14
Die Silvesterparty bei den Butts war Tradition. Wir Kinder futterten Süßigkeiten, bis uns schlecht war, während die Erwachsenen tranken, rauchten, Karten spielten und im Verlauf des Abends immer lauter wurden. Im vergangenen Jahr hatten wir draußen vor dem Haus die letzten Sekunden bis zum Jahreswechsel gezählt, den Blick zu den Sternen gerichtet. Carlie hielt Daddy fest, der schon ziemlich schwankte, und ihr fruchtiger Punschatem kitzelte mir in der Nase, als ich mich an ihre Taille schmiegte. Um Mitternacht küssten Carlie und Daddy sich lange und innig, und auf dem Heimweg rutschte Daddy aus und fiel in den Schnee. Er stellte Carlie ein Bein, sodass sie neben ihm landete, und als sie aufstehen wollte, hielt er sie am Fuß fest.
»Lass das, Leeman«, sagte sie lachend und versuchte, sich ihm zu entwinden.
Als ich ihr helfen wollte, zog er mich auch noch nach unten, und Carlie und ich machten uns vor Lachen fast in die Hose, bis es uns schließlich gelang, uns aufzurappeln und ihn nach Hause zu schleppen.
Aber das war letztes Jahr. Dieses Jahr meinte Daddy, wir sollten lieber zu Hause bleiben.
»Ich dachte, es wäre vielleicht eine gute Idee, dieses Jahr mal etwas Ruhigeres zu machen. Aber wir kriegen Besuch. Stella kommt vorbei und will uns was Leckeres kochen.«
Er hätte genauso gut sagen können: »Der Teufel kommt vorbei und will uns mit einem glühenden Schürhaken Löcher in den Hintern bohren.«
Als er meine Miene sah, sagte er: »Komm, Florine, mach nicht so ein Gesicht. Wir essen zusammen, und dann kannst du zu Dottie rübergehen.«
»Ich dachte, du willst sie nicht sehen. Du hast versucht, dich vor ihr zu verstecken.«
»Ja, das war nicht sehr nett von mir.«
»Was würde Carlie dazu sagen?«
»Das hat mit deiner Mutter nichts zu tun. Wir essen zusammen mit Stella, weiter nichts. Ich freu mich drauf, mal wieder mit einer Freundin zu reden, Florine. So wie du mit Dottie.«
»Das ist doch Quatsch, Daddy.«
»Wie redest du eigentlich mit mir, verdammt noch mal? Reiß dich gefälligst zusammen.«
»Ich mag sie nicht. Sie war gemein zu Carlie.«
»Naja, das tut ihr jetzt leid«, sagte Daddy. »Sie ist nett, und sie leistet mir Gesellschaft.«
»Das tut ein Hund auch, und der sieht besser aus«, gab ich zurück. Er starrte mich fassungslos an, dann verpasste er mir eine Ohrfeige.
Er hatte mich noch nie geschlagen. Wir sahen uns an, als stünde zwischen uns plötzlich ein hoher Stacheldrahtzaun. Wütend stürmte ich davon und verschwand türenknallend in meinem Zimmer. Ich schleuderte meine Bücher eins nach dem anderen an die Wand, fegte alles, was auf meinem Schreibtisch lag, zu Boden und riss die Decke vom Bett. Dann warf ich mich bäuchlings auf die Matratze und schrie in mein Kissen, bis ich heiser war.
Ich hörte Daddy erst, als er neben mir stand und sagte: »Hör auf, dich wie ein kleines Kind zu benehmen. Und räum deine Sachen auf.«
»Ich will meine Mutter«, sagte ich in mein Kissen.
»Ich will sie auch«, erwiderte Daddy mit sanfterer Stimme, »aber sie ist nicht hier. Jetzt räum dein Zimmer auf. Nachher kommt Stella, und wir müssen vorher Ordnung machen.«
Diese Schlacht war verloren, das wusste ich. Ich räumte alles wieder an seinen Platz und fegte überall, während Daddy Schnee schippte und Sand streute, damit unser blöder Ehrengast nicht ausrutschte.
Sie hatte sich für fünf Uhr angekündigt, und genau als der große Zeiger auf die Zwölf sprang, stand sie vor der Tür, wie am ersten Tag bei einem neuen Job.
Daddy holte tief Luft. »Jesses, was mache ich da bloß?«, murmelte er.
»Das würde mich auch mal interessieren«, sagte ich.
