28

 

Wir hielten in Wiscasset an, um zu tanken, kauften eine Karte, Pappbecher, Orangensaft und Schoko-Donuts. Nachdem ich Dottie versprochen hatte, dass sie die Hälfte von meinem Geburtstagskuchen bekommen würde, tauschten Glen und ich die Plätze, sodass ich vorne neben Bud sitzen konnte. Grand machte mir jedes Jahr einen Konfetti-Biskuitkuchen mit Vanilleglasur, und Dottie sagte jedes Mal, sie könne nie genug davon kriegen. Dieses Jahr würde sie Kuchen essen können, bis sie platzte.

Weiß verputzte und rote Backsteinhäuser säumten die Route i, die sich an der Küste entlangschlängelte, und rechts war immer wieder das Meer zu sehen. Zwischen den Städten breiteten sich frühlingsgrüne Felder und Wälder aus, und Bud kurbelte das Fenster herunter, um die Mailuft hereinzulassen, die uns in der Nase kitzelte. Er hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen. Im Radio sangen die Rascals It’s a Beautiful Morning, wie ein Schwarm Schmetterlinge, die in der Luft tanzten, um mit ihren Flügeln das Sonnenlicht einzufangen.

Ich stellte mir vor, wie Patty und Carlie dieselbe Aussicht betrachtet hatten, die jetzt vor uns lag. Woran wäre ihr Blick hängen geblieben? Welche Orte hätten sie im Gedächtnis behalten, wenn sie Jahr um Jahr dieselbe Strecke fuhren wie wir jetzt? Wiscasset, Thomaston, Rockland. Camden.

Eine Stadt, die sich an die Wellen und Windungen der Küste schmiegte. Schneespitzige Berge zu unserer Linken, katzenbucklige Inseln, die ihre Zehen in das weite, leuchtend blaue Meer tauchten, zu unserer Rechten. Kleine Geschäfte säumten die kurvige Straße. Hatten Carlie und Patty hier jedes Jahr Rast gemacht? War das ein fester Bestandteil ihres gemeinsamen Wochenendes gewesen? In welche Geschäfte wären sie wohl gegangen? Was hätten sie sich gerne gekauft?

»Lasst uns mal anhalten«, sagte ich, doch Bud meinte: »Lieber nicht, Florine. Wir haben noch nicht mal die halbe Strecke geschafft. Kannst du mal auf die Karte gucken?«

Am liebsten hätte ich mich mit ihm angelegt, aber er ging ein ziemliches Risiko ein, indem er die Schule schwänzte, mit seinem neuen Auto so eine weite Strecke fuhr und seiner Freundin nichts von alldem sagte.

Ich stellte mir vor, wie Susan durch die Schulflure ging und nach Bud Ausschau hielt, wie sie mit besorgtem Blick in ihren Klassenraum eilte und ihr kleiner Po in einem der kurzen Röcke, die sie so gerne trug, hin und her wippte. Sie hatte so einen fröhlichen kleinen Po, keck und übermütig wie die Schwanzspitze einer verspielten Katze. »Wird Susan dich nicht vermissen?«, fragte ich Bud. »Was ist, wenn sie in The Point anruft und fragt, wo du steckst?«

»Sie ist heute nicht in der Schule«, sagte Bud. »Sie ist mit ihrer Familie nach Connecticut gefahren. Irgendjemand aus ihrer Verwandtschaft heiratet morgen. Sie haben mich gefragt, ob ich mitkommen wollte. Aber ich hatte keine Lust.«

»Jesses, seht euch den verdammten Kasten da an«, sagte Glen und deutete aus seinem Fenster auf eine dunkelgrüne Villa hinter einer Steinmauer. Das Haus thronte auf einem mit Blausternchen übersäten Hang. Nadelspitze Türme hielten den Himmel davon ab, zu nah an das verschachtelte Giebeldach zu kommen. Die Fenster waren mit dicken Eisengittern verbarrikadiert.

»Das könnte glatt aus Dark Shadows stammen«, sagte Dottie. »Ob’s da auch Vampire gibt?«

»Der Kasten muss ein Heidengeld gekostet haben«, sagte Bud.

»Bestimmt ‘n paar Millionen«, sagte Dottie.

