12

 

Später an dem Tag, als Rose und ich uns mit ihren Matheübungen plagten, ertönte die tiefe Stimme des Direktors aus dem Lautsprecher, die befahl, sofort zu unserer Klasse zurückzukehren.

Im Klassenzimmer herrschte Totenstille. Alle sahen Mrs. Richmond an. Sie stand vor ihrem Pult, und ihr Gesicht war ernster, als ich es je erlebt hatte. »Florine, Rose, setzt euch«, sagte sie, und wir gehorchten. Dann wandte sie sich an die Klasse. »Ich habe sehr schlechte Nachrichten. Heute Morgen hat jemand in Dallas, Texas, auf Präsident Kennedy geschossen. Ich muss euch leider mitteilen, dass er eben gestorben ist.« Sie zog ein Taschentuch aus der Jacke ihres Freitagskostüms, nahm die Brille ab und wischte sich über die Augen.

Wenigstens wissen sie, was mit ihm passiert ist, dachte ich. Dann hatte ich ein schlechtes Gewissen. Rose drehte sich zu mir um und flüsterte: »Mein Poppy hat gesagt, die Russen würden ihn töten, und das haben sie getan. Meinst du, sie werfen Bomben auf uns, jetzt, wo er tot ist? Poppy sagt, sie hassen uns.«

»Ich weiß nicht.«

»Die Busse werden gleich da sein und euch nach Hause bringen«, sagte Mrs. Richmond. »Ich nehme an, die Schule wird für ein paar Tage schließen. Wir sagen euren Eltern aber noch Bescheid.«

»Sollten wir nicht lieber hierbleiben?«, fragte Rose mich. »Und uns unter den Tischen verstecken?«

»Sie wollen, dass wir nach Hause fahren«, antwortete ich.

Draußen nahm sie meine Hand und blickte zum Himmel, wahrscheinlich auf der Suche nach russischen Bombern. Wir stellten uns zu Dottie, Bud und Glen an die Haltestelle.

Nach einer Weile bog Sam Warner auf den Schulhof, und wir gingen zu seinem Auto. »Ich muss in die Stadt, bevor sie die verdammten Läden dichtmachen«, sagte er durch das offene Seitenfenster. »Steig ein, Bud.«

»Okay«, sagte Bud. Glen stieg ebenfalls ein.

»Wollt ihr zwei auch mit?«, fragte Sam Dottie und mich.

Rose umklammerte unsere Hände. »Bitte bleibt bei mir.«

»Wir nehmen den Bus«, sagte ich, und Sam fuhr los.

Im Bus setzte Rose sich wieder neben mich. »Mein Poppy sagt, die Russen haben Bomben, mit denen man die ganze Welt in die Luft jagen kann. Ich will nicht in die Luft gejagt werden.« Sie schmiegte sich an mich. Ihr Haar roch nach Staub.

»Wir werden sterben«, sagte sie.

»Nein, das werden wir nicht«, erwiderte ich, aber ich war mir nicht so sicher. Die Welt schien aus gefährlichem Treibsand zu bestehen, der jederzeit Mütter und Präsidenten verschlingen konnte. Was sollte ihn daran hindern, uns an den Knöcheln zu packen und ebenfalls hinunterzuziehen?

Als der Bus an Rose’ Straße hielt, fragte sie: »Kommst du mit? Ich habe Angst, dass mich eine Bombe trifft.«

»Gut, ich bringe dich nach Hause.«

»Sie auch.« Rose zeigte auf Dottie, die uns gegenübersaß.

»Was?«, fragte Dottie.

»Wir bringen sie nach Hause«, sagte ich.

Tillie Clemmons, unsere Busfahrerin, putzte sich die Nase und wischte sich über die Augen. »Wo wollt ihr denn hin?«

»Wir bringen sie nach Hause«, sagte Dottie.

»In Ordnung«, sagte Tillie. »Aber beeilt euch.«

Dann hielt Parker in seinem Streifenwagen neben dem Bus, und Tillie kurbelte die Scheibe runter und sprach mit ihrem Mann. Wir gingen mit Rose einen steilen Hügel hinauf, hinter dem, wie wir annahmen, ihr Haus lag. Offenbar hatte Tillie in der Zwischenzeit vergessen, weshalb sie da stand, denn als Parker weiterfuhr, schlossen sich zischend die Bustüren, und Dottie und ich blieben gestrandet zurück.

»So ein Mist«, fluchte Dottie. »Was machen wir jetzt?«

»Mich nach Hause bringen?«, sagte Rose.