Er machte die Tür auf, und Stella kam herein, in den Händen zwei braune Topflappen und dazwischen einen orangefarbenen Schmortopf. Die beiden tanzten umeinander herum, während Stella einen Platz für den Topf suchte und sich daranmachte, ihren Mantel auszuziehen. Daddy wollte ihr dabei helfen, also zog sie ihn wieder an, damit er die Chance dazu bekam, und sie mussten lachen. Schließlich hängte Daddy ihren Mantel an die Garderobe neben der Tür.
Stella trug ein rotes Kleid mit einem breiten Gürtel um ihre winzige Taille. Sie hatte jeden Zentimeter ihres dünnen Nichts in ein kurviges Etwas gezwängt. Und das hatte sie bestimmt nicht für mich getan.
»Wie geht es dir, Florine?«, fragte sie.
»Danke, gut.«
»Freut mich, dass du kommen konntest«, sagte Daddy.
»Schönes Wetter heute, nicht?«, sagte ich. Daddy warf mir einen Blick zu.
Stella sagte: »Nun ja, es könnte schlimmer sein, wie mein armer Vater immer gesagt hat.«
»Florine, deck doch schon mal den Tisch«, sagte Daddy.
Während ich Teller, Gläser und Besteck verteilte, stellte Stella ihren Schmortopf auf einen schwarzen Untersetzer, den sie ebenfalls mitgebracht hatte. Darauf stand: »Wo immer ich meinen Gästen servier’, stets heißt es: Nirgends schmeckt es so wie bei dir!« Wir setzten uns, und Stella sprach ein kurzes Dankgebet, dann füllte sie uns irgendwas mit Schinken, Sahnesoße und Kartoffeln auf. Ich wünschte, ich könnte sagen, es schmeckte grässlich, aber es war eines der leckersten Gerichte, die ich je gegessen hatte. Überall in meinem Mund explodierten kleine, würzige Geschmacksüberraschungen. Ich hätte zu gerne noch einen Nachschlag gehabt, aber eher hätte ich mich schlagen lassen, als darum zu bitten. Daddy hingegen sagte immer wieder: »Mmh, ist das lecker«, und: »Kann ich noch was davon haben?« Ich sah das zufriedene Glitzern in Stellas Augen, während sie ihm beim Essen zusah. Sie hatte ihn am Haken, zumindest für diese Mahlzeit. Ich kippte meine Milch in ein paar Riesenschlucken runter, damit ich mich verziehen konnte und nicht länger dabei zusehen musste, wie Stella Daddy mit ihren Kochkünsten um den Finger zu wickeln versuchte.
»Gut, dass du deine Milch trinkst«, sagte Stella zu mir. »Du wächst noch, und da brauchst du viel Kalzium. Damit du starke Knochen und Zähne kriegst.«
»Danke für den Hinweis«, sagte ich. »Kann ich aufstehen, Daddy?«
Er hob kurz den Kopf, nickte und wandte sich dann wieder dem Essen zu.
Ich ging in mein Zimmer, rollte meinen Schlafanzug zusammen und holte meine Zahnbürste aus dem Bad. Währenddessen redete Stella die ganze Zeit, bis die Luft voller Worte war. Worte über Leute, die in den Laden kamen, über Leute, die sie und Daddy kannten, über Leute in der Kirche und so weiter. Daddy gab ab und zu ein Geräusch von sich, aber offensichtlich bestand sein Part darin, alles runterzuschlingen bis auf Carlies gute Tischdecke. Die hatten Carlie und ich mal bei einem Garagenflohmarkt entdeckt und mit nach Hause gebracht. Sie war aus feiner weißer Baumwolle, die mit noch weißeren Blumen bestickt war. Der einzige Fehler, den sie hatte, war ein kleiner Riss in einer Ecke. Aber Stella merkte gar nicht, wie schön die Tischdecke war. Sie hatte die Ellbogen aufgestützt und fixierte Daddy wie eine Katze einen Vogel.
»Ich geh zu Dottie«, sagte ich, schon auf dem Weg nach draußen.
»In Ordnung«, sagte Daddy.
»Frohes neues Jahr«, rief Stella mir nach.
»Frohes neues Jahr, du Schnepfe«, murmelte ich und schloss die Tür ein bisschen lauter als nötig.
»Sie ist hinter ihm her«, sagte ich zu Dottie. »Sie lacht über alles, was er sagt. So ein dämliches Lachen, wie ein Esel, der sich verschluckt hat. Und dann betet sie auch noch vor dem Essen.«
»Das ist ja schrecklich«, sagte Bud. »Dem lieben Gott für das Essen zu danken. Dafür sollte man die Schlampe teeren und federn.«
Ich versetzte ihm einen Klaps auf den Arm.
