39
Am nächsten Morgen packte ich den Pullover in einen kleinen Karton und drückte ihn an meine Brust, während ich damit zum Laden ging. Stella staubte die Regale ab, als ich eintrat, aber sie kam sofort herüber, als sie sah, dass ich mit Ray etwas Geschäftliches zu besprechen hatte. »Darf ich mal sehen?«, fragte sie.
Ich öffnete den Karton, und sie strich über die Wolle. »Du hast ein Händchen dafür.«
»Mach noch ein paar«, sagte Ray. »Grands Pullover haben sich immer gut verkauft.«
»Wie viel hat Grand dafür gekriegt?«, fragte Stella.
»Naja, nicht viel«, erwiderte Ray. »Aber sie hat gesagt, sie strickt gerne.«
»Florine muss Geld verdienen.«
»Ich bezahle sie, Stella, keine Sorge. Das handeln wir unter uns aus.«
»Schon klar, aber sie braucht einen Job. Sie geht nicht zur Schule, also muss sie etwas tun.«
»Ich bin hier«, sagte ich. »Und ich höre sehr gut.«
Die beiden sahen mich an, als wäre ich gerade erst aufgetaucht.
»Ich habe mir schon was überlegt«, sagte ich. »Da ist das Brot. Und die Pullover bringen ein bisschen was extra. Dann hoffe ich, dass Daddy mich im Frühjahr mit aufs Boot nimmt, und wenn die Sommergäste kommen, kann ich vielleicht bei denen ein bisschen im Haushalt helfen. Hier gibt’s genug zu tun.«
Ray nickte. »Vielleicht kannst du dich im Sommer hier im Laden nützlich machen. Wir werden sehen.«
»Das wäre gut«, sagte Stella. »Dann kann sie meine Arbeit übernehmen, und ich kümmere mich um die Sandwiches, oder sie verkauft Eis.«
»Sie soll mir helfen, Stella, nicht dir«, sagte Ray.
»Ich weiß, aber ich könnte auch Hilfe gebrauchen.«
Da sie mich bei ihrer Diskussion darüber, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, offenbar nicht brauchten, verließ ich den Laden. Ray konnte mir das Geld für den Pullover später geben.
Draußen atmete ich eine kräftige Portion Winterluft ein, kalt, klar und schneeträchtig. Die grauen Wellen im Hafen drängten sich dicht aneinander, als wollten sie sich wärmen. Ich dachte über das nach, was ich gerade zu Ray und Stella gesagt hatte. Das meiste davon war nur Gerede. Ich wusste nicht, ob Daddy mich mitnehmen würde, und hatte keine Ahnung, wie viele Pullover ich stricken und wie viele Brote ich backen musste.
Den Kopf voller halbgarer Pläne, steuerte ich auf den Weg zu, der in das Naturschutzgebiet führte. Der Boden war mit einer dünnen Schneedecke überzogen. Eigentlich wollte ich zu meiner kleinen Lichtung gehen, doch meine Füße führten mich zum Haus der Barringtons. Ich stand am Waldrand und dachte daran, wie Mr. Barrington mir die Hand geküsst und gesagt hatte, ich sei bezaubernd, genau wie meine Mutter. Ich dachte an das Feuer. An den Mann, der auf Bud und mich gepinkelt hatte. An Louisa, die erste Schwarze, die ich je gesehen hatte. Daran, wie Mr. Barrington mich zurechtgewiesen hatte. Wie Carlie meine Schulter gedrückt hatte, als er das tat. »Meine kleine Verbrecherin«, hatte sie mir ins Ohr geflüstert. Der Wind schnappte das Wort »Verbrecherin« auf und verbreitete es unter den Kiefern.
Das Haus sah schön aus im winterlichen Sonnenlicht. Jede einzelne verwitterte Holzschindel war zu erkennen, und die lupinenblauen Einfassungen der Veranda und der Fenster hoben sich leuchtend davon ab. Ich ging zur Veranda und spähte durch eines der großen Fenster ins Innere. Die Möbel schlummerten behäbig unter weißen Schonbezügen, bis auf ein rosenholzfarbenes Sofa, das dicht vor einem riesigen Marmorkamin stand. Auf dem Metallrost lagen verkohlte Holzreste.
»Nanu«, murmelte ich. »Das ist ja komisch.« Der Hausmeister, der sich um die Sommerhäuser kümmerte, wohnte einige Meilen entfernt. Ich hatte ihn schon öfter in Rays Laden gesehen, wenn er irgendwas für die Sommergäste besorgte. Er trug immer kniehohe Gummistiefel, selbst an den heißesten Tagen, und ging schnell, als hätte er in den Stiefeln einen weiten Weg zurückzulegen.
