5
Madeline, Dotties Mutter, war Künstlerin. Sie verkaufte Aquarelle in einer kleinen Galerie an der Route 100. Ich liebte es, ihr beim Malen zuzusehen, und an einem Mittwochnachmittag in der zweiten Augustwoche saßen Dottie und ich bei ihr auf dem Rasen, während sie malte. Sie sah hinaus aufs Meer, dann auf ihr Bild, dann wieder aufs Meer, trug ein paar Striche Farbe auf und blickte wieder hinaus. Ich hätte ihr stundenlang zuschauen können.
Am Montagmorgen waren die blonde Carlie und die rothaarige Patty Richtung Norden zu ihrer alljährlichen Fahrt nach Crow’s Nest Harbor aufgebrochen. Am Donnerstag würden sie zurückkommen. Carlie hatte ein paar Sommersachen in ihren Koffer gepackt und einige Mahlzeiten für Daddy und mich vorgekocht, und dann waren die beiden losgefahren. Vorher hatte Carlie Daddy noch dazu gebracht, mit Bert zu reden, damit Dottie und ich uns wieder sehen durften. Wir hatten die Erlaubnis bekommen, Übernachtungen allerdings ausgenommen, und wir mussten uns stündlich bei Grand oder Madeline melden oder in Sichtweite bleiben. Die Jungs waren nach wie vor verboten.
Dottie zupfte einen Grashalm aus, legte ihn zwischen ihre Daumen und blies darauf. Ein schrilles Quäken ertönte. Als ich es versuchte, besabberte ich mir nur die Hände. »Ich kapier nicht, wieso du das nicht kannst«, sagte sie.
»Ich bin halt nicht so sportlich wie du.«
»Das ist doch kein Sport«, sagte sie. »Das ist Grasblasen.«
Ich zuckte die Achseln. Madeline bewegte ihren Pinsel, und Blau durchzog den oberen Rand ihres Bildes. Sie bewegte ihn erneut, und ein weiterer blauer Strich erschien, tiefer und dunkler als der erste.
»Lass uns was machen«, sagte Dottie.
»Was denn?«
»Neckball. Ich hole Evie und Maureen von ihren blöden Puppen weg, und dann können sie mitspielen. Du kannst Evie haben, und ich nehme Maureen.«
»Neckball ist zu schwer für sie«, sagte ich. Dotties Schwester Evie war sieben und Buds Schwester Maureen sechs. Dottie nannte die beiden Zimperliesen, Puppentrinen.
Eine orangefarbene Spinne, kaum größer als eine Sommersprosse, krabbelte an Dotties Bein hoch. Als sie an ihrem Knie ankam, zerquetschte Dottie sie. »Die Dinger beißen«, sagte sie. »Neulich hat mich was gebissen, und als ich nachgeschaut habe, war es eine von denen.«
»Mich haben sie noch nie gebissen«, sagte ich.
»Doch, bestimmt. Du hast es nur nicht gemerkt.«
Madeline setzte sich anders hin. Ein leichter Wind spielte mit der Ecke ihres Papiers. Dottie zupfte ein kleines Unkrautblatt aus, das wie ein Löffel geformt war, und zog die Adern am Stängel und auf der Rückseite ab. Dann warf sie das sezierte Blatt auf den Rasen. »Weißt du, ob Grand Kekse hat?«
»Nein«, sagte ich. »Aber sie lässt uns bestimmt welche backen.«
»Wir müssen sie selber backen?«, fragte Dottie, und, zu Madeline gewandt: »Ma, wann können wir schwimmen gehen? Bist du bald fertig?«
»Nein«, sagte Madeline, und ihre Stimme klang sehr weit weg. »Ich brauche noch eine Weile.«
»Komm, wir gehen zu Grand und backen Kekse«, schlug ich vor. »Bis wir fertig sind, ist Flut, und dann können wir schwimmen gehen.«
»Okay«, sagte Dottie. »Immer noch besser, als hier rumzusitzen.«
Grand saß im Wohnzimmer und sah sich eine Seifenoper an, als wir durch die Fliegentür polterten.
