27
Daddy sagte Nein. »Ich kann das im Moment nicht«, sagte er zu mir. Es war am Tag nach dem kleinen Fest für Grand, und wir standen draußen im Hof. Er schliff den Rumpf der Carlie Flo ab, um sie auf den Start in die neue Saison vorzubereiten, der zufällig auf meinen Geburtstag fiel. Normalerweise war er schon ab Ende März mit ihr in der Bucht unterwegs, aber dieses Jahr war er spät dran. »Das verstehst du doch, oder?«
»Nein«, sagte ich.
Er nahm einen Eimer weiße Farbe, einen Rührstab und einen Pinsel und reichte sie mir. »Wenn das ein längeres Gespräch wird, Florine, dann mach dich nützlich, während wir reden. Die Kabine braucht einen neuen Innenanstrich.«
Er sah müde aus. Irgendwie sahen alle müde aus. Es war ein langer, harter Winter gewesen, und der Frühling hatte sich Zeit gelassen. Ich kletterte mit den Malsachen die Leiter hoch und ging in die Kabine.
»Warum kannst du nicht mit mir dahin fahren?«, fragte ich, während ich mit dem Stab die Farbe umrührte. Dünne Rinnsale von bernsteinfarbenem Öl verschwanden in dem Weiß.
»Ich weiß, du wirst wütend, egal, wie ich es formuliere, also sage ich dir einfach nur, ich will da nicht hinfahren, Florine. Mir ist nicht wohl dabei. Das wird mir nicht guttun, und dir auch nicht.«
»Woher willst du wissen, was mir guttut?« Er hatte die Kabine schon leer geräumt und die Fenster und den Fußboden mit Zeitungen abgedeckt, sodass ich einfach nur die Farbe auf Decke und Wände pinseln musste.
»Ich wusste, dass du das sagen würdest«, seufzte er. »Natürlich weiß ich nicht so genau, was dir guttut. Aber ich weiß, dass es mich dazu bringen wird, wieder über diese ganze Sache nachzudenken, und ich habe endlose Male darüber nachgedacht und davon geträumt, seitdem es passiert ist, und ich will nicht wieder damit anfangen.« Während er sprach, schliff er schneller. Ich strich mit dem Pinsel langsam über die Ränder der Wand, die zum Deck hinausging. Ich starrte auf das Weiß, bis es anfing, in allen Farben des Regenbogens zu schimmern.
»Es ist nur so, Daddy«, sagte ich, »du weißt, wie der Ort aussieht, an dem sie zuletzt war. Wenn ich ihn mir vorstelle, sieht er jedes Mal anders aus. Ich kenne die Straßen nicht. Ich weiß nicht, wie das Motel aussieht. Es verändert sich in meinem Kopf ständig. Wenn ich wüsste, wie es aussieht, könnte ich aufhören, es mir immer wieder vorzustellen, und zur Abwechslung mal an was anderes denken.« Ich streckte den Kopf durch das Kabinenfenster und sah zu ihm hinunter. Er sah zu mir herauf, das Gesicht verschwitzt und mit Holzstaub verklebt.
»Florine, das verstehe ich ja, aber ich kann das einfach nicht noch mal durchmachen. Wenn du deinen Führerschein und ein bisschen Erfahrung hast, kannst du meinetwegen mit Dottie rauffahren, oder vielleicht hat Grand auch Lust auf einen Ausflug.«
»Aber meinen Führerschein darf ich erst nächstes Jahr machen, oder?«, fragte ich.
»Ja«, sagte Daddy. »Aber du wirst sehen, ein Jahr geht schnell vorbei, und dann hast du deinen Führerschein, und wir können rumfahren, so viel du willst, damit du Übung kriegst.«
»Du willst mir also nicht diesen Gefallen tun?«
»Nein, nicht wenn ich das Gefühl habe, dass es uns beiden nicht guttut.«
Ich zog den Kopf wieder in die Kabine. Kein Wunder, dass Carlie sich so über dich aufgeregt hat, dachte ich. Das ist ja, als würde man mit einem verdammten Felsen sprechen, der in Beton gegossen ist. Ich strich die Kabine, so schnell ich konnte, dann kletterte ich die Leiter hinunter und ging davon.
»Florine«, sagte Daddy. Ohne mich umzudrehen, sagte ich: »Ich will nicht mit dir reden«, und ging weiter. Er fing wieder an zu schleifen, bevor ich außer Hörweite war.
