17

 

Ich behielt recht. Sie fanden nichts in dem Teich. Die rätselhafte Spur weckte bei Daddy und mir neue Hoffnung. Ich verbannte die Schreckensszenarien aus meinem Kopf und genoss lieber jede neue Lichtminute, die der März uns brachte.

Bud saß weiterhin im Auto, und er hinterließ mir kleine Geschenke. Am Valentinstag legte er ein weißes Zuckerherz mit der Aufschrift »Tolles Mädchen« auf den Beifahrersitz, und am Saint Patricks Day fand ich ein grünes Band an Petunias Lenkrad. Ich strickte ihm eine schwarze Mütze, und am Tag nachdem ich sie ins Auto gelegt hatte, fand ich an der Stelle einen großen Kirschlutscher.

Eines Tages Anfang März sah ich, wie er sich in den Schuppen schlich, und beschloss, ihm Gesellschaft zu leisten. Ich setzte mich neben ihn auf den Beifahrersitz, und wir blickten durch die Windschutzscheibe und das offene Tor hinunter auf das dunkelblaue Wasser des Hafens. Eisschollen trieben vorüber, auf dem Weg in ihren salzigen Tod.

»Bald wird’s Frühling«, sagte Bud.

»Bestimmt«, sagte ich.

Das würde meine dritte Jahreszeit ohne Carlie sein. »Eines Tages«, sagte Bud, »werde ich für immer von hier wegfahren.«

»Warum?«

»Ich will nicht mein ganzes Leben hier verbringen. Ich will kein Fischer werden.«

»Wohin willst du denn?«

»Irgendwohin, wo ich nicht jeden kenne. Vielleicht nach Long Reach. Vielleicht auch noch weiter weg. Keine Ahnung. Fühlst du dich nicht auch manchmal eingesperrt?«

»Meistens fühle ich mich, als hätte ich ein Loch in mir«, sagte ich. Möwen landeten auf den Eisschollen im Hafen und surften an uns vorbei. »Carlie fühlte sich hier eingesperrt. Sie wollte dauernd irgendwohin.«

»Kann ich nachvollziehen«, sagte Bud. »Manchmal macht es mich so kribbelig, dass ich nachts aufstehe und draußen rumlaufe, bis ich müde bin. Ich muss mich einfach bewegen. Meine Beine halten nicht still.«

Ich stellte mir seine einsame, rastlose, magere Gestalt vor, die über die dunklen Straßen wanderte, seine Schritte, die auf dem Kies knirschten oder über den Asphalt schlurften.

»Findest du mich verrückt?«, fragte er. Ich wandte mich zu ihm um.

Wir sahen uns an und erkannten beide gleichzeitig, dass etwas anders war. Wir hatten uns immer wie durch Wasser gesehen, durch eine wellige, flüssige, sichere Distanz. Doch in dem Moment, dort im Auto, verdunstete das Wasser und wurde zu Luft, klar, trocken und wahrhaftig.

»Nein, ich finde dich nicht verrückt«, sagte ich, und mein Herz stieg auf wie ein weißer Luftballon.

Buds Augen weiteten sich, dann stieß er unvermittelt die Tür auf und sprang aus dem Wagen. Ich blinzelte erschrocken. »Erzähl niemandem, dass ich nachts draußen rumlaufe, okay?«, sagte er, schlug die Tür zu, ein bisschen lauter als nötig, und lief davon. Ich zupfte an dem Band, das mein Herz in der Luft hielt, und zog es sanft zurück an seinen Platz.

 

Am ersten Frühlingstag stiegen Dottie und ich bei Rays Laden aus dem Bus. Wir hatten uns angewöhnt, auf dem Heimweg von der Schule noch etwas zum Naschen zu holen. Dottie ging immer rein, um die Sachen zu kaufen, weil ich Stella nicht sehen wollte. Als wir an dem Tag draußen vor dem Laden standen und Dottie zwei Schokomuffms aus der Folie pulte, sagte sie: »Dein Dad ist drinnen.«

»Das darf doch nicht wahr sein.« Ich ignorierte den Muffin, den sie mir hinhielt, und marschierte in den Laden. Daddy hatte sich auf Stellas Tresen gelehnt, doch als er mich bemerkte, richtete er sich auf und sah mich mit schuldbewusster Miene an. Ich machte auf dem Absatz kehrt und stürmte nach draußen. Daddy folgte mir.

