabei vor, wie Kevin mit seiner fleischigen Hand mein Haar berührte.