»Wohnen möchte ich da aber nicht«, sagte ich. »Da drinnen verläuft man sich doch.«

»Ich hätte nichts dagegen«, sagte Bud. »Bei uns zu Hause ist es so eng, dass man sich ständig auf die Füße tritt.«

»Aber ich finde, deine Mutter hat es richtig schön eingerichtet«, sagte ich.

»Das hilft auch nicht viel, wenn Sam sauer ist und Dampf ablässt«, sagte Bud. »Da wird’s schwierig, ihm aus dem Weg zu gehen.«

»Bert ist harmlos«, sagte Dottie. »Wenn er rumbrüllt, schaut Evie ihn nur mit großen Kulleraugen an, und ich verschwinde einfach. Aber vor Madeline muss man sich in Acht nehmen.«

»Ray hab ich mittlerweile im Griff«, sagte Glen. »Der brüllt nicht mehr groß rum. Germaine macht’s eher auf die leise Tour. Wenn sie mir tief in die Augen sieht und >Pass mal auf, Glen< sagt, weiß ich, es gibt Ärger.«

»Carlie hat mich nie angebrüllt«, sagte ich. Wir hatten das Gruselschloss hinter uns gelassen und fuhren an endlosen, gleichmäßigen Baumreihen entlang. »Daddy hat manchmal gebrüllt, als ich noch bei ihm war. Und bei Grand würde ich mich gar nicht trauen, sie wütend zu machen.«

»Nein, ich auch nicht«, sagte Bud. »Wo sie doch so einen guten Draht zu Jesus hat und so.«

»Sie ist die Einzige, die mich Dorothea nennen darf, ohne sich Ärger einzuhandeln«, sagte Dottie.

»Sie ist meine Traumfrau«, sagte Glen. »Wenn wir im gleichen Alter wären, würd ich mein Glück versuchen.«

Wir fuhren weiter Richtung Belfast.

Die Bäume wurden weniger, und kurz darauf gab es rechts und links nur noch Felsen mit abgestorbenem Gras dazwischen. Ich erinnerte mich, dass wir in der fünften Klasse von dem Gletscher gehört hatten, der über Maine hinweggerollt war und diese Wüste aus Steinen und vernarbtem Land zurückgelassen hatte. Plötzlich ging mir auf, dass diese Felsen noch jahrhundertelang dort liegen würden, während alles, was ich dachte, fühlte oder tat, zusammengefegt und weggeworfen werden würde wie die Steinchen, die ich mit den Schuhen in Grands Küche schleppte. Es würde vollkommen bedeutungslos sein, dass Carlie verschwunden war, dass ich gekommen war, um sie zu suchen, oder dass Daddy mit einer anderen Frau schlief. Kälte durchlief mich wie ein Fluss aus Eiswürfeln.

»Alles in Ordnung?«, fragte Bud. »Soll ich das Fenster zumachen?«

»Nein«, sagte ich. »Die Gegend hier macht mich nur fertig.«

»Mich auch«, sagte Dottie. »Wie weit ist es noch?«

»Nicht mehr sehr weit«, sagte Bud. »Schau mal auf die Karte, Florine.«

»Noch ungefähr zwei Zentimeter«, sagte ich.

»Verdammt lange Fahrt«, sagte Dottie.

Ich musste ihr zustimmen. Worüber hatten Patty und Carlie die ganze Zeit geredet? Sie sahen sich doch fast jeden Tag.

Was gab es da noch zu sagen, was nicht schon längst gesagt war? Hatte Carlie darüber gesprochen, wie stur Daddy war? Hatte Patty von ihrem neuesten Freund erzählt? Hatten sie je über mich geredet? Und wenn ja, was hatten sie wohl gesagt?

»Wir haben Glück, dass die Touristen noch nicht da sind«, sagte Bud. »Ab dem Memorial Day ist hier überall Stau.«

Die ersten Werbeplakate und Motels tauchten auf. Im Vergleich zu den Touristenfallen, Fischrestaurants und Meeresblicken, die es hier gab, wirkte Camden armselig. Wir fuhren eine kleine Straße hinunter, die nach Crow’s Nest Harbor hineinführte, und kamen an einem kleinen Platz vorbei, auf dem ein Musikpavillon stand. Rundum reihten sich Geschäfte aneinander. Carlie hatte diesen Platz überquert und war in diese Geschäfte gegangen, hatte Kleider anprobiert und Sachen für mich, Daddy oder sich selbst gekauft.

