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Von da an waren wir offiziell ein Paar. Manche dachten vielleicht, ich wollte sie provozieren, aber das war nicht der Grund, weshalb ich Andy so unverhohlen herumzeigte. Ich mochte ihn. Einerseits, weil er anders dachte, anderes erlebt hatte und mir davon erzählte. Andererseits, weil der Sex so gut war. Er brachte mir Sachen bei und vergaß nie mehr, mich vorher zu fragen. Und er war jemand, der aus der Vergangenheit aufgetaucht war. Er war der lebende Beweis dafür, dass Dinge und Menschen, die verschwunden waren, wiederauftauchen konnten. Er hörte mir zu, wenn ich von Carlie sprach. Jemand Neuem davon zu erzählen, tat mir unglaublich gut. Es hob die Last von meinem Herzen und schob den Verlust ein wenig zur Seite, sodass mehr Raum zum Atmen war.
»Ich erinnere mich an sie«, sagte er. »Sie war so hübsch. Ich habe sie nur einmal gesehen, an dem Tag, als ihr alle draußen auf dem Rasen standet, aber ich erinnere mich noch an ihr leuchtend rotes Haar und ihr fröhliches Gesicht. Mein Vater war damals ein echtes Arschloch. Er hat mich geschlagen.«
»Er hat dich geschlagen?«
»Meistens an Stellen, wo es keiner sah.«
Ich muss ihn angestarrt haben, als hätte er zwei Köpfe, denn er sagte: »Was ist? Meinst du, nur weil wir Geld haben, kommt so was bei uns nicht vor?«
»Und was ist mit deiner Mutter?«, fragte ich.
Er starrte eine Weile schweigend ins Feuer. Wir hatten gerade eine Portion Fischsuppe gegessen, die ich für uns gekocht hatte.
»Mütter können auf mehr als eine Art verschwinden«, sagte er schließlich. »Meine schläft sehr viel. Manchmal verschläft sie den ganzen Tag. Das heißt, wenn ich bei ihr bin. Wenn ich nicht da bin, schläft sie vermutlich noch mehr. Ihre Schwester, meine Tante Meggie, ist mit ihr auf die Bahamas geflogen, damit sie mal ein bisschen rauskommt.«
»Als Grand gestorben war, wollte ich auch nur noch schlafen. Vielleicht läge ich immer noch im Bett, wenn die anderen mich gelassen hätten.«
»Manchmal komme ich mir vor wie eine Waise«, sagte Andy. »Ich meine, ich habe Eltern, aber wo sind sie? Und wenn ich bei ihnen bin, gehen wir uns nur auf die Nerven.«
Wir verbrachten jeden Tag zusammen, außer Weihnachten. Am 25. ging ich zu Daddy und Stella, aber Andy wollte lieber allein sein.
»Niemand will Weihnachten allein sein«, wandte ich ein. »Außerdem möchte mein Vater dich kennenlernen.«
»Ein andermal, meine Süße, okay?«, sagte Andy. »Dieses Jahr will ich ein bisschen schreiben, nachdenken, schlafen und spazieren gehen. Außerdem bin ich nicht allein. Du bist ja nicht so weit weg.«
Am Abend des Weihnachtstages schlangen wir uns umeinander wie gierige Weinranken. Das Jahr 1970 begannen wir in einen dicken Schlafsack gehüllt auf der Veranda, mit Champagner, der mich in der Nase kitzelte und zum Kichern brachte. Wir kuschelten uns aneinander, suchten uns Sterne aus und gaben ihnen Namen. Wir kifften auch ein bisschen, obwohl ich darauf nicht so versessen war wie Andy; ich mochte den Rauch und die Hitze in meinen Lungen nicht und ebenso wenig die dumpfe Niedergeschlagenheit hinterher.
So ging es weiter in den Januar hinein. Er und ich aneinandergeschmiegt, um uns gegen die eisige Kälte und die Stürme zu schützen, die draußen tobten. Meist blieben wir im Sommerhaus, Andy wegen des Abenteuers, ich wegen der Ungestörtheit. Wir hielten das Feuer am Brennen, rückten die Möbel nah an den Kamin und trugen mehrere Kleiderschichten übereinander. Wenn wir duschen oder uns aufwärmen wollten, gingen wir in Grands Haus. Im Sommerhaus zogen wir ins Elternschlafzimmer mit dem großen Bett und dem Kamin. Unser Geschäft erledigten wir in einem Nachttopf, den wir dann über die Klippen leerten. Einmal stand ich mit dem leeren Nachttopf in der Hand am Ende des Grundstücks und blickte zum Haus zurück. Ich sah unsere Kinder auf einem makellos gepflegten Sommerrasen herumtoben.