Ich fragte mich, wieso er den Kamin nicht sauber gemacht hatte. Vielleicht hatte er was mit der Frau eines anderen laufen, und die beiden trafen sich heimlich hier. Oder er kam hierher, um zu trinken. Aber vielleicht interessierte das auch niemanden. Ich ging die Stufen hinunter und über den Rasen bis zum Ende des Grundstücks und sah hinaus aufs Meer. Wie weit mochte Carlies Horizont wohl entfernt sein? Zehn Meilen? Zwanzig? »Wenn du weiter zur Schule gegangen wärst«, sagte ich laut zu mir selbst, »hätten sie’s dir vielleicht verraten.«
»Wahrscheinlich nicht. Das sind alles ahnungslose Idioten«, sagte eine Männerstimme hinter mir.
Ich fuhr herum. Der Typ stand so dicht vor mir, dass ich einen Satz nach hinten machte.
Mit etwas Abstand und angesichts der Tatsache, dass er lächelte, betrachtete ich ihn genauer. Sommersprossen und ein rötlicher Bart, hellbraunes Haar, dunkelbraune Augen. Er konnte kaum älter sein als ich. Er trug eine alte Seemannsjacke, Jeans und abgewetzte Wanderstiefel.
»Wie geht’s dir, Florine?«, fragte er.
»Danke, gut.« Ich wusste immer noch nicht, wen ich vor mir hatte.
»Ich hab gesehen, wie du ins Haus geschaut hast, und ich nahm an, dass es nicht lange dauern würde, bis du meinen Pick-up bemerkst. Deshalb dachte ich mir, ich erspare dir das Rätselraten, wer sich hier rumtreibt.«
»Und wer treibt sich hier rum?«
»Ich bin am Boden zerstört!«, sagte er. »Andy Barrington. Ich hab euch geholfen, die Knaller anzuzünden.« Er zog einen Handschuh aus und reichte mir seine Hand. Sie war warm.
Der ganze Sommer von damals raste wie ein Schnellzug durch mich hindurch, und ich wich erneut einen Schritt zurück.
»Alles in Ordnung?«, fragte Andy.
»Nachdem du uns über den Weg gelaufen bist, gab’s ‘ne Menge Ärger«, sagte ich.
»Na, falls es dich tröstet: Ich hab auch ‘nen Haufen Ärger gekriegt, nachdem ich Tante Camillas Virgin Mary mit Wodka aufgepeppt hatte. Das fanden sie nicht so witzig, weil sie gerade seit einer Weile trocken war. Danach haben sie mich nach Massachusetts zurückgeschickt.«
»Und warum bist du jetzt hier?«
»Weihnachtsferien. Ich durfte eher fahren, weil ich so gute Noten hatte. Eines Tages saß ich im Englischunterricht und dachte an das Haus hier, und plötzlich sagte mir irgendwas, dass ich herkommen sollte. Meine Mutter ist auf den Bahamas, und Dad verbringt die Feiertage irgendwo in den Berkshires mit einer Flasche. Also bin ich vor zwei Wochen von Boston raufgefahren.«
»Haben deine Eltern sich getrennt?«
»Ja. Ein paar Jahre nachdem wir uns kennengelernt haben. Mein Vater fing an zu trinken, als ob die Alkoholvorräte auf der Welt knapp würden, und irgendwann hat meine Mutter ihn verlassen. Ich sehe ihn vielleicht zweimal im Jahr. Ist immer sehr amüsant - er nimmt mich auseinander, und ich zähle die Stunden, bis ich wieder verschwinden kann. Mist, tut mir leid. So genau wolltest du es wahrscheinlich gar nicht wissen.«
Ich zuckte die Achseln. Irgendwie überraschte es mich nicht. »Wie hältst du das Haus warm?«, fragte ich.
»Der Kamin strahlt jede Menge Hitze ab. Ich schlafe direkt davor. Wie geht’s deiner Familie?«
Ich blinzelte. Es war seltsam, dass jemand nicht alle Einzelheiten über meine Familie wusste. Ich entschied mich für die Kurzfassung. »Meine Mutter ist verschwunden. Grand ist vor knapp zwei Monaten gestorben. Daddy lebt mit Stella zusammen, der Kassiererin aus Rays Laden. Ich hab die Schule geschmissen und wohne in Grands Haus.«
Andy ignorierte das mit Carlie und ging direkt zu Grand über. »Deine Großmutter ist gestorben?« Seine Stimme klang traurig. »Sie hat mir jahrelang Pullover gestrickt. Ich habe jedes Jahr zu Weihnachten einen bekommen. Mutter hat sie immer in Auftrag gegeben. Tut mir leid für dich.«
Ich nickte.