Dottie, Bud und ich saßen bei den Butts in der Küche und spielten Gin Rummy. Wer als Erster 2000 Punkte erreichte, hatte gewonnen. Bud war bei 1700 Punkten und fühlte sich schon als Sieger. Aber ich würde ihm zeigen, wo der Hase langlief. Carlie hatte mir Gin Rummy beigebracht. An Regentagen hatten wir stundenlang zusammen gespielt. Sie hatte immer gewonnen. »Du musst bereit sein, dich von den großen Karten zu trennen«, hatte sie zu mir gesagt. »Sie haben zwar einen höheren Punktwert, aber wenn jemand anders ausspielt, und du hast sie noch in der Hand, kostet das richtig Punkte. Du musst die Karten sammeln, die gut zusammenpassen.«
Und genau das hatte ich vor.
»Gin«, sagte ich zu Dottie und Bud. Es war ein dicker Gewinn - beide hatten noch Buben, Damen und Könige auf der Hand, und sie verloren eine Menge Punkte. Dottie hatte ohnehin nicht sehr gut dagestanden, und jetzt lag sie hoffnungslos zurück. Bud und ich hatten ungefähr Gleichstand.
»Wo hast du die denn hergeholt?«, fragte Bud.
»Aus ihrem Hintern«, brummte Dottie.
»Ist ja auch egal«, sagte Bud. »Jedenfalls hat sie uns ganz schön abgezockt.«
Ich gewann auch die nächsten vier Partien. Ich hätte die ganze Nacht weiterspielen können, aber sobald ich die 2000 erreicht hatte, sagte Dottie: »Mir reicht’s. Lass uns gehen, Florine.«
»Nacht«, sagte ich zu Bud und folgte Dottie in die Räuberhöhle, die sie ihr Zimmer nannte. Auf einem Regal an der einen Wand saß eine Reihe Puppen, die ihre Mutter ihr in der vergeblichen Hoffnung gekauft hatte, dass sie doch noch irgendwann Geschmack daran finden würde. Die einsamen Puppen waren das einzig Ordentliche in Dotties Zimmer, weil Madeline sie von Zeit zu Zeit abstaubte. Der Rest war ein wüstes Durcheinander aus Kleidern und sonstigem Zeug, und ich hoffte nur, dass es nicht irgendwie zum Leben erwachen und über mich herfallen würde. Das Bett war bereits gemacht - dafür hatte Madeline gesorgt -, und ich zog meinen Schlafanzug an und sprang noch vor Dottie hinein.
Als Dottie und ich nebeneinander in ihrem großen Bett lagen, lauschte ich auf die Stimmen der Erwachsenen im Wohnzimmer und dachte an andere Stimmen und andere Jahre, in denen Daddys plötzliches Prusten und Carlies mädchenhaftes Kichern Teil der Mischung gewesen waren. Um diese Zeit würde Carlie auf Daddys Schoß sitzen, und er würde sie mit liebesdösigem Blick betrachten. Ich würde mich im Schneidersitz an die Wohnzimmerwand lehnen und mit der Müdigkeit ringen. Ich fragte mich, ob Daddy sie ebenso sehr vermisste wie ich in diesem Moment. Dann dachte ich an Stella und ihren verdammten Schinkenauflauf und ihre eng zusammengegürtete Taille.
»Ich hasse Stella«, sagte ich.
»Lohnt sich nicht«, murmelte Dottie schläfrig.
»Wie würde es dir denn gefallen, wenn die schlimmste Feindin deiner Mutter hier auftauchen würde und Bert schöne Augen machen und zuckersüß tun, und du weißt, sie ist eine Hexe?«
Da wurde Dottie wieder etwas wacher. »Ha!«, sagte sie. »Das ist ja komisch. Glaubst du wirklich, jemand würde hier aufkreuzen und sich an Bert heranmachen?« In der Tat war Bert nicht gerade ein Hingucker. Seine Ohren standen so sehr ab, dass er aussah wie ein Taxi, das mit offenen Türen fuhr.
Mir wurde schwer ums Herz. »Ich vermisse Carlie so sehr«, sagte ich.
»Ich wünschte, ich könnte dir irgendwas sagen, damit es dir besser geht«, sagte Dottie, und dann schlief sie ein. Ich schmiegte den Kopf an ihren warmen, flanelligen Rücken und hörte, wie die Erwachsenen riefen: »Frohes neues Jahr!«
»Frohes neues Jahr, Carlie«, flüsterte ich in die Dunkelheit. Bevor ich mich kopfüber ins Elend stürzte, beschloss ich, mich drüben in eine Ecke zu setzen und den Erwachsenen zuzuhören. Ich stand auf, zog mich an und ging ins Wohnzimmer. Als ich hereinkam, hörten alle auf zu reden und sahen mich an, als müssten sie in der Hölle schmoren, wenn sie sich in meiner Gegenwart amüsierten.