Andy hatte es offenbar nicht eilig, wieder zur Schule zu gehen. Das fand ich merkwürdig, aber da ich den Kram hingeschmissen hatte, war ich wohl die Letzte, die da nachbohren konnte. Doch er sollte im Juni seinen Abschluss machen, und mittlerweile war es Mitte Januar. Schließlich fragte ich ihn doch. »Wann gehst du eigentlich wieder zur Schule?«
Wir lagen nackt im Bett, einander zugewandt. Er lächelte. »Ich betreibe private Studien.«
»Du gehst nicht zurück, stimmt’s?«
»Hättest du denn was dagegen, dass ich hierbleibe?« Er schob seine Hand zwischen meine Beine, und innerhalb kürzester Zeit hatte ich die Frage vergessen.
Ein paar Tage später verspürten wir beide das Bedürfnis, uns zu waschen, und so gingen wir gemeinsam hinunter zu Grands Haus. Als wir Hand in Hand durch die vormittägliche Stille schlenderten, kam uns Bud in seinem Auto entgegen. Er fuhr an uns vorbei, ohne uns anzusehen, und sein Mund war so angespannt wie ein Nylontau bei Flut. »Hat wohl verpennt«, sagte ich.
»Er ist cool«, sagte Andy. »Dieser Blick in seinen Augen. Er könnte ein gefährlicher Typ in einem Film sein, jemand, dem man überhaupt nichts Böses zutraut. Ein Spion oder so.«
Ich schnaubte. »Bud? Ach was.«
Während Andy nach oben ins Bad verschwand, ging ich in die Küche, wo ich auf dem Tisch ein Blatt Papier fand, beschwert mit Grands Blauhäher-Pfefferstreuer. Im ersten Moment erkannte ich die Schrift nicht, doch dann sah ich, dass es Daddys war. Er schrieb selten etwas außer einer Einkaufsliste. Seine Schrift war groß und kringelig und wanderte auf dem Blatt schräg nach unten.
Meine liebe Florine (stand darauf), ich muss Dir was sagen. Aber weil Du so selten hier bist geht das nicht, also schreibe ich Dir. Ich mach mir Sorgen um Dich, und ich will das Du wieder in Grand’s Haus zurückkommst. Ich weiß, wir reden nicht viel, aber ich bin immer noch Dein Vater und Du sollst wissen das ich Dich lieb hab, auch wenn ichs nicht oft sage. Wenn Du nicht allein kommen willst bring den Jungen mit, vielleicht finden wir eine Lösung. Bitte komm und red mit mir.
Alles Liebe,
Dein Daddy
»Oh Daddy.« Ich spürte eine Welle von Zärtlichkeit, als ich seine Schreibfehler sah und die Stellen, wo er mit dem Bleistift so fest aufgedrückt hatte, dass das Papier gerissen war. Wenn er mir einen Brief schrieb, musste ihn wirklich etwas beschäftigen. Vielleicht hatte Stella ihn dazu gedrängt, aber das änderte nichts. Ich war eine schlechte Tochter gewesen. Ich hatte weder an ihn gedacht noch an Grands Haus oder das Brot oder das Stricken oder überhaupt irgendetwas jenseits von Andy und seinem Sommerhaus.
Als Andy aus dem Bad kam, sagte ich: »Willst du meinen Vater kennenlernen?«
Er sah mich misstrauisch an. »Wieso? Ist er hier?«
»Nein. Er möchte, dass wir mal zum Abendessen kommen.« Als ich merkte, dass er am liebsten flüchten wollte, fügte ich hinzu: »Keine Sorge. Stella wird irgendwas Leckeres kochen, und zwar reichlich. Daddy wird nicht viel sagen, aber Stella dafür umso mehr. Wir bleiben nicht lange, zwei Stunden vielleicht. Er will dich einfach nur kennenlernen, mal dein Gesicht sehen.«
»Er ist nicht gerade ein Hänfling«, sagte Andy. »Wer weiß, was er davon hält, dass ich’s mit seiner Tochter treibe.«
»Ich glaube kaum, dass das ein Thema sein wird.«
»Mit Vätern habe ich nicht viel Glück.«
»Du willst also nicht mitkommen?«
Als er die leise Schärfe in meiner Stimme hörte, lenkte er ein. »Ich tu’s für dich. Wann denn?«
»Am besten fragen wir Stella, ob es ihnen heute Abend passt«, sagte ich. »Dann haben wir’s hinter uns.«
Wir machten uns auf den Weg zum Laden, doch als wir auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen, sagte Andy: »Ich gehe zurück zum Sommerhaus. Hol mich ab, wenn’s so weit ist. Wir haben fast kein Holz mehr, und ich muss welches holen. Es könnte Schnee geben.«
Ich sah zum Himmel. Er war so blau wie Daddys Augen. »Na ja, ich hab so ein Gefühl, als ob es bald Schnee gibt«, sagte Andy.
»Was ist los mit dir?«, fragte ich.