»Und du hast deine Mutter verloren?«, fragte er. »Ja, sie ist in dem Sommer verschwunden, als das mit den Knallern war.«
»Einfach so - puff?«
»Ja«, sagte ich. So hatte es noch niemand ausgedrückt. Puff.
»Tut mir leid«, sagte Andy. Wir sahen uns einen Moment an. Ich beobachtete sein Gesicht, das sich von Sekunde zu Sekunde veränderte.
Dann fragte er: »Und die anderen, sind die noch hier? Das pummelige Mädchen und der pummelige Junge? Und der dünne Kerl, der ins Wasser gesprungen ist und das Geld meines Vaters vorm Ertrinken gerettet hat?«
»Unsereins geht nicht weit weg.«
»Was machst du den ganzen Tag, wenn du die Schule geschmissen hast?«
»Stricken. Backen. Putzen. Ich hab genug zu tun.«
»Egal, was du tust, ich bin sicher, es wird gut«, sagte Andy. »Du bist bezaubernd.«
Bezaubernd. Genau wie sein Vater. Ich konnte förmlich hören, wie Mr. Barrington zu Andy sagte: »Junge, sag ihnen, sie sind bezaubernd. Damit kriegst du sie alle rum.« Und um ehrlich zu sein, es stimmte. Es war einfach ein - nun ja - bezauberndes Wort. Andys Blick ließ das ganze Blut in meinem Körper in mein Gesicht schießen. Ich berührte meine Wangen, um mich zu vergewissern, dass sie nicht in Flammen standen.
»Ich mein’s ernst. Du bist wirklich eine gut aussehende Frau«, sagte Andy. »Hast du einen Freund?«
»Im Moment nicht.«
»Ich weiß, es ist kalt im Haus, aber könntest du dir vorstellen, heute Abend zum Essen zu mir zu kommen? Es ist sehr still hier, und ich fände es schön, Gesellschaft zu haben.«
Als ich nicht sofort antwortete, weil ich noch darüber staunte, dass ich gerade meine erste Einladung zu einem Date bekommen hatte, fügte er hinzu: »Du kannst die anderen mitbringen, wenn du willst.«
Das verwirrte mich. Wollte er, dass sie auch kamen? Oder wollte er mit mir allein sein? »Die haben vermutlich schon was anderes vor«, sagte ich.
Sein Lächeln vertiefte sich. »Gut. Also um halb sechs?«
Um die Zeit kamen die Leute von der Arbeit und aus der Schule. Sie würden sehen, wie ich zum Wald raufging, und sich fragen, was ich vorhatte. Das hier wollte ich für mich haben. Die anderen brauchten nichts davon zu wissen. »Lieber später«, sagte ich. »So gegen halb sieben?«
»Okay.« Er gab mir erneut die Hand. Seine Augen funkelten wie Sterne, als er meine Hand an seine Lippen hob, die mich auf einmal an die seines Vaters erinnerten, und einen Kuss daraufhauchte. Sein Atem bildete kleine weiße Wolken, die in den blauen Himmel hinaufschwebten.
Als ich durch den Wald nach Hause ging, fiel mir auf, dass der Winter nicht sämtliche Farben verschluckt hatte. Rote Beeren hingen an den Sträuchern, die in verschiedenen Brauntönen gestaffelt waren. Durch die dünne Schneeschicht lugte dunkelgrünes Moos. Blaugrüne Fichtennadeln streiften mein Gesicht. Über mir wölbte sich die Weite des blauen Himmels. Ich fühlte mich so leicht, dass ich über die Schulter blickte, um zu sehen, ob meine Spuren im Schnee überhaupt zu erkennen waren.
Zu Hause war es still. Die Uhr tickte, ein Wasserhahn tropfte, der Ofen bullerte vor sich hin, und die Wärme stieg durch den Rost im Wohnzimmerfußboden hoch. Ich stellte mich darüber und spürte, wie sie langsam bis in meine Knochen drang. Dann zog ich Mantel und Handschuhe aus und sah auf die Uhr. Es war zwölf. Was zum Teufel sollte ich bis halb sieben machen?
Um einen Teil der Zeit herumzukriegen, zog ich mich ganz aus und stellte mich nackt vor den Spiegel in Grands Schranktür. Hoch sitzende Minibrüste mit radiergummirosa Brustwarzen. Eckige Hüften. Rötlich braunes Schamdreieck. Bauchnabel mit einem kleinen braunen Muttermal im Norden. Langer Hals. Sommersprossen vom Brustansatz bis zum Haaransatz. Lange Affenarme. Ich lächelte. Elfenbeinfarbene Zähne. Nicht so weiß wie die von Andy, aber Grand hatte immer dafür gesorgt, dass ich sie zweimal täglich putzte und Zahnseide benutzte. Als sie starb, hatte sie noch fast alle Zähne, und ich nehme an, sie wollte, dass ich meine auch behielt.
