21

 

Eines Samstags im Oktober stellte Bud mir seine neue Freundin vor.

Ich hängte gerade draußen im Herbstsonnenschein Wäsche auf und kämpfte mit den Laken, die wie nasse Segel gegen mich schlugen, als ich Schritte hörte. Ich spähte an den Laken vorbei und sah Bud Hand in Hand mit einem Mädchen die Straße heraufkommen. Das Mädchen blieb stehen und lächelte mich an. »Hi«, sagte sie. »Du bist Florine, nicht?«

Ich trat zwischen den Laken hervor, in meinen alten Jeans und dem zerlöcherten weißen T-Shirt, von dem Grand immer wollte, dass ich es endlich wegwarf. Doch es hatte Carlie gehört, und ich würde es tragen, bis es mir vom Körper fiel.

Das Mädchen und Bud sahen zu Boden, als ich auf sie zuging.

»Hi«, sagte ich.

Bud sagte, ohne aufzublicken: »Das ist Susan.«

Susans Haar war lang, glatt und glänzend braun wie ein Nerzmantel. Ihre Augen hatten dieselbe Farbe wie ihr Haar. Sie war so klein, dass sie in eine Teetasse gepasst hätte. Ich hatte sie schon in der Schule gesehen, im Kreis ihrer Freundinnen.

Grand kam mit einem Wäschekorb aus dem Haus und stellte ihn neben mir ab.

»Hallo, Bud«, sagte sie. Bud sah auf und lächelte, als hätte ihm jemand mit einem honigbeschmierten Kantholz über den Kopf gehauen.

»Hallo, Mrs. Gilham«, sagte er.

»Mrs. Gilham?«, sagte sie und kicherte wie ein Schulmädchen.

»Grand«, murmelte Bud.

»Wer ist denn die junge Dame neben dir?«, fragte Grand. »Das ist Susan Murray, aus meiner Schule«, sagte Bud. »Susan, das ist Grand.«

»Guten Tag«, sagte Susan.

»Hast du die Flicken da selbst aufgenäht?«, fragte Grand. Susans Jeans waren mit lauter bunten Flicken bedeckt.

»Ja. Und jeder hat eine Bedeutung. Der hier« - sie deutete auf einen Flicken an ihrem Oberschenkel - »ist aus einem alten Hemd von Bud.« Sie stieß Bud an, der sie seinerseits anstieß und rot anlief.

»Na, das ist ja eine pfiffige Idee«, sagte Grand.

Mittlerweile hatte ich begriffen, warum Bud und Susan zu Boden geschaut hatten, als ich hinter den Laken hervorkam. Carlies T-Shirt war dünn, außerdem war es nass von den Laken, und so platt ich auch war, bei der Kälte standen meine Brustwarzen deutlich sichtbar hervor. Ich verschränkte die Arme vor der Brust.

»Tja, wir sind unterwegs zu Ray«, sagte Bud.

»War nett, Sie kennenzulernen«, sagte Susan. Und dann gingen sie weiter, mein alter Freund und seine neue Freundin.

»Sie ist nett, und hübsch ist sie auch«, sagte Grand. »Gut für Buddy.«

»Ich hab Kopfschmerzen.« Ich ging nach oben in mein Zimmer, riss mir das T-Shirt vom Leib und versenkte mich in ein dickes graues Sweatshirt mit der Aufschrift »Bubba’s Steak House«.

Später kam Stella rüber, um mit Grand zu reden und über Susan zu sprechen. Die beiden setzten sich mit einem Tee an den Küchentisch.

»Nettes Mädchen«, sagte Stella zu Grand. »Und sie passt gut zu Buddy.«

»Er heißt Bud«, sagte ich. Ich stand auf einem Hocker und legte Grands Küchenschränke, die ich sauber gemacht hatte, mit frischem Wachspapier aus.

»Um genau zu sein, heißt er James Walter«, sagte Stella.

»Für mich heißt er Bud.« Ich strich so fest über das Wachspapier im obersten Fach, dass meine Hände von der Reibung ganz heiß wurden.

»Lee sagt, Susan ist das hübscheste Mädchen, das er hier in der Gegend gesehen hat, seit…« Stella verstummte.

Ich stieg vom Hocker. »Seit was?«

»Seit Carlie«, sagte Stella.

»Sie kommt nicht mal entfernt an Carlie heran«, sagte ich.