Wir kamen zu einem Stoppschild. Vor uns lag das Gebäude, in dem der Crow’s Nest Harbor Howler, die Lokalzeitung, gedruckt wurde. Daddy hatte eine Ausgabe davon mitgebracht. Carlies Foto und ein Artikel über uns waren darin gewesen, darüber, dass wir zu Hause auf ihre Rückkehr warteten.

»Hat alles nichts genützt«, sagte ich laut.

»Was hat nichts genützt?«, fragte Bud. »Wo haben Patty und Carlie gewohnt?«

»Im Crow’s Nest Harbor Motel. Unten am Wasser.«

Bud steuerte eine Straße hinunter, die zum Meer führte, und auf ein großes blaues Schild mit einer lächelnden Krähe zu, die eine Matrosenmütze auf dem Kopf hatte und in einem unordentlichen Nest saß.

»Das muss es sein«, sagte Glen.

Bud parkte in einer Seitenstraße, und wir stiegen aus.

»Dann mal los«, sagte Bud, und wir gingen einen Fußweg hinunter zu dem Motel.

Es bestand aus einer weißen, eingeschossigen Anlage in L-Form und einem umzäunten, von weißem Beton umgebenen Swimmingpool in der Mitte. Der Pool war leer, aber es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie Patty Carlie zum Abschied zuwinkte und dann in das warme, seidige Wasser sprang, ohne zu ahnen, dass sie Carlie nie wiedersehen würde.

»Was willst du jetzt machen?«, fragte Dottie. Alle drei sahen mich an. Ich wollte gerade die Achseln zucken, da sah ich ein Zimmermädchen in einer der Wohneinheiten verschwinden. »Ob sie uns mal reinschauen lässt?«, überlegte ich. »Ich wüsste gerne, wie die Zimmer aussehen.«

»Glen und ich gehen mal runter zum Hafen«, sagte Bud. »Wahrscheinlich kriegt sie ‘nen Schreck, wenn wir alle vier bei ihr auftauchen und in das Zimmer reinwollen. Kommt einfach nach, wenn ihr fertig seid.« Er lächelte mich schief an, dann verschwand er mit Glen. Dottie und ich gingen zu der offenen Tür, und Dottie steckte den Kopf in die Dunkelheit, »’tschuldigung«, sagte sie, »können wir uns vielleicht das Zimmer mal ansehen? Meine Bowlingmannschaft überlegt, eine Fahrt hier rauf zu machen, und wir sind auf der Suche nach einer Unterkunft.«

Das Zimmermädchen, eine kleine, dunkle Frau, drall wie ein gut gefüttertes Rebhuhn, breitete gerade eine weiße Tagesdecke über eines der beiden Betten. Sie ging um das Bett herum und strich die Decke glatt. »Von mir aus«, sagte sie. »Hauptsache, ihr fasst nichts an.«

Sie verschwand im Bad, und Dottie und ich betraten das Zimmer. Zwei weiß bezogene Betten vor einer hellblauen Wand mit dunkelgrünem Farnmuster. Dazwischen ein honigfarbener Nachttisch, auf dem zwei kleine Lampen standen, mit blauem Schirm und durchsichtigem, mit Muscheln gefülltem Glasfuß. An der gegenüberliegenden Wand eine Kommode mit einem Fernseher obendrauf. Ein schwerer blauer Vorhang, hinter dem ein großes Fenster zu erkennen war, und davor ein kleiner Tisch mit zwei hellblau bezogenen Stühlen. Ich ging hinüber und zog die Vorhänge auf. Das weiße Licht der Bucht drang ins Zimmer und fiel auf Dotties Gesicht, das bereits gebräunt war. Ihre glänzenden braunen Augen betrachteten die Aussicht. »Nicht übel«, sagte sie.

Das Zimmermädchen betätigte die Klospülung. Sie summte ein paar Töne, dann verstummte sie. Sie zog den Duschvorhang zurück und drehte den Wasserhahn auf.

