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Crow’s Nest Harbor lag ungefähr drei Stunden entfernt die Küste hinauf. Von Carlies Beschreibung wusste ich, dass es eine Touristenstadt an einer Bucht war, neben der unser kleiner Hafen wie eine Pfütze aussah. Carlie und Patty waren jeden Sommer für ein paar Tage dorthin gefahren, seit ich alt genug war, ihnen nachzuwinken. Sie wohnten immer im Crow’s Nest Harbor Motel, ein kleines Stück abseits der Hauptstraße und nicht weit von der Bucht entfernt. Von den Postkarten, die Carlie mir jedes Jahr geschickt hatte, wusste ich, dass das Motel einen Swimmingpool und hübsche, helle Zimmer besaß. Carlie hatte mir versprochen, mich mitzunehmen, wenn ich ein bisschen älter wäre.

Der Anruf kam von Patty. Sie erklärte Daddy, sie und Carlie hätten gegen zehn zusammen im Motel gefrühstückt, dann habe Carlie gesagt, sie wolle in die Stadt, zu einem Kleiderladen, wo sie am Dienstag etwas für mich entdeckt hätte. Es könnte eine Weile dauern, aber am frühen Nachmittag wäre sie zurück.

Patty legte sich mit einem Buch an den Pool, las, schwamm ein wenig und schlief in der Sonne ein. Als sie aufwachte, beschloss sie, in der Stadt zu Mittag zu essen; vielleicht würde sie Carlie ja irgendwo treffen. Doch sie sah sie nicht, und so ging sie zurück ins Motel, um dort zu warten. Um fünf fing sie an zu überlegen, ob sie vielleicht etwas falsch verstanden hatte, und machte sich noch einmal auf den Weg in die Stadt. Sie ging zu dem Kleiderladen und fragte die Verkäuferin nach Carlie. Ja, sie war hier gewesen, aber vormittags, so gegen elf. Bis sieben Uhr lief Patty durch die Straßen und hielt nach ihr Ausschau, dann kehrte sie zum Motel zurück. Um halb elf, als Carlie immer noch nicht aufgetaucht war oder sich gemeldet hatte, beschloss Patty, Daddy anzurufen.

Das war die Geschichte, wie Daddy sie später allen erzählte. Während er telefonierte, hatte ich die Besorgnis in seiner Stimme gehört, deshalb stand ich auf und ging zu ihm in die Küche.

»Wenn du was von ihr hörst, sag ihr, sie soll mich anrufen«, sagte Daddy und legte auf. Er stützte sein stoppeliges Kinn in die Hand und sah mich an. »Wieso bist du auf?«

»War das Carlie?«, fragte ich.

»Nein. Das war Patty.«

»Wo ist Carlie?«

»Gute Frage«, sagte er. Als er meinen Gesichtsausdruck sah, fügte er hinzu: »Ach, du kennst doch deine Mutter. Manchmal macht sie ihre Extratouren. Wahrscheinlich hat sie bloß vergessen, Patty Bescheid zu sagen. Ich bin sicher, Carlie meldet sich morgen früh bei uns.«

Er sagte, ich solle wieder ins Bett gehen, das würde er jetzt auch tun. Ich tat es, stand aber kurz danach wieder auf und tapste zum Schlafzimmer.

»Daddy?«

»Geh wieder ins Bett, Florine«, sagte er, setzte sich jedoch auf und schaltete die kleine Nachttischlampe ein. Er fuhr sich durchs Haar und stand auf. Er hatte noch seine Sachen an, und die Tagesdecke lag auch noch auf dem Bett. Zusammen gingen wir in die Küche und setzten uns an den Tisch.

»Willst du Milch oder irgendwas?«

»Nein.«

»Aber ich nehme mir welche, wenn du nichts dagegen hast.« Er goss etwas Milch in einen kleinen Topf und schaltete den Herd ein. Zischend flammte ein blauer Gasring auf. »Grand hat mir früher manchmal heiße Milch gemacht.«

»Was ist, wenn Carlie was passiert ist?«, fragte ich.

»Wir sollten uns keine Sorgen machen. Bestimmt ist sie ins Motel zurückgekommen, als Patty schon geschlafen hat, und sie wollte sie nicht wecken, und deshalb weiß sie nicht, dass Patty hier angerufen hat.«

Als die Milch anfing zu kochen, drehte Daddy das Gas ab. Er nahm eine Flasche Whiskey aus dem Hängeschrank über dem Herd, goss sich ein Schnapsglas davon ein und kippte es in einen Becher. Dann gab er die heiße Milch darüber und nippte daran.