»Na«, sagte Grand, »da vergleicht ihr aber Äpfel mit Birnen. Das Mädchen hier ist genauso hübsch wie seine Mutter und genauso hübsch wie Susan.«

»Ich bin nicht hübsch«, brüllte ich und stürmte nach oben in mein Zimmer, wo ich mich sofort vor den Spiegel stellte. Ein blasses Mädchen starrte mir missmutig entgegen, mit schlammbraunen Augen, Wangenknochen, die so kantig waren, dass man damit Holz hobeln konnte, nach unten weisenden Mundwinkeln und einem kräftigen Kinn. Wenn ich mir begegnen würde, überlegte ich, würde ich mich hübsch finden? Mr. Barrington hatte zu mir gesagt, ich wäre bezaubernd. Kevin fand mein Haar schön. Ich zog das Gummiband heraus, mit dem ich es zusammengehalten hatte. Es sah aus, als übte es den Twist und hätte sich dabei verheddert. Abgesehen von der Farbe, die mich daran erinnerte, dass ich Carlies Tochter war, hasste ich es.

Jemand kam polternd die Treppe herauf, und dann stand Dottie im Türrahmen.

»Sie haben mich reingelassen«, sagte sie.

»Die würden jeden reinlassen.«

»Bei deinem Dad vorm Haus steht ein fremdes Auto.«

»Weißt du, wem es gehört?«

»Keine Ahnung. Irgend so ‘ner Frau, die aussieht, als würd sie in einem Büro arbeiten. Dein Vater ist aus dem Haus gekommen, um sie zu begrüßen. Sie haben sich die Hand geschüttelt, und dann sind sie reingegangen.«

Das verwirrte mich. Wie konnte eine fremde Frau an Stellas Adlerblick vorbeischlüpfen, und wieso ließ sie Dad mit ihr allein?

»Komm, wir sehen mal nach, wer es ist«, sagte ich. »Aber so, dass Stella es nicht merkt. Geh du nach unten und lenk sie ab, und ich schleiche mich durch die Hintertür raus. Wir treffen uns dann drüben.«

»Warum gehst du nicht einfach die Treppe runter und durch die Haustür?«

»Wo ist denn da der Witz?«, entgegnete ich. Manchmal war Dottie wirklich vernagelt wie eine Lattenkiste. Man durfte sich doch keine Gelegenheit entgehen lassen, Stella eins auszuwischen.

Dottie stapfte geräuschvoll nach unten und redete laut mit Stella und Grand, während ich mich auf Zehenspitzen durch die Hintertür rausschlich, hinter den Laken entlanghuschte und über die Straße lief.

Das Auto, das in der Einfahrt parkte, hatte ich noch nie hier gesehen, was bedeutete, dass es aus der Stadt stammen musste. Ich ging daran vorbei und ins Haus. Daddy und die Frau saßen am Küchentisch. Sie schrieb etwas in ein Notizbuch. Daddy sah mich an, als hätte ich ihn bei irgendwas erwischt. Die Frau blickte auf und sagte: »Hallo.«

»Florine, das ist Elisabeth Moss. Sie ist Reporterin. Sie ist hier, weil sie mit mir über Carlies Verschwinden reden will.«

Ich bedauerte, dass ich gekommen war.

Doch gerade als ich mich wieder aus dem Staub machen wollte, stand Mrs. Moss auf und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu. »Hallo, Florine«, sagte sie, und ihre Stimme war sanft und warm wie ein heißer, gebutterter Muffln. »Ich arbeite für die Zeitung in Long Reach. Dein Dad hat mir gerade von dir erzählt.«

»Florine muss nicht dabei sein«, sagte Daddy.

»Warum willst du mich nicht hierhaben?«, fragte ich ihn.

»Ich möchte nicht, dass du über etwas reden musst, was dich vielleicht unglücklich macht.«

»Unglücklicher als jetzt kann ich eh nicht mehr werden.«

Daddy zuckte die Achseln. »Wie du willst.« Zu Mrs. Moss gewandt sagte er: »Sie ist ein Dickkopf.«

»So eine habe ich auch zu Hause«, sagte Mrs. Moss. »Ist erst zwölf, benimmt sich aber, als wäre sie zwanzig.«

»Na, dann setz dich«, sagte Daddy, und ich hockte mich auf einen Stuhl zwischen ihnen.

»Ich weiß, es gab schon einen Bericht, direkt nachdem deine Mutter verschwunden war, aber ich dachte, ich greife das Thema noch mal auf. Das Ganze ist etwa zwei Jahre her, nicht wahr?«

»Zwei Jahre und zwei Monate«, sagte Daddy.

Sie nickte. Ich mochte ihr Gesicht. Es war nicht gefühlsduselig. Sie sah mir in die Augen.