»Was wollt ihr denn hier?«, rief sie.
»Können wir Kekse backen?«, fragte ich.
»Immer langsam mit den jungen Pferden«, entgegnete Grand. »Lisa sagt Bob gerade, dass sie ihn wegen Howard verlässt. Darauf warte ich schon seit Monaten. Geduldet euch noch einen Moment.«
Dottie und ich ließen uns in die Schaukelstühle auf der Veranda fallen. Grand hörte nicht mehr richtig gut, und der Fernseher war so laut, dass wir mitbekamen, wie Lisa Bob sagte, dass sie ihn verlassen wollte. Lisa klang dabei unglücklicher als Bob. »Es tut mir so leid«, schluchzte sie. »Ich möchte dir um nichts in der Welt wehtun. Ich liebe dich, Bob, wirklich, aber…« Bob murmelte etwas, und Lisa fing von Neuem an.
»So ein Quatsch«, brummte Dottie.
»Bist du sauer?«, fragte ich.
»Nein. Mir ist langweilig. Ich wünschte, Bud und Glen wären hier.«
»Ja, ich auch«, sagte ich. »Aber immerhin haben wir uns. Das hat Carlie eingefädelt.«
»Ich weiß, und das ist auch toll, aber ich würd gern mal wieder was zusammen machen.«
Endlich wurde Bob wütend. »Meinst du, ich habe nicht gemerkt, dass du dich in letzter Zeit seltsam benimmst? Du wolltest nicht mit mir schlafen. Du wolltest mich nicht mal küssen. Ich weiß schon, was los ist, Lisa. Ich bin ja nicht blind!«
»Blind nicht«, sagte Dottie. »Aber hässlich.«
Wir kicherten. Dann lief ein Werbespot, und Grand stand auf.
»Also gut«, rief sie aus der Küche. »Kommt her, Mädchen. Dottie, bring mir mal die Schüsseln von da drüben, und du, Florine, holst Mehl und Zucker.«
Dottie stellte die Schüsseln auf den Tisch und setzte sich, während Grand und ich die Zutaten zusammensuchten.
»Dorothea, wir brauchen noch die Butter aus dem Kühlschrank«, sagte Grand.
»Wer kommt bloß auf die Idee, sein Kind Dorothea zu nennen?«, murrte Dottie. »Ich hasse meinen Namen.«
»Es ist ein schöner Name«, sagte Grand. »Deine Urgroßmutter Dorothea war eine wunderbare Frau. Schneide die Butter in kleine Stücke, aber wasch dir vorher die Hände.«
Widerstrebend ging Dottie zur Spüle und drehte den Wasserhahn auf.
»Mit Seife«, sagte Grand. »Ja, genau so.« Sie sah zu mir. »Du auch.«
An der Spüle verpasste ich Dottie einen Hüftstoß, sodass ihr die Seife aus der Hand flutschte und auf Grands Küchenboden fiel. Wir bückten uns gleichzeitig danach und stießen mit den Köpfen aneinander.
»Au!«, rief ich.
»Mist!«, fluchte Dottie.
Grand beugte sich hinunter und hob die Seife auf. »War mir nach Klamauk zumute, hätte ich Dick und Doof eingeschaltet. Na, zum Glück habt ihr harte Schädel.«
Ich rieb mir die schmerzende Stelle. »Läuft das gerade?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Was?«, fragte Grand. »Dick und Doof.«
»Nein, das war nur eine Redewendung. Wollt ihr zwei nun Kekse oder nicht?«
»Ich schon«, sagte Dottie. »Und tut mir leid, dass ich geflucht habe.«
»Entschuldigung angenommen«, sagte Grand.