»Welches Bett Carlie wohl genommen hat?«, sagte ich. Zu Hause hatte sie auf der linken Seite des Bettes geschlafen. Daddy hatte die Türseite genommen, weil er als Erster aufstehen musste.

»Keine Ahnung«, sagte Dottie. Das Zimmermädchen drehte den Wasserhahn wieder zu und kam mit einem kleinen Mülleimer ins Zimmer. »Wenn ihr euch auch das Bad ansehen wollt, nur zu. Aber beeilt euch. Ich muss sehen, dass ich hier fertig werde.«

Wir spähten hinein. Winzig. Direkt vor uns das Klo, darüber ein Regal mit Handtüchern. Rechts davon eine kombinierte Wanne und Dusche mit einem weißen Vorhang. Auf der anderen Seite ein Waschbecken mit weißer Ablage und einem Spiegel darüber.

»Da kann man sich ja kaum rühren«, sagte Dottie.

»Entschuldigung«, sagte das Zimmermädchen hinter uns.

Wir zuckten beide zusammen. Sie hatte einen Stapel frischer, flauschiger Handtücher auf dem Arm. »Geht mich ja nichts an, aber warum wollt ihr mit eurer Bowlingmannschaft ausgerechnet hierher kommen? Wir haben gar keine Bowlingbahn.«

»Hab ich gesagt, dass wir bowlen wollen?«, entgegnete Dottie. »Wir wollen bloß mal ausspannen.«

»Wie alt seid ihr überhaupt?«, fragte das Zimmermädchen. »Ihr seht aus, als ob ihr in die Schule gehört.«

»Wir haben frei«, sagte Dottie.

»Komm, lass uns gehen.« Ich drehte mich um und verließ das Zimmer, Dottie im Gefolge.

Draußen schauten wir zurück Richtung Stadt. Diesen Weg war Carlie eines Morgens entlanggegangen und nicht zurückgekommen.

Das Zimmermädchen kam aus dem Haus und ging zu ihrem Putzwagen. Ich raffte meinen Mut zusammen und sagte: »Kann ich Sie was fragen?«

Sie verlagerte ihr Gewicht auf die eine Hüfte, bereit, uns so lange zuzuhören, wie es nötig war, um uns loszuwerden.

»Meine Mutter hat hier früher mal gewohnt«, sagte ich. »Sie kam jeden Sommer mit einer Freundin her.«

»Das tun ‘ne Menge Leute«, sagte das Zimmermädchen.

»Sie ist vor fünf Jahren verschwunden, während sie hier war. Sie ist nie wiederaufgetaucht.«

Die dunklen Augen des Zimmermädchens weiteten sich, und sie richtete sich auf. »Carlie Gilham.« Sie musterte mich eingehender. »Du bist ihre Tochter. Ich kannte Carlie. War ‘ne prima Frau. Sie und ihre Freundin Patty, nicht? Sind manchmal in die Stadt gekommen, wenn sie hier waren, und haben mit uns im Frenchman’s Folly was getrunken. Tat mir echt leid, was damals passiert ist. War das Thema hier in der Stadt. Großer Gott, und du bist ihre Tochter. Nicht zu fassen.«

Mir stiegen die Tränen in die Augen. Sie hatte Carlie gekannt. Sie hatte sie gemocht. Die Leute hatten sich Sorgen gemacht. Die ganze Stadt hatte sich Sorgen gemacht. Sie hatten sie nicht gefunden, aber sie hatten sich Sorgen um sie gemacht.

»Ich bin Jorie Rieh«, sagte das Zimmermädchen. »Eigentlich Marjorie, aber das Mar hab ich als junges Mädchen fallen lassen. Wie heißt du? Carlie hat’s mir gesagt, aber das ist schon Jahre her.«

Ich nannte ihr meinen Namen und stellte ihr Dottie vor. Wir tauschten die üblichen Floskeln.

»Du siehst aus wie dein Daddy«, sagte Jorie. »Gut aussehender Mann. Fiel auf, als er hier war, um sie zu suchen. Groß und kräftig. Tat mir so leid, der arme Kerl. Ist danach noch dreimal hier gewesen, immer so um diese Zeit. Hat jedes Mal einen Kaffee mit mir getrunken. Und dann ist er in die Stadt gegangen. Wollte versuchen, das Ganze zu verstehen, hat er gesagt. Genau wie du jetzt. Wie geht’s ihm? Ich hab ihn lange nicht mehr gesehen.«

»Ihm geht’s gut«, sagte ich. In meinem Kopf wirbelte alles, als ich hörte, dass Daddy hierhergekommen war, allein, um sie zu suchen. Wusste Stella davon? Meine Güte, redete überhaupt noch irgendwer mit irgendwem?