»Das sieht lecker aus«, sagte ich.

Daddy schenkte einen kleinen Schluck von der Mischung in das Schnapsglas und gab es mir. Ich kippte die Flüssigkeit in einem Zug runter und merkte kurz darauf, wie ich müde wurde.

Daddy brachte mich ins Bett und deckte mich zu; das hatte er schon seit Jahren nicht mehr gemacht.

»Schlaf jetzt«, sagte er und gab mir einen ganz leichten Kuss auf die Stirn. »Bis morgen früh.«

Am Donnerstagmorgen rief Carlie nicht an, und Daddy fuhr nicht mit dem Boot raus. Er sprach noch mal mit Patty, und um zehn Uhr, ungefähr vierundzwanzig Stunden nachdem Carlie verschwunden war, rief er Parker Clemmons an, der informierte die Polizeiwache in Crow’s Nest Harbor, und die benachrichtigten die State Police.

Grand kam zu uns rüber. Um elf rief Parker an und sagte, die Polizei brauche ein Foto. Ob wir eins hätten? Er würde es nach Crow’s Nest Harbor bringen, und Daddy solle mitkommen. Nein, ich solle besser bei Grand bleiben. Ich wurde furchtbar wütend, weil er mich hierlassen wollte, aber Daddy blieb stur. »Hilf mir lieber, ein Foto rauszusuchen«, sagte er.

Die Fotos lagen kunterbunt durcheinander in einem alten gelben Koffer mit von Mäusen zerfressenen Riemen unter dem Bett meiner Eltern. Carlie hatte mir versprochen, dass wir beide sie irgendwann alle in Alben kleben würden, aber wir waren noch nicht dazu gekommen. Ich schleppte den Koffer in die Küche, und Daddy hob ihn auf den Tisch und löste die Riemen. Dann begannen er, Grand und ich, den Haufen durchzusehen.

Ich als dickes Baby. Ich, drei Jahre alt, mit Grands schwarzweißem Kater Poker, der schon vor langer Zeit sein Spiel beendet hatte. Daddy als Junge neben Grand, beide herausgeputzt in ihren besten Sonntagskleidern. Daddy und Carlie in einer Umarmung, den Blick zur Kamera gerichtet.

Carlie allein.

Ich zog das Foto aus dem Haufen. Carlie stand mit dem Rücken zum Hafen, das Haar vom Wind zerzaust. Sie sah in die Kamera, aber auf ihrem Gesicht lag nicht das vertraute übermütige Strahlen, sondern nur die Andeutung eines Lächelns, und ihre Augen waren ganz dunkel. »Nachdem ich das Foto gemacht hatte, habe ich sie gefragt, ob sie mich heiratet«, erzählte Daddy. »Ich konnte es nicht fassen, als sie Ja sagte.«

»Natürlich hat sie Ja gesagt«, bemerkte Grand. »Du bist das Beste, was ihr je passiert ist.«

»Na ja, sie ist auch das Beste, was …« Er legte seine bland auf meinen Kopf. Wir betrachteten Carlie, die uns aus dem Foto anschaute, dann sagte Daddy: »Sie hat sich kaum verändert, abgesehen von dieser blöden Haarfärberei. Ich denke, das können wir nehmen.«

Am Nachmittag gegen drei brachen Daddy und Parker nach Crow’s Nest Harbor auf. Grand blieb über Nacht bei mir. Ich schlief mit ihr im Bett meiner Eltern, die Nase auf dem Kissen meiner Mutter, das nach ihrem Parfüm roch.

Auch am Freitagmorgen war Carlie noch nicht wiederaufgetaucht.

Die Nachricht breitete sich in The Point aus wie die Masern, und Freitagmittag kamen Evie, Dottie und Madeline, um Grand und mir Gesellschaft zu leisten. Dann erschien Ida mit Maureen, und Stella Drowns kam von Rays Laden zu uns rauf. Es passte mir nicht, dass Grand sie in unsere Küche ließ, aber Grand hätte gesagt, jeder ist willkommen, also ging ich mit Dottie, Evie und Maureen ins Wohnzimmer. Evie und Maureen schnitten Papierpuppenkleider aus einem Buch, das Ida mitgebracht hatte, um die beiden zu beschäftigen. Dottie und ich nahmen uns einen extradicken Archie-Comic und lasen die Geschichten mit verteilten Rollen. Aber die ganze Zeit über lauschte ich mit einem Ohr, was am Küchentisch gesprochen wurde, wo die Frauen saßen und eine Kanne Tee nach der anderen tranken.