Ich sah hinauf in den milchigen Himmel und wünschte, Tillie würde umkehren. Irgendjemand im Bus musste doch gemerkt haben, dass wir fehlten. Dottie fragte Rose: »Wie weit ist es denn noch bis zu euch?«

»Nicht weit.«

»Kann dein Vater uns nach Hause fahren?« Rose nickte.

»Na, dann mal los«, sagte Dottie. Wir latschten den schlammigen Weg hinunter und wirbelten Berge von gelbem Laub auf, das sich in den tiefen Spurrinnen gesammelt hatte. Rechts und links des Weges lagen rostige Überreste von alten Autos.

»Bist du traurig wegen dem Präsidenten?«, fragte ich Dottie.

»Weiß nicht. Ich hab keine Ahnung, was ich fühlen soll.«

»Habt ihr ein Flugzeug gehört?«, fragte Rose und duckte sich. »Vielleicht ist da oben ein Flugzeug.«

Der Weg führte weiter und immer weiter den Hügel hinunter, und irgendwann sagte Dottie: »Versteh mich nicht falsch, Rose, aber marschieren wir hier geradewegs zur Hölle, oder was? Wo ist euer Haus?«

»Da.« Rose zeigte in eine Richtung, aber wir sahen nur Bäume.

»Wie schafft es dein Dad bloß, hier langzufahren?«, fragte Dottie. »Das ist keine Straße, das ist eine Matschpiste.«

»Er fährt gar nicht mehr hier lang, seit sein Auto kaputtgegangen ist«, sagte Rose.

Wir blieben stehen und starrten sie an. Dann wechselten wir einen Blick. »Wie sollen wir jetzt nach Hause kommen?«, fragte ich Dottie. »Zu Fuß?«

»Wir könnten Leeman anrufen«, schlug Dottie vor. »Habt ihr ein Telefon, Rose?«

Rose nickte.

»Bist du sicher?«, hakte Dottie nach. Rose nickte wieder.

»Daddy ist wahrscheinlich noch nicht zu Hause«, sagte ich zu Dottie. »Was ist mit Madeline?«

»Die ist in der Stadt«, sagte Dottie. »Sie wollte zum Friseur.«

»Vielleicht ist der Laden ja zu, wegen dem Präsidenten.« Über dem Laubgeraschel war plötzlich ein Grollen zu hören.

»Was ist das?«, fragte ich, und dann rutschte ich aus und fiel in den Schlamm. Ich war von oben bis unten dreckig. »Mist. Grand kriegt einen Anfall, wenn sie das sieht.«

Dottie und Rose lachten.

»Das ist überhaupt nicht witzig.«

»Doch, ist es«, sagte Dottie. »Sieh dir nur mal deinen Hintern an.«

»Dazu müsste ich eine Giraffe sein«, pampte ich zurück. »Maul mich nicht an«, sagte Dottie. »Ich hab dich nicht geschubst.«

»Wo ist euer Haus?«, fragte ich Rose genervt.

»Da«, sagte Rose und zeigte wieder ins Nichts.

»Ich sehe keins. Wohnt ihr überhaupt in einem Haus?«

»Hey«, sagte Dottie.

»Tut mir leid.« Ich versuchte, mir den Matsch von Unterhose und Oberschenkeln zu wischen. »Aber es wird bald dunkel, und wir müssen irgendwie nach Hause kommen.«

Das Grollen wurde lauter.

»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte ich.

»Klingt wie ein Knurren«, sagte Dottie.

»Das ist Bigger«, sagte Rose.

»Wer oder was ist Bigger?«, fragte ich.

Ungefähr dreißig Sekunden später wussten wir es.

Bigger war ein riesiger brauner Hund mit kurzen, spitzen Ohren. Von seinem Maul troff rosafarbener Sabber. Er war mit einer dicken, rostigen Kette an einem Baum angebunden. Bei Rose’ Anblick schien in seinem unterbelichteten Hirn ein winziges Lämpchen anzugehen, denn etwa fünf Sekunden lang wackelte er mit seinem räudigen Stummelschwanz. Dann wurde ihm klar, dass er Dottie und mich noch nie gesehen hatte.

Wir machten einen Satz zurück, als er mit gefletschten Zähnen auf uns losging. Die Kette war zum Zerreißen gespannt. »Nichts wie weg hier, Dottie«, drängte ich, doch sie zeigte auf etwas.

»Jesses, guck dir das an.«

Nicht weit von Bigger entfernt hing eine Hirschkuh am Hals aufgeknüpft in einer Kiefer. Ihre Zunge baumelte in einer ekligen bräunlich rosa Masse heraus. Ihr Bauch war aufgerissen, und die Eingeweide hingen bis zum Boden. Ich hoffte, dass sie schon tot gewesen war, bevor jemand sie da aufgehängt hatte.

»Bigger beißt nicht«, sagte Rose.