Von der Seite sah man meine Rippen, und ich hatte ein leichtes Hohlkreuz. Mein Bauch war ein bisschen mollig. Was am weitesten herausstand, waren jedoch meine Füße, lang und platt wie die Schiffsrampen am Kai. Dafür hatte ich schön geformte Waden, wie die von Carlie.
Ich drehte mich mit dem Rücken zum Spiegel und musterte meinen Po. Darüber zeichneten sich zwei Grübchen ab. Carlie hatte mir mal erzählt, es wären spezielle Markierungen, die die Engel hinterließen, wenn sie überprüften, ob man fertig war. Ich spannte erst die eine, dann die andere Pobacke an. Fest. Mein Po erinnerte mich an zwei Brotlaibe, und das brachte mich auf die Idee, ein Brot für das Abendessen zu backen. »Man geht nie ohne ein kleines Geschenk zu einer Einladung«, hatte Grand immer gesagt.
Während der Teig ging, nahm ich ein Bad. Ich ließ immer wieder heißes Wasser nachlaufen, indem ich mit meinem großen Zeh den Hahn auf- und zudrehte. Während ich vor mich hin döste, hörte ich draußen Bud mit seinem Fairlane herantuckern. Er wurde langsamer, als er bei Grands Haus ankam, und hielt fast an, dann fuhr er weiter. Ich fragte mich, ob Susan neben ihm saß, und staunte darüber, dass mir das noch heute Morgen etwas ausgemacht hatte. Dottie hatte recht gehabt mit ihrer Mahnung, ich sollte mehr unter Leute gehen.
Ich stieg aus der Wanne, trocknete mich ab und tupfte mir etwas Maiglöckchenparfüm auf die Haut. Nur einen Hauch, der Andy, wie ich vor einer Weile in einer Zeitschrift gelesen hatte, dazu verlocken würde, nach dem Ursprung zu suchen, bis er wild vor Leidenschaft war.
Gegen halb fünf, als ich gerade überlegte, was ich anziehen sollte, klopfte es an der Haustür. »Verdammt«, murmelte ich. Ich wollte nicht aufmachen, aber falls es Daddy war, würde er sich vielleicht sorgen. Also schlüpfte ich in meine Jeans und ein Sweatshirt und ging runter.
Es war Bud.
»Hi«, sagte er.
»Hi.«
Er runzelte die Stirn.
»Willst du reinkommen?«, fragte ich.
»Okay.«
Er stand in der Küche und wich meinem Blick aus.
»Was ist?« Ich nahm das feuchte Tuch von dem gegangenen Brotteig und schob den Laib in den Ofen. Eine Welle heißer Luft schlug mir ins Gesicht. Dann blickte ich wieder zu Bud.
Er sah plötzlich todtraurig aus.
»Bud«, sagte ich erschrocken. »Ist jemand gestorben?«
»Nein.« Er wandte sich zum Gehen. »Ich hätte nicht kommen sollen.«
Ich folgte ihm zur Tür. »Was ist los? Du benimmst dich so komisch.«
Er drehte sich um und sah mich an. »Ich hab eine Freundin, Florine«, sagte er.
»Ich weiß. Susan. Es sei denn, du hast dir heimlich eine neue zugelegt.«
»Nein. Es ist immer noch Susan.«
»Schön«, sagte ich. »Ist alles in Ordnung?«
»Das wollte ich eigentlich dich fragen.«
»Bud, wovon zum Teufel redest du?«
»Ich hab heute mit Dottie gesprochen.«
»Das tust du doch jeden Tag.«
»Ja. Aber sie hat mir erzählt, dass du … Ich wollte dir nur sagen, wenn Susan nicht wäre, dann könnten wir, ich meine, du und ich …«
Diese blöde Dottie, dachte ich. So viel zum Thema Geheimnisse unter besten Freundinnen. Die würde ich mir noch vorknöpfen. »Schon in Ordnung, Bud«, sagte ich. »Ich weiß, dass du mit Susan zusammen bist. Und es freut mich für dich.«
»Gut«, sagte Bud. »Ist ja nicht so, dass ich’s mir nicht vorstellen könnte, aber ich bin halt schon vergeben.«
»Kein Problem«, sagte ich. »Und danke, dass du so ehrlich bist. Wir sind Freunde, okay?«
»Du bist wirklich klasse, Florine«, sagte er. »Lass dir von niemandem was anderes erzählen.«