»Ich bin mit meinen Freunden raufgekommen«, sagte ich. »Ich wollte einfach mal sehen, wo sie zuletzt war.«

»Klar, das verstehe ich«, sagte Jorie. »Lass mich mal überlegen. Hat sich nicht viel verändert. Das da ist der Weg in die Stadt. Carlie war oft in dem Buchladen hinten am Ende der Straße. Hat gern Krimis gelesen. Und in Grundys Kleiderladen, diese Straße runter, ungefähr auf halber Höhe. Und im Lard Bücket - frag mich nicht, wieso der so heißt. Das ist so ein Kramladen mit Touristenzeug, manches davon ganz witzig. Aber meistens saß sie hier am Pool, und abends sind sie und Patty in die Stadt gegangen, zum Essen und auf ein paar Drinks. Ein paar Einkaufsbummel und ab und zu mal eine Sonnenuntergangstour mit der Cordelia. Das war’s so ziemlich.«

Mein Verstand tanzte durch Zeit und Raum, stellte sich vor, wie sie hier saß, dort entlangging, in dem Geschäft verschwand, mit den anderen beim Bier saß und quatschte. Das Ganze überlagert von dem Bild, wie Daddy allein den weiten Weg hierherfuhr, in der vagen Hoffnung, etwas Neues herauszufinden.

»Sie hatte Fotos von dir dabei«, sagte Jorie. »Als Baby, als Kleinkind und immer so weiter. War mächtig stolz auf dich.«

»Oh.« Ich spürte, wie sich mir die Kehle zusammenschnürte. Jorie trat einen Schritt auf mich zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und bog mich mit einer Umarmung zu sich herunter wie einen Kiefernschössling. »Schon gut«, sagte ich und löste mich sacht von ihr. »Danke für die netten Dinge, die Sie mir gesagt haben.« Ich wandte mich um und folgte dem Geist meiner Mutter in die Stadt. Dottie trottete hinter mir her wie ein treuer Hund, und unterwegs sammelten wir die Jungs ein.

Der Verkäufer im Buchladen sah uns an wie Schulschwänzer. Was ihn dabei offenbar irritierte, war, dass er uns nicht kannte. Ich ging an den Regalen entlang und betrachtete die Buchtitel. »Wo ist Ihre Krimiabteilung?«, fragte ich ihn. Widerstrebend wandte er seinen wachsamen Blick von Bud und Glen ab, die in den Zeitschriften stöberten, und deutete auf die Wand direkt hinter mir. »Standen die schon immer hier?«, fragte ich.

»Bud«, flüsterte Glen so laut, dass wir ihn alle hören konnten. »Sieh dir das an.«

Der Verkäufer runzelte die Stirn. Wahrscheinlich überlegte er, warum ich ihn danach gefragt hatte und ob Glen sich tatsächlich das ansah, was er vermutete.

»Ja«, sagte er. »Der Laden gehört mir seit vielen Jahren, und die Krimis haben immer da gestanden. Wollt ihr die Zeitschriften kaufen, oder was?«, sagte er zu Bud und Glen.

Bud ging mit einer Autozeitschrift zur Kasse und holte seine Brieftasche heraus. Der Verkäufer beobachtete, wie Glen seine Zeitschrift zurücklegte, unter die neueste Ausgabe von Good Housekeeping.

»Da gehört die nicht hin«, knurrte er Glen an. Glen verdrückte sich aus dem Laden.

Ich stand mit geschlossenen Augen vor dem Krimiregal und versuchte, meine Mutter heraufzubeschwören, sie dazu zu bringen, mir einen Hinweis zu geben, mir zu sagen, welche Bücher sie gekauft hatte, um sie am Pool zu lesen. Offenbar hatte ich ziemlich lange so dagestanden, denn Bud flüsterte mir zu: »Lass uns gehen. Es sei denn, du willst was kaufen.«

Ich folgte ihm nach draußen. Wir gingen zu Dottie und Glen, die sich auf die runden Hocker im Musikpavillon gesetzt hatten.