»Triffst du dich wieder mit ihr?«, fragte ich ihn, während wir nach Hause gingen. »Nur damit ich Bescheid weiß.«

»Nein, ich treffe mich nicht mit ihr.«

»Gut.«

»Was willst du zum Abendessen?«

»Wieso, warst du zu sehr mit Reden beschäftigt, um was im Laden zu kaufen?«

»Jesses«, sagte Daddy. »Wozu brauche ich eine Frau? Du piesackst mich schon genug.«

Vielleicht hatte er an dem Tag nicht gelogen, aber eines Nachts Anfang April hörte ich Schritte draußen vor dem Haus. Ich sprang aus dem Bett und sah aus dem Fenster. Zwei Gestalten gingen die Einfahrt hinunter Richtung Straße. Die größere musste Daddy sein, aber wer war die kleinere? Dann verstand ich.

Ich ging in die Küche. In der Luft hing ein Rest von Stellas Parfüm und etwas, von dem ich damals noch nicht wusste, dass es der Geruch von Sex war. Die Schlafzimmertür stand einen Spalt offen, und ich sah, dass das Bettzeug zerwühlt war.

»Du miese Schlampe«, sagte ich in die Dunkelheit. Wütend auf mich selbst, weil ich so tief geschlafen und die beiden nicht gehört hatte, ging ich wieder ins Bett. Ein wenig später kam Daddy auf Zehenspitzen zurück und legte sich schlafen.

Am nächsten Morgen sagte ich zu ihm: »Ich dachte, du triffst dich nicht mehr mit ihr.«

Daddy stellte die Kaffeekanne auf den Herd, zögerte kurz und erwiderte dann: »Hab ich auch nicht.«

»Aber jetzt tust du’s wieder?«

»Ich möchte es gern«, sagte er. »Aber ich möchte auch, dass es für dich in Ordnung ist.«

»Du kannst nicht alles haben.«

»Was zum Teufel soll das heißen?«

»Ganz einfach: sie oder ich.«

»Du hast keinen Grund, so gegen sie zu sein, Florine.«

»Doch, hab ich«, sagte ich. »Sie war gemein zu Carlie. Und zu mir auch.«

»Ich hab dir doch schon gesagt, dass es ihr leidtut.«

»Natürlich behauptet sie das. Weil sie damit bei dir einen guten Eindruck macht.«

Daddy setzte sich mir gegenüber an den Tisch.

»Florine«, sagte er, »wie kann ich dir das so erklären, dass du es verstehst?«

»Was erklären?«

»Ich mag diese Frau«, sagte Daddy. »Ich kenne sie schon sehr lange. Wenn mir deine Mutter nicht begegnet wäre, hätte ich sie vielleicht geheiratet, und dann wäre sie möglicherweise deine Mutter gewesen.« Ich zog ein so angeekeltes Gesicht, dass er rasch hinzufügte: »So ist es natürlich nicht gekommen.«

»Zum Glück«, sagte ich.

»Aber von alldem mal abgesehen, brauche ich Gesellschaft.«

»Du hast doch Gesellschaft: Grand, mich, Sam, Bert, Ray, Pastor Billy und alle möglichen anderen Leute. Was hast du gegen uns?«

»Ich habe gar nichts gegen euch«, sagte er. »Aber ich brauche jemanden, mit dem ich richtig reden kann. Mit dem ich Sachen unternehmen kann. Außerdem kann sie unglaublich gut kochen. Und ich weiß, dass dir ihr Essen damals geschmeckt hat, auch wenn du es nicht zugeben wolltest.« Daddy lächelte. »Ich bin ja nicht völlig vernagelt. Ein bisschen kenne ich dich schon.«

»Du hast vergessen zu sagen, jemanden, mit dem du bumsen kannst. Denn darum geht es doch, oder?«

Am liebsten hätte er mich geschlagen oder mich so laut angebrüllt, dass es mich vom Stuhl gefegt hätte, das sah ich ihm an. Doch er atmete nur ganz langsam aus und sagte mit messerscharfem Blick: »Ich möchte dieses Wort nie wieder aus deinem Mund hören. Und ich hoffe, wenn du eines Tages bereit bist, mit jemandem zusammen zu sein, behandelst du diesen Moment mit der Achtung, die er verdient.«

Er stand auf, ging zur Haustür und zog sich seinen Mantel an. Dann wandte er sich noch mal zu mir um. »Ich brauche frische Luft. Ich hätte nie gedacht, dass mein kleines Mädchen mal so mit mir reden würde, und ich schäme mich für dich. Und eins sage ich dir klipp und klar, Florine: Ich brauche jemanden wie Stella, und ich sage dir auch den wahren Grund dafür. In mir drin stirbt alles, weil ich deine Mutter so sehr vermisse. Ich könnte mich weiter an irgendeine verdammte Flasche hängen, aber ich möchte lieber mit jemandem reden. Jemanden an meiner Seite haben, der mir helfen kann, das durchzustehen. Denk mal darüber nach. Ich hoffe, du findest irgendwo in einem Winkel deines Herzens ein bisschen Verständnis.« Und damit verließ er das Haus.

