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Kurz bevor Grand starb, durften Daddy und ich auf die Intensivstation. Wir sahen, wie sie ihren letzten Atemzug tat. Er hob sich wie eine hohe Welle, dann legte sie sich für immer in einer ruhigen See zur Ruhe. Daddy und ich blieben noch eine Weile bei ihr, dann sagte er: »Wir müssen stark sein, wenn wir da rausgehen.«
An dem Morgen, an dem Grand beerdigt wurde, ging niemand aus The Point zur Arbeit oder zur Schule, und alle Boote blieben im Hafen. Der Laden und die Tankstelle waren geschlossen. Die Totengräber arbeiteten sich durch den ersten Frost und hoben eine tiefe, saubere Grube für sie aus. Alle aus dem Ort kamen zur Beerdigung und dazu noch eine ganze Menge Leute, die wir nicht kannten - alte Damen in Grands Alter, die früher mit ihr zur Schule gegangen waren, und Leute von den Kunsthandwerkermärkten und den Läden, die ihre Pullover verkauft hatten. Auch ein paar von den Sommergästen kamen, die Brot, Gurken, Tomaten und Rettich bei ihr gekauft hatten und nie ohne eine Tasse Tee auf der Veranda aus dem Haus gekommen waren. Auf den hinteren Bänken der Kirche saßen einige alte Herren, denen Trauer in die tiefen Furchen ihrer Gesichter gegraben war. Ich fragte mich, ob sie irgendwann einmal in Grand verliebt gewesen waren. Jeder Mann wäre mit ihr glücklich gewesen, hätte sie nicht ihr ganzes Leben lang nur einen geliebt.
Nach dem Gottesdienst kamen alle möglichen Leute mit Eintöpfen und Aufläufen in ihr Haus. Ich machte einen Bogen um Stella und ihre Käsemakkaroni. Sie sah aus, als wollte sie mich trösten, falls ich ihr eine Gelegenheit dazu gab. Aber die einzige Person, die mich hätte trösten können, feierte wahrscheinlich gerade mit ihrem guten alten Freund Jesus.
Die Frauen von The Point arbeiteten wie eine gut geölte Maschine; sie organisierten den Leichenschmaus, sorgten dafür, dass die Männer zum Trinken und Rauchen nach draußen gingen, sammelten die leeren Gläser und die Zigarettenkippen ein und räumten am Schluss alles auf. Dann verschwanden sie.
Daddy, Stella, Dottie und ich blieben als Einzige übrig. Erschöpft und traurig hockten wir um den Tisch. Dottie brachte es trotz allem fertig, vom übrig gebliebenen Essen zu naschen, während Daddy und Stella Kaffee tranken. Ich hatte weder Hunger noch Durst.
»Hast du heute überhaupt etwas gegessen?«, fragte Stella mich.
»Nein«, sagte ich. Trauer schlängelte sich in mir hoch wie ungebändigter Bittersüß.
»Du musst etwas essen«, sagte Daddy.
»Willst du mit uns nach Hause kommen?«, fragte Stella.
»Das hier ist mein Zuhause«, sagte ich. Ich hatte das Testament gesehen. Grand hatte mir ihr Haus vermacht; sobald ich im Frühjahr achtzehn wurde, würde es mir gehören. Sie hatte mir auch etwas Geld hinterlassen, genug, um ein oder zwei Jahre über die Runden zu kommen. Und ihre Rechnungen hatte sie wie immer im Voraus bezahlt.
»Ich weiß, Florine, aber ich dachte, du fühlst dich vielleicht einsam.«
»Ich kann hierbleiben, wenn du willst«, sagte Dottie. »Bert und Madeline haben nichts dagegen.«
»Das ist eine gute Idee«, sagte Daddy. »Meinetwegen«, sagte ich zu Dottie.