»Das war vielleicht ein Blödmann«, sagte Glen.

»Vorsicht, Bulle«, sagte Bud. Wir folgten seinem Blick zu einer uniformierten Gestalt, die auf der anderen Seite des Platzes über den Gehsteig ging. Sie bog in eine Seitenstraße ab und war bald verschwunden.

»Wir haben doch nichts angestellt«, sagte Glen.

»Wir schwänzen die Schule«, entgegnete Bud. »Dein Gedächtnis ist echt kürzer als ein Streichholz.«

»Wo ist Grundys Kleiderladen?«, fragte ich. Ich stand in der Mitte des Pavillons und machte eine Vierteldrehung nach rechts. Nichts. Noch eine Vierteldrehung, und noch eine, bis ich mich immer schneller um meine eigene Achse drehte. Die Informationen über meine Mutter und die überraschenden Dinge, die ich über meinen Vater erfahren hatte, vermischten und verwischten sich immer mehr, während ich herumwirbelte und versuchte, das Ganze zu begreifen. Plötzlich packte Dottie mich mitten in der Drehung an den Schultern und zischte: »Hör auf. Der Bulle kommt auf uns zu.«

»Mist«, brummte Bud.

Der Polizist kam zum Pavillon und stellte einen hochglanzpolierten Stiefel auf die unterste Stufe. Er war schlank und gut aussehend, ein bisschen wie Bing Crosby, mit hellen, weit blickenden Augen, die uns verrieten, dass er viel Zeit auf dem Wasser verbrachte.

»Tag«, sagte er. »Solltet ihr nicht in der Schule sein?«

Dottie sagte: »Ja«, und Glen im gleichen Moment: »Nein.«

»Ja, sollten wir«, sagte Bud.

Der Polizist nickte. »Und warum seid ihr nicht in der Schule?«

Bevor Bud etwas erwidern konnte, sagte ich: »Meine Mutter ist vor fünf Jahren von hier verschwunden. Ich wollte mal herkommen und mich umsehen. Ihr Name ist Carlie Gilham, und ich bin ihre Tochter Florine. Ich habe meine Freunde gebeten, mich hierherzubringen. Es ist nicht ihre Schuld.«

Der Polizist musterte mich. »Ich erinnere mich an sie«, sagte er. Ich griff in meine Tasche und nahm ein Foto von ihr heraus. Er nickte. »Ja, natürlich. Das ist fast fünf Jahre her.«

»Ich war damals elf. Morgen werde ich sechzehn.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte er mit einem traurigen Lächeln. »Florine, es tut mir leid, dass wir deine Mutter nicht gefunden haben. Wir sind wirklich jedem Hinweis gefolgt. Dein Vater ruft immer noch jedes Jahr an, ungefähr um die Zeit, als es passiert ist.«

Wieder Daddy, immer noch auf ihrer Spur.

»Wir sind in Kontakt mit der State Police, mit Parker Clemmons unten bei euch und mit Detective Pratt in Blueberry Harbor. Wir haben nie aufgehört, sie zu suchen, Florine. Das musst du mir glauben.«

»Das sagen alle«, murmelte ich.

Der Polizist nickte. »Ihr solltet euch besser auf den Heimweg machen. Ihr habt noch eine lange Fahrt vor euch.«

 

»War nett von dieser Jorie, dir das alles zu erzählen«, sagte Dottie. Ich saß mit ihr auf der Rückbank. »Ja«, sagte ich.

»Na ja, wenigstens bist du da gewesen. Jetzt weißt du, wie es dort aussieht.«

»Ich dachte, wenn ich hinfahre, würde irgendwas passieren. Irgendwas würde sich ändern«, sagte ich. »Ich dachte, Carlie spricht vielleicht zu mir, erklärt mir, was geschehen ist. Aber ich weiß es immer noch nicht. Es war eine blöde Idee.«

»Nein, war es nicht«, widersprach Dottie. »Immerhin hast du was unternommen.«

Schweigend fuhren wir weiter. Trauer umgab meinen Teil der Rückbank, aber ich weinte nicht. Ich sah nur zu, wie die Landschaft vorüberglitt, und dachte mehr an Daddys stille, einsame Suche als an Carlie.