»Nichts. Ich hab nur das Gefühl, wenn ich kein Holz hole, gibt’s Schnee. Warum abwarten, wenn ich es genauso gut jetzt erledigen und uns damit ‘ne Menge Ärger ersparen kann? Dein Vater fände es doch bestimmt gut, dass ich mich um dich kümmere und dafür sorge, dass du es warm und trocken hast, oder?«
Ich wusste, dass es nur eine Ausrede war. Aber wir beide hatten unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Meine waren größtenteils gut, seine nicht. Also ließ ich ihn gehen.
»Bis später«, sagte ich.
Er gab mir mitten auf der Straße einen schmatzenden Kuss, dann machte er sich auf den Weg zum Wald.
Ich betrat den Laden. »Ich habe Daddys Zettel gefunden«, sagte ich zu Stella. »Wie wär’s heute Abend?«
Sie fing sofort an zu strahlen. »Oh, das wäre wunderbar.« Sie beugte sich über die Lebensmitteltheke. »Ich habe gesehen, wie du Andy geküsst hast.«
»Wann sollen wir kommen?«, fragte ich.
»Gegen fünf.«
Ich ging zurück zu Grands Haus. Das neue Jahr war schon nicht mehr ganz so neu, und das rubinrote Glas hatte seine Neujahrsreinigung noch nicht bekommen. Ich nahm alles heraus, wischte die Vitrine, spülte und trocknete sämtliche Teile und räumte sie wieder ein. Ich drückte das Ersatzherz, das Grand bei dem Fest geschenkt bekommen hatte, an mein richtiges und fragte mich, ob wohl je irgendwer das ursprüngliche Herz finden würde, das ich als Pfand für Carlie ins Meer geworfen hatte. Ob es irgendwann irgendwo ans Ufer gespült würde? Und was würde sein Finder wohl denken?
Gegen vier ging ich rauf zum Sommerhaus. Es dämmerte bereits, aber ich konnte Rauch vom Schornstein aufsteigen sehen. Als ich das Haus betrat, empfing mich der Geruch nach Hasch. Andy saß summend und leise schaukelnd auf dem Boden und warf kleine Zweige ins Feuer.
»Wie ich sehe, hast du Holz geholt«, sagte ich.
»Hey.« Er drehte sich zu mir um. Das Weiß seiner Augen war kirschrot.
»So kannst du nicht zum Essen mitkommen.«
»Was?« Er kicherte. »Du bist hübsch.«
»Wie heiße ich?«, fragte ich. »Weißt du überhaupt, wie ich heiße?«
Lachend schlug er sich auf die Schenkel. »Wie du heißt? Klar weiß ich, wie du heißt. Du bist meine süße Florine aus The Point. Mein Mädchen.«
»Verdammt«, sagte ich. »Andy, ich gehe jetzt zum Essen. Wenn ich nicht auftauche, machen die beiden sich Sorgen.«
»Oh.« Sein Gesicht wurde plötzlich ernst. »Na, dann hilf mir hoch, und wir gehen.«
»Du bist zu bekifft.«
Er fing wieder an zu lachen, und ich drehte mich um und ging hinaus in die Dunkelheit. Am Waldrand holte er mich ein. Er warf sich von hinten auf mich, sodass ich auf den verharschten Schnee fiel und mir die Hände aufschürfte. Seine Hände wanderten unter den frisch gewaschenen, gebügelten Rock, den ich für das Abendessen angezogen hatte.
Mit Tränen in den Augen schob ich seine Hände weg. »Lass das. Ich muss los. Geh zurück ins Haus, sonst erkältest du dich noch.«
Er strich mit der Rückseite seiner Finger über meine Wange und betrachtete mich mit einem Blick, in dem so viel Liebe lag, dass es wehtat. Ich versuchte, mich unter ihm hervorzuwinden.
»Ich muss los«, wiederholte ich. »Wir sehen uns später, okay?«
Er rollte sich zur Seite und half mir auf. Lächelnd sagte er: »Ich liebe dich.«
Meine Hände und Knie schmerzten. »Ich dich auch.« In dem Moment meinte ich es ehrlich. Wie auch nicht, wo er mich doch so sehr brauchte?
Er küsste mich so fest, dass ich mir die Lippe an einem Zahn verletzte und Blut schmeckte.
»Andy, bitte lass mich gehen.«
Nachdem ich ein kleines Stück gegangen war, blickte ich mich noch mal um. Er sah mir nach. In dem Zwielicht schien er auf dem Weiß zu schweben.
Da ich mich nach meinem Sturz erst noch umziehen und meine Hände sauber machen musste, war es halb sechs, als ich zu Daddy und Stella rüberging. Ich sagte den beiden, Andy hätte eine plötzliche Erkältung bekommen. Doch Stellas Augen leuchteten wie Scheinwerfer, und ich wusste, sie konnte es kaum erwarten, am nächsten Morgen allen zu erzählen, dass Andy nicht gekommen war. Dadurch würde er auffallen wie ein bunter Hund und weit mehr im Rampenlicht stehen, als er je gewollt hatte.