Als ich fast am Ende der Einfahrt war, hörte ich das satte Tuckern eines Motors auf der Höhe von Rays Laden. Ein glänzendes schwarzes Auto mit rotem Verdeck kam die Straße nach The Point herunter und fuhr hupend auf mich zu. Ich brauchte einen Moment, bis ich den Fahrer erkannte. Bud hielt neben mir an und kurbelte das Seitenfenster runter.
»Lust auf ‘ne Spritztour?«, fragte er.
Ich lief zur Beifahrerseite, sprang hinein und sah mich um. Der ganze Innenraum war rot und warm, als säße man in einem Mund. Ich strich über den Ledersitz und grinste Bud an.
»Wann hast du den Wagen bekommen?«
»Gestern. Musste bis nach Augusta. Deshalb war ich auch nicht bei Grands Fest. Dad hat Susan und mich hingebracht, und dann sind wir hiermit zurückgefahren. Das Schätzchen läuft, als wäre die Springflut hinter ihr her.«
»Was ist das für ein Auto?«, fragte ich.
»Ein 1961er Ford Fairlane«, sagte Bud. »Dad wusste, dass der Typ ihn verkaufen wollte. Hat einen guten Preis für mich ausgehandelt.« Er zeigte mir alle Knöpfe und Schalter, und ich hörte zu, aber im Grunde nahm ich nur seine schmalen, kräftigen Finger wahr, die über die Instrumente glitten, und seinen Atem, der nach Kaffee roch. Und ich wusste jetzt, wie ich nach Crow’s Nest Harbor kommen würde.
Von dem Montag an fuhren Dottie, Glen und ich mit Bud zur Schule. Nie wieder Bus fahren.
»Fahr vorsichtig«, sagte Grand, als Bud mich an diesem ersten Morgen abholte.
Ich verdrehte die Augen, während ich auf der Beifahrerseite einstieg. »Keine Sorge, Grand«, sagte er, »ich passe schon auf.« Dottie kam von ihrem Haus herübergelaufen und kletterte auf den Rücksitz. »Willst du mich etwa mit Glen hier hinten sitzen lassen?«, fragte sie mich. »Komm, setz dich zu mir. Ich hab keine Lust, mich schon am frühen Morgen gegen seine Annäherungsversuche zu wehren.«
Bud schnaubte. »Glaubst du im Ernst, er ist dumm genug, dir auf die Pelle zu rücken?«
»Ob er dumm genug ist, hat damit gar nichts zu tun«, sagte Dottie. »Er denkt nicht mit dem Kopf, und ich will mir nicht den Bowlingarm verrenken, weil ich ihn mir vom Hals halten muss.«
Als wir bei Ray ankamen, wechselte ich nach hinten, und Glen spielte den Kopiloten. Wir fühlten uns wie die Könige, als wir an dem Tag nach Long Reach fuhren. Wir stellten den Wagen auf dem Parkplatz ab und gingen mit neuem Schwung in unseren Schritten zum Schulgebäude.
»Ist das nicht genial?«, sagte Susan zu mir, als wir in der Pause durch den Flur gingen. »Ich kann’s kaum erwarten, irgendwo zu parken.« Sie warf mir unter ihren schwarzseidigen Wimpern einen Blick zu.
Ich stellte mir vor, wie sich ihr zierlicher Körper an einem schummrigen Platz zwischen dichten Kiefern rittlings auf Buds schmale Schenkel schwang. »Ich muss gehen«, sagte ich und verschwand in meinem Klassenraum. Ich setzte mich an meinen Tisch am Fenster, sah hinaus in den sanftblauen Himmel und überlegte, wie ich Bud dazu kriegen konnte, mit mir in den Norden zu fahren.
Doch mit ein bisschen Unterstützung von Dottie und Glen schmolz er dahin wie ein Marshmallow im Lagerfeuer, »als ich ihm von meinem Plan erzählte. Wir fuhren jetzt seit knapp zwei Wochen mit ihm zusammen in die Stadt. Es war Freitag, der 17. Mai, der Tag vor meinem sechzehnten Geburtstag.
