22
»Ich liebe Elvis«, sagte ich und merkte, wie mir der Kamm schwoll. »Elvis ist der King.«
»Ich hab ja nicht gesagt, dass er schlecht ist«, entgegnete Susan. »Ich hab nur gesagt, die Beatles sind besser.«
»Gin«, sagte ich, und Susan, Bud, Dottie, Glen und irgendein Mädchen, dessen Namen ich mir gar nicht erst gemerkt hatte, weil sie sowieso bald zum Club von Glens Verflossenen gehören würde, stöhnten und zählten ihre Punkte.
Es war Silvester 1965. Wir saßen bei Bud in der Küche. Sam und Ida waren zu den Butts gegangen und hatten Bud erlaubt, uns alle einzuladen. Grand war bestimmt schon im Bett, obwohl es erst halb zehn war.
»Nichts geht über Love Me Tender«, sagte ich. »Das ist der schönste Song überhaupt. Elvis hatte es nicht nötig, sich die Haare lang wachsen zu lassen. Er ist ein Naturtalent. Die Beatles sind Hochstapler.«
»Yesterday ist der beste Song aller Zeiten«, sagte Susan. Ich wollte nicht zugeben, dass ich ihn nicht kannte, dass ich mich weigerte, mir die Beatles anzuhören. Es war mittlerweile schwer, Elvis überhaupt noch im Radio zu finden, aber ich suchte immer wieder die Sender ab. Zur Not hörte ich auch Roy Orbison oder Del Shannon oder Dion, alles Carlies Musik. Auf Buds Plattenspieler lief gerade The Wanderer, einer meiner Lieblingssongs. Ich fand es nett, dass er das Stück für mich aufgelegt hatte. »Oh I’m the kind of guy that likes to roam around«, summte ich.
Bud liebte Elvis und die anderen genauso wie ich, aber er hatte sich wegen Susan auch an die Beatles gewöhnt. Wenn ich Bud und Susan in der Schule sah, gingen sie immer Hand in Hand, oder er hatte seinen langen Arm um ihre schmalen Schultern gelegt. Ich war überrascht, dass er Glen, Dottie und mich überhaupt zu Silvester eingeladen hatte. Ich hätte gedacht, er wäre lieber allein mit Susan.
»Das erlaubt Ida auf keinen Fall«, hatte Madeline laut Dottie im Laden zu Stella gesagt. »Sie lässt die beiden nicht allein. Das wäre viel zu riskant.«
Also waren wir offenbar die Anstandswauwaus für Bud und Susan, und das ging mir mächtig gegen den Strich. Aber ich hatte auch keine Lust, am Silvesterabend vor dem Fernseher zu verschimmeln, während Grand im Bett lag und schlief.
Susan trug ein rotes Minikleid mit schwarzen Nylons und schwarzen Schuhen. Ihr Haar lag auf ihren Schultern wie geschickt drapiertes Lametta. Außerdem war sie gut im Gin Rummy, fast so gut wie ich. Mir machte das Ganze keinen großen Spaß.
Plötzlich stand Susan auf, schenkte uns allen einen Blick auf ihren schlanken Oberschenkel und nahm The Wanderer vom Plattenspieler.
»He«, sagte Dottie, »lass das an - der Song bringt mir Glück.«
»Ich glaube, Florine wollte das hören«, sagte Bud zu Susan. »Und ich übrigens auch.«
»Weiß ich«, sagte sie. »Aber ihr müsst euch diesen Song mal anhören. Florine, achte auf den Text.« Sie sah mich so flehend an, dass ich die Achseln zuckte. Sie legte eine Single auf den Plattenteller und senkte die Nadel ab. Als die Nadel auf das Vinyl traf, verzerrte leises Kratzen und Knistern die ersten Gitarrentakte. »Yesterday«, sang einer von den Beatles, »love was such an easy game to play. Now I need a place to hide away …«
»Lasst uns noch eine Runde spielen«, sagte ich. »Susan, bist du dabei?«
»Ach, Florine«, sagte sie. »Ich wünschte, du würdest ihnen eine Chance geben. Ich glaube, es würde dir wirklich gefallen.«
Sie setzte sich, sprang jedoch noch mal auf, nahm die Single vom Plattenspieler und gab sie mir. »Hier, nimm sie mit nach Hause und hör sie dir an. Nur ein Mal.« Dann legte sie wieder The Wanderer auf.
»Gin«, sagte ich fünf Minuten später.
Im Lauf des Abends wurde ich immer zappeliger. Als Bud Susans Ohr küsste, spürte ich seine Lippen so deutlich, als hätte er meins geküsst. Ich sah, wie Glen seine große Hand am Bein seiner derzeitigen Flamme hinaufwandern ließ, und konnte mich nicht mehr konzentrieren, weil ich mir vorstellte, wie Bud bei mir dasselbe machte und dann zu der Stelle in der Mitte kam. Susan gewann das ganze Spiel.
Um zehn standen wir vom Küchentisch auf und gingen in Idas makellos geputztes Wohnzimmer. Susan und Bud setzten sich zusammen auf das beigefarbene Sofa, während Glen und sein Mädchen sich in Sams breiten Sessel zwängten. Das Mädchen schmiegte sich eng an ihn. Dottie und ich nahmen die beiden Sessel, die noch übrig waren.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Dottie.