 

Ich versuchte es. Wirklich. Als ich ein paar Tage später von der Schule nach Hause kam, war Daddy in seiner Tischlerwerkstatt, die vom Wohnzimmer abging. Kiefernduft kitzelte meine Nase, als ich zu ihm hereinschaute.

»Könntest du ein bisschen aufräumen?«, fragte er, ohne aufzublicken.

»Warum?«

»Stella bringt uns was zum Abendessen«, sagte er. »Und ich erwarte, dass du nett zu ihr bist.«

Meine guten Vorsätze kullerten davon wie Murmeln, sobald sie zur Tür hereinkam. Ich hasste es, wie ihre Augen glitzerten, als sie Daddy sah, wie sie sich rekelte, als er ihr den Mantel abnahm - wie eine Schlange in der Sonne -, und wie sie sich aufgedonnert hatte, das Gesicht in voller Kriegsbemalung.

»Hallo, Florine«, sagte sie zu mir.

»Ich muss Hausaufgaben machen«, erwiderte ich und verschwand in mein Zimmer. Ich setzte mich an den alten Schreibtisch mit Klappe, nahm ein paar Bogen liniertes Papier heraus und schrieb Ich hasse Stella, bis Daddy an die Tür klopfte und mich zum Essen rief.

»Hab keinen Hunger.«

»Komm da raus«, sagte er. »Bitte.«

Es kostete mich einiges an Überwindung, aber ich setzte mich zu ihnen, allerdings ohne einen von beiden anzusehen.

Stella häufte Spaghetti, braune Soße und dunkle Fleischstücke auf meinen Teller.

»Das sieht gut aus«, sagte Daddy.

»Bceuf Stroganoff«, sagte Stella.

»Klingt wie eine neue Wodkasorte«, sagte Daddy, und Stella kicherte. »Alberner Kerl.«

Daddy hob die Gabel zum Mund, doch Stella legte ihm die Hand auf den Arm. »Hast du nicht etwas vergessen?«

Daddy sah sie verwirrt an.

»Sie meint das Tischgebet«, sagte ich. »Das hat sie doch beim letzten Mal auch gesprochen.«

Stella senkte den Kopf und sagte ein paar Worte.

Daddy murmelte »Amen« und schob sich die erste Portion Nudeln in den Mund. Dann lehnte er sich zurück und lächelte Stella strahlend an. »Lieber Gott«, sagte er, »ich weiß nicht, wann ich zuletzt so was Gutes gegessen habe. Aber«, fügte er mit einem Zwinkern hinzu, »es fehlt noch ein bisschen Salz.«

»O je«, sagte Stella. »Habe ich nicht genug reingetan?«

»Doch, bestimmt«, sagte er und griff nach dem Salzstreuer, »aber ich mag’s gern kräftig gesalzen.«

»Salz ist nicht gut für dich.«

Daddy lachte. »Ich weiß, aber ein bisschen Spaß muss doch sein, oder?«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Bin ich nicht Spaß genug?«

»Ich mag mein Essen einfach salziger als andere«, stammelte er.

»Von mir aus«, sagte Stella pikiert, »dann tue ich demnächst eben mehr rein.«

Daddy stellte den Salzstreuer wieder hin. »Oh, es ist gut so, wie es ist, nicht wahr, Florine?«

»Hunde fressen auch Scheiße, aber ich bin ja schließlich kein Hund«, sagte ich.

Stellas Augen verwandelten sich in spitze Glasscherben. »Das war deutlich.«

»Sie hat hier am Tisch nichts verloren«, sagte Daddy, das Gesicht rot vor Zorn. »Geh in dein Zimmer.«

»Hättest mich ja gleich da lassen können.«

Ich schob den Stuhl zurück, ging in mein Zimmer, knallte die Tür zu und legte eine Elvis-Platte auf. Jailhouse Rock, ganz laut. Ich stellte mir vor, wie Carlie genau in diesem Moment zurückkam und mitten in ihr Abendessen platzte. Sie würde »Hallo, Stella!« sagen, sich setzen, Spaghetti auf ihren Teller füllen, sich bei Stella bedanken, und dann würde alles wieder seinen normalen Gang gehen.

Nach etlichen Durchgängen nahm ich Elvis vom Plattenteller, schlüpfte unter die Decke und schlief. Einige Zeit später wachte ich auf, weil ich hörte, wie Stella weinte und Daddy mit ihr redete. Leise kroch ich aus dem Bett und öffnete die Tür einen winzigen Spalt, um sie sehen zu können. Sie standen an der Haustür, und Stella hatte ihren Mantel an.