»Madeline hat mich gefragt, ob du Lust hast, morgen zum Geburtstagfeiern rüberzukommen«, sagte Dottie auf dem Weg zur Schule. Dottie hatte am 24. Mai Geburtstag, war also sechs Tage jünger als ich. Carlie hatte sich jedes Jahr etwas ausgedacht, um meinen Geburtstag zu etwas Besonderem zu machen, und Grand und Daddy hatten diese Tradition mehr oder weniger fortgeführt, aber zusätzlich suchte sich Madeline immer einen Tag in der Mitte für eine gemeinsame Feier aus. Da mein Geburtstag dieses Jahr auf einen Samstag fiel, fand Madeline wohl, das sei der beste Tag dafür.
»Von mir aus«, sagte ich.
»Was wünschst du dir denn zum Geburtstag?«, fragte Glen. Zu seinem Geburtstag vor einigen Wochen hatte er Rays alten Pick-up bekommen. Mit seinen Kavalierstarts hatte er innerhalb kürzester Zeit zwei Reifen platt gekriegt, und nun hatte Ray ihm den Wagen für einen Monat weggenommen, in der Hoffnung, dass Glen eine Lehre daraus ziehen würde.
»Ich weiß schon, dass ich das, was ich mir wünsche, nicht kriege«, sagte ich.
»Und das wäre?«, fragte Bud.
»Ich wollte, dass Daddy mit mir nach Crow’s Nest Harbor rauffährt, damit ich mir ansehen kann, wo Carlie gewohnt hat, und eine Vorstellung von der Gegend kriege, aber er hat sich geweigert.«
Wir fuhren gerade über den Pine Pitch Hill. Ich sah auf den Wald, in dem all die Jungen und Mädchen außer Stella damals ihr Leben verloren hatten. Warum hatte ausgerechnet sie überlebt?
»Wie war’s, wenn wir schwänzen und heute rauffahren? Bis Mittag sind wir da, wir schauen uns ein bisschen um, und dann fahren wir wieder zurück. Gegen sechs müssten wir wieder hier sein. Wir können ja sagen, dass wir noch in der Stadt geblieben sind. Oder dass wir warten mussten, bis Bud mit Bumsen fertig war.«
»Verdammt, Glen«, sagte Bud. »Halt die Klappe.«
»Ich versuch ja bloß, eine Ausrede für uns zu erfinden«, entgegnete Glen. »Schlag du doch mal was vor.«
»Ich schlage überhaupt nichts vor.«
»Ach, komm schon«, sagte Glen. »Wo ist dein Abenteurergeist?«
»Ich habe ein bisschen Geld«, sagte ich. »Grand gibt mir jede Woche fünf Dollar, und ich habe fünfzehn gespart. Das müsste für Benzin und ein bisschen was zu knabbern reichen.«
Bud sah mich im Rückspiegel an. »Du bist genauso verrückt wie Glen.«
»Das ist ja nichts Neues«, sagte ich, und unsere Blicke kreuzten sich, bis er wieder auf die Straße schauen musste.
Dottie besiegelte das Ganze. In einem seltenen Anfall von Übermut sagte sie: »Bald ist unsere Zeit hier zu Ende. War doch nicht schlecht, wenn wir noch mal was zusammen machen würden, bevor wir in alle Winde verstreut werden.«
»Was sagst du dazu?«, fragte Glen Bud.
»Ich sage nur >Feuerwerkskörper<.« Bud sah mich erneut im Rückspiegel an. Ich schenkte ihm ein so breites, rührseliges Lächeln, dass seine Augen tanzten, bevor er den Blick wieder auf die Straße richtete.
»Ich finde, Florine sollte kriegen, was sie sich wünscht«, sagte Glen.
»Jedenfalls diesmal noch«, sagte Dottie.
Bud schüttelte den Kopf, doch als wir bei der Schule ankamen, fuhr er daran vorbei. Wieder kreuzten sich unsere Blicke im Rückspiegel. »Sei vorsichtig, was du dir wünschst«, sagte er.
Wir fuhren durch Long Reach und überquerten die Hochbrücke, die über den Fluss führte. Direkt hinter der Brücke auf der rechten Seite war die Abzweigung nach Mulgully Beach. Ich folgte ihr mit dem Blick und stellte mir vor, wie Petunia dort entlangrollte, mit einer rothaarigen Frau und ihrer Tochter. Die beiden saßen in ihrem feudalen Innenraum, hörten Sommersongs im Radio und freuten sich auf den Strand, wo sie sich in die Sonne legen wollten.