»Ich weiß nicht«, sagte Bud. »Wir können ja ein bisschen fernsehen.«
»Ich geh nach Hause«, sagte ich. »Da kann ich auch fernsehen. Kommst du mit, Dottie?«
Dottie zuckte die Achseln. Wir standen auf, mummelten uns in unsere dicken Wintermäntel ein und steuerten auf die Tür zu.
»Vergiss nicht, dir Yesterday anzuhören«, rief Susan. »Ich bin sicher, der Song gefällt dir.«
Als wir beim Haus der Butts ankamen, fragte Dottie: »Kommst du noch mit rein?«
»Nein.« Stella und Daddy waren da drinnen.
»Willst du mich etwa mit den ganzen Erwachsenen allein lassen?«
»Du kannst ja mit zu mir kommen und bei uns übernachten«, sagte ich.
»Nö, lieber nicht. Wünsch mir Glück mit den Alten.«
Als ich nach Hause kam, stellte ich überrascht fest, dass der Fernseher lief. Aber Grand schaute gar nicht hin, sie saß im Schaukelstuhl auf der Veranda und sah hinaus aufs dunkle Wasser. Ich setzte mich neben sie.
»Ich dachte, du wärst längst im Bett, Grand.«
»Konnte nicht schlafen«, sagte sie. Über dem Nachthemd trug sie ihren geblümten Hausmantel. Sie hatte ihre hässlichen rosa Pantoffeln an, und jedes Mal, wenn sie vor und zurück wippte, sah man kurz ihre dicken Fußgelenke. »Franklin und ich sind früher jedes Jahr an Silvester im Rod and Reel Club tanzen gewesen. Er war ein wunderbarer Tänzer.«
»Wirklich?«, sagte ich.
»Ja, das war er. Einer von der stillen Sorte, aber mit der Art, wie er sich bewegte, konnte er ‘ne Menge sagen. Alle anderen Frauen haben mich beneidet. Er hat mit jeder mal getanzt, aber er ist immer zu mir zurückgekommen.«
»Erzähl mehr von ihm«, sagte ich. Sie sprach nur selten von Franklin.
»Der Blumengarten neben dem Haus, den hat Franklin für mich angelegt, als wir frisch verheiratet waren. Er hat alles umgegraben, und dann haben wir die Blumen ausgesucht, die wir haben wollten. Er musste haufenweise Erde herbeischaffen. Daniel Morse kam ein paarmal vorbei und brachte uns eine Ladung Hühnermist. Wir haben Algen gesammelt und sie unter die Erde gemischt, und dann haben wir alles gepflanzt. Und im Sommer haben wir draußen im Garten getanzt, nachts, wenn der Vollmond schien. Er hat mich mitten in der Nacht geweckt und ist mit mir rausgegangen, um zu tanzen. Er nannte es unseren Tanzgarten.«
Ich versuchte mir eine viel jüngere Grand in den Armen eines großen, dünnen Mannes vorzustellen, der es romantisch fand, in einem Vollmondgarten zu tanzen, aber irgendwie sah ich sie immer so, wie sie jetzt aussah, mit ihrem Alte-Frauen-Haar, das in feinen Strähnen um ihren Kopf stand. Trotzdem war es kein hässliches Bild. Mir gefiel die Vorstellung, mein ganzes Leben mit einem Mann zu verbringen und nachts von ihm geweckt zu werden, um in dem Garten, den er für mich angelegt hatte, eine Runde um die Pfingstrosen zu drehen.
»Ich vermisse ihn so, Florine. Ich wäre so gerne mit ihm alt geworden«, sagte Grand leise wie der Schnee, der draußen fiel. Wir schaukelten eine Weile vor uns hin, dann fügte sie hinzu: »Na, immerhin habe ich ein paar gute Zeiten mit ihm verbracht.« Sie stand auf, wir wünschten uns ein frohes neues Jahr, und dann gingen wir beide ins Bett.
Aber ich konnte nicht schlafen. Ich dachte an alte Leute, die sich liebten, an Sommergärten, an meine Mutter, die auf den Schuhen meines Vaters tanzte, an Susan, die sich auf dem Sofa an Bud schmiegte. Als es Mitternacht schlug, hörte ich ein gedämpftes »Frohes neues Jahr!« vom Haus der Butts. Dann fuhr ein Auto zum Haus der Warners, und Susan und Glens Mädchen riefen »Tschüs«. Glen ging unten an Grands Haus vorbei und summte dabei The Wanderer. Nachdem seine Schritte verklungen waren, stand ich auf und ging runter in die Küche. Ich schaute hinaus in die Nacht. In den anderen Häusern gingen nach und nach die Lichter aus.
Als ich in mein Zimmer zurückging, fiel mir Susans Single wieder ein, und ich dachte, ich könnte sie mir genauso gut gleich anhören, damit ich ihr sagen konnte, wie grässlich ich das Lied fand, und meine Ruhe hatte. Ich legte die Scheibe auf meinen alten Plattenspieler mit der abgewetzten Nadel und stellte den Ton leise.
»Yesterday«, begann der Song. Beim Beginn der zweiten Strophe war ich bereits vom Bett auf den Fußboden gerutscht und versank in einen Sumpf aus Traurigkeit. Als die Platte beim vierten Durchlauf an einer Stelle hängen blieb, ließ ich sie weiterlaufen.
Why she had to go Sprung. Why she had to go Sprung.
Why she had to go Sprung. Why she had to go Sprung.
Why she had to go Sprung. Why she had to go Sprung.