Sie kannten Carlie nicht gut. Sie hatte sich in ihrem Leben mit Daddy und mir ein Nest geschaffen, aber sie war zu rastlos, um zu quilten wie Ida oder zu malen wie Madeline oder zu nähen und zu backen wie Grand. Carlie blieb gerne in Bewegung. So war sie eben.

Ich hörte, wie Stella sagte: »Aber irgendwie seltsam ist es doch. Fast so, als hätte sie es geplant.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Grand in scharfem Tonfall.

»Ich will damit nur sagen, das Ganze ist merkwürdig.«

Madeline meinte: »Eine Ehefrau und Mutter geht einkaufen und verschwindet. Das ist in der Tat merkwürdig.«

Ein kaltes Band schlang sich mir ums Herz. Ich stand auf und ging hinüber zur Küche. Als Grand mich bemerkte, sagte sie: »Florine, wollt ihr etwas zu essen?«

Ich beachtete sie nicht, sondern starrte Stella an. »Es ist überhaupt nicht merkwürdig.«

»Ach, Florine, so habe ich das auch nicht gemeint«, sagte Stella. »Ich denke nur laut.«

»Vielleicht denkst du besser mit geschlossenem Mund«, entgegnete ich.

»Florine, entschuldige dich«, sagte Grand streng. »So einen Ton will ich hier nicht hören.«

Ich murmelte: »Tut mir leid«, und setzte mich wieder ins Wohnzimmer.

Kurz danach gingen alle außer Madeline und Dottie, und der Tag zog sich hin. Grand ging hinüber, um die heimkehrenden Boote zu begrüßen. Sam und Bud waren für Daddy mit der Carlie Flo rausgefahren. Obwohl Dottie so ein unruhiger Geist war, blieb sie die ganze Zeit bei mir, weil ich das Haus nicht verlassen wollte. Ich hockte neben dem Telefon und wartete auf Nachricht.

Zum Abendessen machte Madeline mir einen Hotdog, genau so, wie ich ihn am liebsten mochte, aber ich schaffte es nicht, ihn aufzuessen. Gegen sechs klingelte endlich das Telefon, und Madeline nahm den Hörer ab. Daddy sagte ihr, die Polizei hätte jetzt Carlies Foto. Nein, sie sei nicht aufgetaucht, aber am nächsten Morgen würde die Polizei mit dem Foto überall in Crow’s Nest Harbor herumgehen und in den Geschäften fragen, ob jemand sie gesehen hatte. Dann kam Grand wieder rüber, und Madeline ging nach Hause.

Dottie und ich setzten uns draußen auf die Stufen. Dünne, purpurrote Wolken hingen wie Spinnweben im Zwielicht, noch lange nachdem die Sonne untergegangen war. Glühwürmchen tanzten über dem Rasen. Carlie liebte Glühwürmchen. »Ich mag es, wie sie aufleuchten, dann erlöschen und ganz woanders wiederauftauchen«, hatte sie mal gesagt. »Hier bin ich! Nein, hier! Das ist wie Zauberei.« Sonst holten Dottie und ich meist ein Glas und fingen sie ein, aber an dem Abend saßen wir einfach nur da und schwiegen. Gegen halb neun rief Grand uns herein. Sie ließ Dottie bei mir im Bett übernachten, und ich versuchte zu schlafen, aber Dotties stämmiger Körper und meine zerzausten Gedanken bedrängten mich zu sehr. Ich dachte, Dottie wäre längst eingeschlafen, deshalb zuckte ich zusammen, als sie plötzlich sagte: »Ihr ist bestimmt nichts passiert. Die Polizei findet sie schon.« Danach schlief sie ein, und ich lauschte eine Weile ihren Atemzügen, dann stand ich auf. Grand saß auf dem Sofa, strickte und schaute die Tonight Show mit Johnny Carson.

Ich setzte mich zu ihr.

»Wieso bist du noch auf?«, fragte sie.

»Ich will Carlie«, sagte ich. »Ich will meine Mutter.«

Grand legte ihr Strickzeug weg und zog mich an sich. Ich legte den Kopf auf ihren Schoß und schluchzte in ihr Kleid, während sie mir über den Kopf strich und »Schhh« machte. Johnny Carson wünschte allen eine gute Nacht, dann kam die Nationalhymne und dann nur noch Rauschen, aber Grand blieb einfach sitzen, streichelte mich und summte leise Kirchenlieder, bis ich einschlief.