Ich vermischte weißen und braunen Zucker, schlug Eier auf, ließ Vanillepulver auf einen Löffel rieseln und sog gierig den Duft ein. Grand maß Mehl, Backnatron und Salz ab. Die Butterstücke, die Dottie abschnitt, landeten mit einem Schmatzen in der Schüssel. Ein leichter Wind tanzte durch die Küche, strich über meinen Nacken und zog weiter. Grand summte What a Friend We Have in Jesus.
»Ich hab den schmutzigsten Job«, murrte Dottie.
»Bist du fertig?«, fragte Grand. Sie nahm Dottie die Schüssel ab, gab die Butterstücke in die Zucker-Ei-Mischung und fing an, das Ganze mit einem Holzlöffel zu bearbeiten. Das Fett an ihrem Oberarm schlackerte, während sie, immer noch summend, die Zutaten windelweich schlug. Die Haut an ihrem Ellbogen erinnerte mich an ein Foto von den Knien eines Elefanten.
Dottie und ich bestrichen das Backpapier mit Fett, und Grand gab löffelweise den Teig darauf. Dottie streckte den Zeigefinger aus, um von einem der Häufchen zu naschen, doch Grand sagte nur »Dorothea«, und Dottie zog die Hand zurück.
Nachdem sie die Bleche in den Ofen geschoben hatte, verschwand Grand wieder im Wohnzimmer, um sich die nächste Seifenoper anzusehen, und überließ es uns, die Küche aufzuräumen. Dottie kratzte mit dem Fingernagel am Rand der Teigschüssel. Ich ließ warmes Wasser in die Spüle laufen, um die Sachen einzuweichen.
»Hab ich einen blauen Fleck?«, fragte Dottie und hielt den Kopf schräg, sodass die Stirn unter ihren braunen Ponyfransen zu sehen war.
»Nein. Und ich?«
»Nein.« Dottie stellte die Schüssel hin. »Ich geh rüber und frag Madeline, ob wir schwimmen gehen können. Bring die Kekse mit, wenn sie fertig sind.«
»Du sollst mir doch beim Aufräumen helfen«, sagte ich.
»Ich muss los. Kannst ja nachher rüberkommen. Und vergiss die Kekse nicht.«
»Ist Dorothea weg?«, fragte Grand, als sie kam, um nach den Keksen zu sehen.
Ich nickte. »Sie konnte mir nicht mal beim Aufräumen helfen.«
»Tja, sie ist eine rastlose Seele. Ihre Urgroßmutter, die andere Dorothea, war das auch. Ich habe noch nie jemanden erlebt, der so geackert hat. Erst war sie unten in der Bucht beim Muschelgraben, bis zu den Knien im Schlick, und kurz danach habe ich gesehen, wie sie die Teppiche aus dem Haus geschleppt und über der Wäscheleine ausgeklopft hat. Allein das Zuschauen hat mich erschöpft.«
Der Duft nach Keksen stieg mir in die Nase, und in der Küche klingelte die Eieruhr.
»Allerdings glaube ich kaum, dass unsere Dottie in der Hinsicht nach ihr kommt«, fügte Grand hinzu.
»Sie hasst Muscheln«, sagte ich.
Grand packte die ganzen Kekse in eine Dose, insgesamt drei Dutzend, und gab sie mir. Ich lief damit zu Madeline, die ihre Malsachen zusammenpackte, jede von uns einen Keks essen ließ und dann mit Dottie, Evie, Maureen und mir hinunter zum Strand ging.
Das Meer war fast genauso warm wie die Luft. Dottie und ich machten um die Wette Handstand unter Wasser. Ich war gerade dabei, zum vierten Mal zu gewinnen, da kniff Dottie mich ins Bein. Als ich auftauchte, sah ich Bud und Glen auf den Felsen oberhalb des Strandes stehen. Bud grinste mich so breit an, dass seine Ohren hinter dem Kopf verschwanden.