Nach ungefähr zwei Stunden sagte ich »Danke« zu Bud.

»Keine Ursache«, sagte er und sah mich im Rückspiegel an. Dann blickte er wieder auf die Straße. Ich betrachtete seinen Hinterkopf. Dichtes Haar, etwas zu lang für meinen Geschmack, kleine, eng anliegende Ohren. Ich mochte die Stelle an seinem Hals, wo die Haare in einer Spitze ausliefen. Ich hätte sie gerne gestreichelt, überließ es aber meiner Fantasie.

Gegen fünf waren wir wieder zu Hause. Als wir auf The Point zufuhren, sah ich, dass die Carlie Flo neben der Maddie Dee draußen an ihrer Boje lag.

»Daddy ist endlich wieder mit dem Boot raus«, sagte ich.

Bud setzte mich ab. »Ich hoffe, es hat ein bisschen geholfen«, sagte er. Er gab mir einen warmen Händedruck, dann fuhr er weiter zu seinem Haus.

 

An meinem sechzehnten Geburtstag wachte ich vom Duft nach Biskuitkuchen auf, und Grand hatte das Radio in der Küche auf den Oldies-Sender gestellt. Big-Band-Musik klang die Treppe herauf. Ich wandte den Kopf und sah auf den Mickymauswecker. Seine Hände zeigten auf elf Uhr.

Ich hörte, wie Daddy zur Haustür hereinkam, in die Küche ging und leise mit Grand sprach. Mein Daddy, den ich nicht kannte. Seine heimlichen Fahrten nach Norden. Sein Entschluss, sich von Stella das Bett wärmen zu lassen. Für einen Mann, der sich in seinem Leben eingerichtet hatte, war er voller Überraschungen.

Wie sich zeigte, hatte er auch eine für mich.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, rief er mir von unten zu. »Komm doch mal kurz runter.«

Ich stieg in meine Jeans und zog den letzten von Carlies Pullis an, der mir noch passte. Die Ärmel waren zerfranst und zu kurz, und das Bündchen hing auf Höhe meines Bauchnabels, aber das war mir egal.

Ich ging zu Daddy, der in der Küche saß und Kaffee trank. »Komm mit«, sagte er.

»Wohin gehen wir denn?«

»Das ist eine Überraschung«, sagte er. Ich folgte ihm hinunter an den Kai.

Mein Herz machte einen Satz, als ich die Carlie Flo im Hafenbecken schwimmen sah.

»Sie sieht gut aus«, sagte ich.

»Schau mal auf das Heck«, sagte Daddy, und als hätte sie es gehört, drehte sie sich ein wenig, sodass ich ihren Rumpf von der Seite sehen konnte. Ich trat vor bis an den Rand des Kais und sah, dass Daddy ihren Namen in Florine geändert hatte. Keine Carlie und zu meiner Überraschung auch keine Stella. Die Buchstaben leuchteten hellgrün auf dem Dunkelgrün ihres Rumpfes.

»Jetzt willst du sicher wissen, warum ich den Namen deiner Mutter weggenommen habe«, sagte Daddy. »Ich werde dir die Wahrheit sagen. Ich habe nicht aufgehört, an sie zu denken. Das werde ich nie tun. Aber mit einem Boot rauszufahren, das ihren Namen trägt, wo sie doch verschwunden ist, nun ja, das macht mich nervös. Gott weiß, wo sie ist, aber wir nicht, und ich brauche einen verlässlichen Namen für das Boot. Du hast dasselbe durchgemacht wie ich, wir sind zusammen durch dick und dünn gegangen. Im Kopf sind wir nicht immer einer Meinung, aber ich weiß, in unserem Herzen verstehen wir uns. Und ich weiß, ich kann mich auf dich verlassen.«

Ich schlang die Arme um ihn und drückte ihn an mich. Das letzte Mal, als ich das getan hatte, war meine Nase an der Stelle gewesen, wo seine beiden Rippenbogen zusammentrafen. Jetzt lag meine Nase knapp unterhalb seiner Schulter. »Alles Gute zum Geburtstag, Florine«, sagte er.