»Also, Florine, die Sache ist die: Parker Clemmons hat mir gesagt, bis auf die Handtasche, die sie in Blueberry Harbor gefunden haben, hat die Polizei bisher kaum irgendwelche Hinweise. Deshalb dachte ich, wenn ich darüber schreibe, bringe ich vielleicht irgendwas in Bewegung. Ich habe deinen Dad angerufen, und er war einverstanden, mit mir zu reden. Der Artikel wird wahrscheinlich in ein paar Wochen in der Zeitung erscheinen. Vorher möchte ich noch mit einigen anderen Leuten sprechen, um ein bisschen mehr Hintergrund zu haben.«

»Kommt mein Bild in die Zeitung?«, fragte ich und dachte an das Getratsche in der Schule.

»Nur wenn du es möchtest.«

»Ich dachte, man könnte vielleicht das Foto aus Carlies Brieftasche nehmen - das, wo wir alle drei drauf sind«, sagte Daddy. »Aber ich hätte dich natürlich vorher gefragt.«

»Also, dann stelle ich dir jetzt ein paar Fragen«, sagte Mrs. Moss. »Aber wirklich nur, wenn du nichts dagegen hast.«

Ich zuckte die Achseln. »Von mir aus.«

»Gut, dann fange ich jetzt an, Florine.« Mit ganz sanfter Stimme fragte sie: »Wenn du an das letzte Mal denkst, als du sie gesehen hast - woran erinnerst du dich?«

»Sie drehte sich um und winkte, dann stieg sie in Pattys Auto, um nach Crow’s Nest Harbor zu fahren.«

»Patty ist ihre beste Freundin?«, sagte Mrs. Moss mit einem Blick auf ihre Notizen. »Sie haben zusammen im Lobster Shack gearbeitet, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Daddy.

»Was dachtest du zuerst, als Carlie nicht zurückkam?«, fragte Mrs. Moss weiter.

»Alles Mögliche«, sagte ich. »Erst dachte ich, vielleicht hat sie einen Ausflug gemacht, weil sie doch immer so gern verreisen wollte. Dann dachte ich, sie ist weggelaufen. Dann stellte ich mir schlimmere Sachen vor.«

Mrs. Moss nickte. »Und wie hat sich dein Leben verändert, seit sie nicht mehr hier ist?«

Überrascht und peinlich berührt merkte ich plötzlich, dass mir Tränen übers Gesicht liefen. Daddy fischte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und reichte es mir. Als unsere Blicke sich trafen, sah ich Angst in seinen Augen, und ich wusste, er dachte an Stella. Ich konnte ihn ausliefern. Ich könnte der Reporterin von der Schlampe erzählen, die hier reinmarschiert war und sich meinen Vater unter den Nagel gerissen hatte. Jetzt verstand ich, warum Stella drüben bei Grand war - die Reporterin sollte nicht merken, dass sie hier wohnte. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und putzte mir die Nase.

»Wenn es zu sehr wehtut, musst du nicht antworten«, sagte Mrs. Moss. »Aber ich könnte mir vorstellen, die Leser wüssten gerne, wie es ist, jemanden zu verlieren und nicht zu wissen, was mit ihm passiert ist. Sie fühlen ganz sicher mit dir, Florine.«

»Das ist es nicht«, sagte ich. »Ich finde nur, es geht sie nichts an.«

»Wie meinst du das?«, fragte Mrs. Moss.

»Vielleicht lesen sie die Zeitung, und vielleicht tut es ihnen leid, aber dann machen sie einfach weiter wie bisher. Wir müssen damit leben. Was sich verändert hat?« Ich sah Daddy an. Er blickte auf seine Hände, die gefaltet auf dem Tisch lagen. Diese großen, vernarbten, salzgeschundenen, abgearbeiteten Hände. Die Knöchel waren weiß. »Alles hat sich verändert«, sagte ich.

 

Der Artikel über Carlie erschien Anfang November. Ein Fotograf kam und machte ein Bild von Daddy allein im Hafen, und sie druckten auch das Foto von uns dreien ab. Zwei Wochen lang machte das Mitgefühl der Leute mich in der Schule zu einem Star, wenn auch gegen meinen Willen. Dottie meinte, ich solle ihnen nicht nur Schlechtes unterstellen - vielleicht mochten sie mich ja. Aber ich wollte nicht bemitleidet werden.

Bei der Polizei meldeten sich alle möglichen Leute, die Carlie angeblich gesehen hatten, unter anderem sogar in San Francisco. Daddy bekam per Post einen Heiratsantrag, was Stella gründlich die Petersilie verhagelte. Doch dann kamen die Feiertage, die Leute kümmerten sich um ihren Truthahn, und ich war froh, als sich der Trubel legte.