Dieses Grinsen fühlte sich ganz komisch an, und ich tauchte unter, um ihm zu entkommen. Dann richtete ich mich wieder auf, strich mir die Haare aus dem Gesicht, und Dottie und ich gingen auf die Jungs zu.
»Moment mal. Die beiden haben hier nichts zu suchen«, rief Madeline von ihrem Felsen. Wir blieben stehen und sahen sie an. Dann sagte sie: »Ach, was soll’s«, und ließ uns in Ruhe.
Während Dottie und Glen sich gegenseitig untertauchten, sagte Bud zu mir: »Komm, wir schwimmen raus zur Boje.« Die weiße Boje, die Bert Butts gehörte, lag nicht sehr weit draußen, aber das Ufer fiel steil ab, und das Wasser dort war ziemlich tief. »Eins - zwei - drei - los!«, rief ich. Wir schwammen um die Wette, und Bud gewann. Als wir bei der Boje ankamen, überließ er mir das Tau zum Festhalten, während er Wasser trat.
»Hast du die fünf Dollar schon ausgegeben?«, fragte ich ihn.
»Ich hab doch gesagt, die spare ich für ein Auto. Tauchen wir runter?«
»Ist doch ganz schön tief, oder?«
»So tief auch wieder nicht«, sagte Bud. »Komm schon. Vielleicht sehen wir Fische.«
Also tauchten wir auf drei. Ich hielt mich am Tau fest, Bud schwamm neben mir her. Je tiefer wir kamen, desto kälter wurde das Wasser. Meine Ohren fühlten sich an, als drückten sie gegen mein Gehirn, und ich wollte zurück nach oben, aber Bud ergriff meine Hand, und wir kreisten immer weiter nach unten, bis er innehielt und auf etwas zeigte.
Wir waren in einer Unterwasserstadt aus rostigen schwarzen Felsen gelandet. Die Entenmuscheln, die sich an ihrer Oberfläche festgesaugt hatten, sahen aus wie Sommersprossen. Kirchtürme aus Algen reckten sich zum Licht. Sie schimmerten in den diffusen Sonnenstrahlen, und Bud und ich schlängelten uns zwischen ihnen hindurch. Ein olivgrüner Krebs verschwand im Rückwärtsgang unter einem Felsen, und zwei kleine silbrige Fische schwammen an uns vorbei. Der weiße Bauch einer Flunder blitzte auf, als sie davonglitt.
Als eine besonders kalte Strömung meine brennenden Lungen umschloss, zog ich an Buds Hand, und wir stiegen wieder auf. Ich packte das Tau und rang gierig nach Luft. Meine salzgetränkten Augen brannten, und die Welt war verschwommen, doch nach ein paarmal Blinzeln sah ich wieder klar.
»Noch mal?«, fragte Bud.
Doch Madeline rief uns zu, wir sollten sofort zum Strand zurückkommen, sonst gäbe es Ärger, also schwammen wir wieder um die Wette. Diesmal war ich Erste, aber ich glaube, Bud ließ mich gewinnen.
Den Rest des Nachmittags verbrachte ich bei Grand. Wir setzten uns auf die Veranda, strickten und lasen, bis Daddy heimkam. Wir aßen zu Abend, und um neun ging ich ins Bett. Beim Einschlafen dachte ich an Carlie. Ob sie schon die Überraschung gekauft hatte, die sie mir mitbringen wollte? Ich fragte mich, was es wohl sein mochte.
Als das Telefon klingelte, zuckte ich zusammen. Ich sah zu Micky hinüber. Es war halb elf. Immer noch Mittwoch, der 7. August 1963. Ich hörte, wie Daddy aus seinem Sessel im Wohnzimmer aufstand, durch die Küche zum Wandtelefon ging und sich räusperte. Hörte das Krachen eines Baseballschlägers und den Jubel der Zuschauer im Fernsehen. Hörte, wie Daddy sagte: »Nein, bei mir hat sie sich nicht gemeldet. Warum?«