»Alles in Ordnung, Süße?«, fragte Madeline Butts.
Ich nickte. »Dottie schnarcht.« Alle lachten.
Bert schüttelte den Kopf. »Sie hat schon bei ihrer Geburt geschnarcht.«
»Woher willst du das wissen? Du warst doch gar nicht dabei«, sagte Madeline.
»Ich hab sie bis ins Wartezimmer gehört«, sagte Bert. Wieder lachten alle, und dann vergaßen sie mich. Madeline unterhielt sich weiter mit Ida, während Bert, Ray und Sam in die Küche gingen, um noch einen Happen zu essen und sich ein neues Bier zu holen.
Da bemerkte ich, dass Bud noch da war; er saß in einem Plüschsessel in der Ecke des Zimmers und verfolgte alles mit seinen neugierigen dunklen Augen, ein leises Lächeln auf den Lippen.
Er stand auf und sagte: »Komm, wir machen uns aus dem Staub.« Ich folgte ihm in Madelines Atelier, wo die Farben still und nüchtern in ihren Kästen lagen. Bud setzte sich rittlings auf Madelines Malstuhl, sodass seine langen, dünnen Beine an den Seiten abstanden wie gebogene Pfeifenreiniger.
Ich ließ mich ihm gegenüber auf die Kissen eines alten, weichen Sofas fallen, das an der Wand stand.
»Was Glen wohl gerade macht?«, sagte ich. Germaine, seine Mutter, hatte darauf bestanden, dass er über Silvester nach Long Reach kam und sich mit ihr eine Variete-Show in der Oper ansah.
»Er war nicht besonders scharf auf die Veranstaltung.«
»Meinst du, Germaine musste ihn zwingen, einen Anzug anzuziehen?«
»Wahrscheinlich hat sie ihm Geld gegeben.«
Ich dachte an Germaine, die aussah wie ein flinker, zorniger Affe. Bei der Vorstellung, wie Ray und Germaine Glen gemacht hatten, schlug ich die Hand vor den Mund.
»Was ist?«, fragte Bud.
»Nichts«, sagte ich. Wir schwiegen. Ich stellte mir vor, wie Daddy und Carlie mich gemacht hatten. Das kam mir logischer vor, denn ich hatte oft gesehen, wie sie tanzten, lachten, sich berührten, sich küssten, sich stritten und wieder versöhnten. Ich musste wohl ganz in diese Bilder versunken sein, denn plötzlich sagte Bud: »Alles in Ordnung?«
»Ja, klar«, erwiderte ich, zu schnell. Love nie tender… Ihre Füße auf seinen Schuhen. Love nie sweet… Seine Hand auf ihrer Hüfte. Und ich zwischen ihnen.
»Muss ganz schön schwer sein«, sagte Bud.
Mir schossen Tränen in die Augen. »Ja, ist es. Manchmal würde ich am liebsten schreien. Ich will nicht mit Daddy darüber reden, weil er selbst so durch den Wind ist. Ich will Grand nicht dauernd was vorheulen, das hat sie schon oft genug gehört. Dottie weiß nicht, was sie sagen soll. Meistens weiß ich selber nicht, was ich sagen soll. Und ich vermisse sie. Ich vermisse sie schrecklich, Bud.«
Beim zweiten »vermisse sie« war er bei mir und legte den Arm um mich. Ich heulte Rotz und Wasser in sein Flanellhemd. Er hielt mich fest, bis ich mich ausgeweint hatte. Dann blieben wir noch eine Weile so sitzen. Als wir Schritte näher kommen hörten, zog er seinen Arm zurück und stand auf. Madeline steckte ihren Kopf durch die Tür.
»Hallo, ihr zwei«, sagte sie mit kieksender Stimme. »Ich dachte, du wärst gegangen, Bud, und du wärst im Bett, Florine.«
»Bin so gut wie weg«, sagte Bud. »Wir haben nur ein bisschen geredet.«
Ich fragte mich, wie Madeline ihm das glauben sollte, da meine Augen geschwollen waren wie Tischtennisbälle, aber sie sagte nichts, sondern trudelte herein und umarmte Bud schwungvoll.
»Frohes neues Jahr«, sagte sie und gab ihm einen dicken Schmatzer auf die Wange. »Dann schlaf mal gut, Buddy.« Er ging hinaus, und als ich aufstand, hüllte sie mich sanft in ihre Arme und führte mich zurück zu Dotties Zimmer, wo ich statt Schafen die Schnarcher zählte.