»Es ist noch zu früh«, sagte sie. »Ich sehe immer noch Carlie in deinen Augen. Und damit komme ich nicht klar.«

»Es wird eine Weile dauern«, sagte Daddy. »Du musst geduldig mit mir sein.«

»Florine will mich hier nicht haben. Und ich will mich ihr nicht aufzwingen.«

Daddy trat auf sie zu, doch sie wich zurück. »Stella«, sagte er.

»Ich habe jahrelang auf dich gewartet, Leeman«, sagte Stella. »Es war hart, zuzusehen, wie Carlie ein Kind von dir bekam. Das wollte ich mit dir haben.«

»Es tut mir leid.«

»Gute Nacht«, sagte sie und ging.

»Die Hexe ist tot«, sagte ich am nächsten Tag in der Schule zu Dottie.

»Ding-Dong«, sagte Dottie.

Doch zwei Abende darauf, als ich im Bett lag, hörte ich, wie Daddy jemandem die Haustür aufmachte. Vorsichtig spähte ich aus meinem Zimmer. Daddy und Stella standen im Flur, küssten sich und machten komische Geräusche. Sie taumelten in Daddys Schlafzimmer, und keine Minute später fing das Bett an zu quietschen, als strampelte ein Hamster in einem rostigen Laufrad.

Da reichte es mir. Ich zog Carlies Koffer unter dem Bett hervor, in den ich schon ein paar Kleider und andere Sachen gepackt hatte, die ich brauchen würde. Ich legte Carlies Lieblings-Elvis-Platte obendrauf und klappte den Deckel wieder zu. Dann öffnete ich das Fenster, warf den Koffer hinaus und kletterte hinterher. Daddy war nicht der Einzige, der Heimlichkeiten hatte. Während er mit seinen Turteleien beschäftigt gewesen war, hatte ich hier und da etwas Geld aus seinem Portemonnaie und seinen Taschen stibitzt. Ich hatte genug, um nach Long Reach zu gehen, von dort mit dem Bus nach Crow’s Nest Harbor zu fahren und meine Mutter zu suchen.

Es war ungefähr elf Uhr, und die Aprilnacht war dunkel und kalt. Ich lief die Einfahrt hinunter und sah Richtung Wasser. Bei den Warners und den Butts brannte kein Licht mehr. Ich stellte mir vor, wie sie alle friedlich und sorglos schliefen, und Neid loderte in mir auf wie ein Buschfeuer. Sie hatten einander, und Daddy hatte jetzt Stella. Ich war ganz allein.

Diese Erkenntnis traf mich mit solcher Wucht, dass ich mich erst einmal auf den großen weißen Stein am Ende unserer Einfahrt setzen musste. Dann, wie ein einzelner dicker Regentropfen, der den drohenden Guss ankündigt, stieg von irgendwo tief in meinem Innern ein kleiner Ton auf und zwängte sich durch meine Kehle. Selbstmitleid und Kummer taten sich zusammen, und ich erkannte, dass es niemanden auch nur die Bohne kümmern würde, wenn ich fortginge und nie wiederkäme. Wenn ich Carlie nicht finden konnte, würde ich mich eben einer Bande von Waisenkindern anschließen, und zusammen würden wir von Horizont zu Horizont ziehen und Abenteuer erleben.

Doch es gab jemanden, den es kümmerte. In Grands Schlafzimmer ging das Licht an, und der Spitzenvorhang bewegte sich. Dann öffnete sich die Haustür, und Grand kam heraus und stapfte über die Straße. Als sie bei mir angekommen war, fragte sie: »Was um alles in der Welt machst du da, Florine?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm sie meinen Koffer, und wir gingen zu ihr ins Haus.

»Niemand liebt mich«, schluchzte ich.

»Ach, Himmel noch mal, das ist doch Unsinn«, sagte Grand. »Ich hab tief und fest geschlafen, und als ich dich weinen hörte, bin ich sofort aufgewacht. Das ist doch wohl Liebe, oder nicht?«

»Wenn du meinst.«

»Ja, das meine ich. Und jetzt komm, du kannst bei mir schlafen.« Ich schlüpfte neben ihr ins Bett und schmiegte mich mit dem Rücken an ihre warme, weiche Seite.

Als ich spät am nächsten Morgen aufwachte, saß Daddy auf der Bettkante.

»Ich will hierbleiben«, sagte ich.

Er widersprach mir nicht. »Vielleicht brauchen wir beide eine Pause«, sagte er. »Du kannst eine Zeit lang bei Grand bleiben, aber zum Abendessen kommst du nach Hause.«

Wir versuchten es. Aber der Gedanke, dass Stella vermutlich kam, sobald ich das Haus verließ, machte mich verrückt. Immer öfter erfand ich Ausreden, sagte, ich hätte zu viele Hausaufgaben und müsste bei Grand essen, um alles zu schaffen. Bald ging ich kaum noch hinüber zu Daddy.