Daddy stand auf und drückte mich fest, und ich erwiderte die Umarmung. In dem Punkt verstanden wir uns; wir waren beide Veteranen auf dem Schlachtfeld der Trauer. Dann gingen er und Stella, und Dottie und ich blieben allein am Küchentisch zurück. Eine Weile hörte man nichts außer dem kauenden Geräusch von Dotties Zähnen.
»Wie fühlst du dich?«, fragte sie.
»Wie betäubt.«
»Ist komisch hier, ohne Grand.«
»Ja.«
Dottie stand auf. »Ich räum besser ab, sonst kommt ihr Geist zurück und zieht mir die Ohren lang.« Während sie ihren Teller abwusch, sagte sie: »Ich frag mich, was mit Stella los ist. Normalerweise kocht sie so gut, dass man vor Wonne seufzen könnte, aber diesmal waren ihre Käsemakkaroni zäh wie Gummi, und genauso schmeckten sie auch. Wie schafft sie es, etwas so Einfaches in den Sand zu setzen? Das Gericht kriegt ja sogar Madeline hin.«
»Ja, das ist seltsam«, sagte ich.
»Glen hat seine Portion ins Klo geschüttet. Ich hab ihn im Bad dabei erwischt, wie er mit der Saugglocke zugange war, weil das Zeug immer wieder hochkam. Erst dachte ich, er war am Wichsen, aber dann hab ich die Makkaroni in der Kloschüssel gesehen.«
Ich schmunzelte.
»Ich hoffe, es verstopft euch nicht die Auffanggrube«, sagte Dottie. »Ich seh den Typ von der Reinigungsfirma schon vor mir: »Am besten kippen Sie den Mist ins Wasser, oder noch besser, Sie vergraben ihn, damit die Fische nicht daran eingehen. Wehe, ich finde das Zeug noch mal hier im Tank. Dann gibt’s ‘ne dicke Rechnung, und ’ne Strafe obendrein, weil Sie so einen Mist zusammengekocht haben.«
Ich musste lachen, doch als sie mir eine Tasse Tee hinstellte, was sie noch nie getan hatte, fing ich an zu weinen.
Sie folgte mir nicht, als ich nach oben in Grands Zimmer rannte. Ich warf mich aufs Bett, um ihre Gegenwart zu spüren, und heulte. Irgendwann schlief ich ein, die Arme um ihr Kissen geschlungen.
Stunden später wachte ich auf, weil die Tür knarzte. »Grand!«, rief ich und setzte mich auf.
Im Lichtschein der Flurlampe zeichnete sich Dotties stämmige Gestalt ab.
»Ich bin’s«, sagte sie leise. »Ich wollte nur mal nach dir sehen.«
Dumpf vor Müdigkeit und Trauer, starrte ich sie nur an.
»Kann ich dir irgendwas bringen? Wasser?«
»Nein.«
»Soll ich hier bei dir schlafen?«
Es wäre schön gewesen, ihre Wärme zu spüren, aber in dieser Nacht würde mich nichts trösten, und sie brauchte ihren Schlaf, deshalb sagte ich Nein. Sie kam hereingeschlurft und gab mir einen Kuss auf den Kopf, dann ging sie und schloss die Tür so, dass sie kein Geräusch machte.
Zu müde, um noch irgendwelche Gefühle hervorzupressen, taumelte ich wieder auf das zerklüftete Ufer des Schlafs zu. Dann fiel mir etwas ein.
Ich stand auf und trat ans Fenster, von dem man die Straße und Daddys Haus sehen konnte. Ich erinnerte mich an die Nacht, als ich dort unten auf dem großen weißen Stein am Ende der Einfahrt gesessen und mich allein und ungeliebt gefühlt hatte. Grand war zu mir gekommen und hatte gesagt: »Ach, Himmel noch mal, das ist doch Unsinn. Ich hab tief und fest geschlafen, und als ich dich weinen hörte, hin ich sofort aufgewacht. Das ist doch wohl Liebe, oder nicht?« Ein Streifen Mondlicht fiel auf den Stein, dann legten sich die Wolken wieder über den Mond, und es wurde dunkel.