»Wer zum Teufel seid ihr?«, rief eine drohende Männerstimme, und wir fuhren erschrocken herum.

Etwa drei Meter vor uns stand ein Riese von Mann. Sein schmutziger, grau-brauner Bart hing ihm auf die Brust wie ausgespuckte Rouladenfäden. Sein Flanellhemd war wohl mal rot und schwarz gewesen, aber das musste schon ziemlich lange her sein. Auf seinen verwaschenen Jeans waren lauter Flecken, die aussahen wie getrocknetes und frisches Blut. In der Hand hielt er eine schmutzige Schaufel.

»Das ist mein Poppy«, sagte Rose. »Und das sind Dottie und Florine. Sie haben mich nach Hause gebracht. Ich hatte Angst vor den Russen.«

»Was redest du denn da für ‘n Quatsch, Rose?«, sagte Poppy.

Dottie und ich wichen ein paar Schritte zurück.

»Was ist mit den Russen, Rose?«, fragte Poppy erneut. »Bigger, halt die Schnauze, du verdammter Köter.« Er holte aus und schlug dem Hund mit der Schaufel auf den Kopf. Bigger jaulte auf und verkroch sich winselnd ans andere Ende seiner Kette.

»Wisst ihr, wovon sie redet?«, fragte Poppy uns, und wir blieben stehen, damit wir uns nicht auch noch einen Schlag mit der Schaufel einfingen.

»Der Präsident ist tot«, sagte ich. »Er ist erschossen worden.«

Poppy lachte laut und schallend wie ein Wintervollmond. Dann verstummte er abrupt. »Was du nicht sagst. Hat jemand endlich so viel Verstand gehabt, ihm das Hirn wegzublasen? Das ist ein guter Tag, Rose.«

Er strubbelte ihr mit der Hand durchs Haar, genau wie Daddy es manchmal bei mir machte. Plötzlich wünschte ich mir nichts sehnlicher, als bei ihm zu sein.

»Wo wohnt ihr?«, fragte Poppy. »Hier in der Nähe?« Er trat einen Schritt auf uns zu.

»In Spruce Point«, antwortete Dottie rasch. Der Ort lag zehn Meilen von uns entfernt. »Wir müssen los. Wir sehen uns in der Schule, Rose.« Dann stieß sie mich an, damit ich mich in Bewegung setzte.

Als Rose »Tschüs« sagte, rannten wir los, überzeugt, dass wir jeden Moment den heißen Höllenatem von Bigger im Nacken spüren würden oder Poppys Schaufel, die sich in unseren Schädel grub. Wir rannten immer noch, als wir an der Route ioo ankamen, und weiter auf dem Weg nach The Point, das drei Meilen entfernt war.

Als wir hinter uns ein Auto kommen hörten, rief Dottie »Deckung!«, und wir warfen uns in den Straßengraben. Das Auto zischte vorüber, und erst als das Motorengeräusch verklungen war, standen wir wieder auf. Wir rannten, gingen und fielen in den Graben. Wir zerrissen uns die Kleider und zerkratzten uns Beine, Arme und Hände. Bei Einbruch der Dämmerung erreichten wir Rays Laden. Genau in dem Moment bog Daddys Pick-up um die Ecke. Er hielt an, und er und Bert sprangen heraus.

»Wo warst du?«, brüllte Daddy, packte mich an den Schultern und schüttelte mich. »Tu mir das ja nicht noch mal an, hörst du?« Seine Augen füllten sich mit Tränen.

Wir umklammerten uns, während Dottie und Bert zu ihrem Haus gingen.

Drei Tage später versammelten sich alle aus The Point bei Grand, um das Begräbnis des Präsidenten zu verfolgen; um das nervöse Pferd namens Black Jack zu sehen, mit den nach hinten gedrehten Stiefeln in den Steigbügeln, um die Trommeln zu hören und zuzusehen, wie John John vor dem Sarg salutierte.

Und wo war Carlie? War sie in der Menschenmenge, die sich entlang des Sargzugs drängte? War sie genauso fassungslos wie wir? Vermisste sie mich ebenso wie ich sie?

Am Tag nach dem Begräbnis begann die Schule wieder. Auf der Hinfahrt saßen Dottie und ich eine Bank vor Glen und Bud. Als wir uns Rose’ Haltestelle näherten, bremste der Bus nicht ab. Tillie grüßte den Fahrer eines kleineren Schulbusses, der am Ende von Rose’ Straße hielt, während wir weiterfuhren.

»Das ist der Bus für die Zurückgebliebenen«, sagte Glen, und alle verstummten.

Dottie sagte: »Hoffentlich können die Rose da helfen. Ist vielleicht ihre einzige Rettung.«