36
Ich sah immer zu, dass ich auf den Beinen war, wenn Daddy nachmittags auf dem Heimweg von irgendwelchen Tischlerarbeiten bei mir vorbeischaute. Er brachte mir Milch, Butter und Brot, damit ich über die Runden kam.
»Alles in Ordnung?«, fragte er jeden Tag. »Brauchst du irgendwas?«
»Mir geht’s gut«, erwiderte ich. Wir unterhielten uns eine Weile in der Küche, dann sagte er: »Tja, ich muss rüber. Du kannst gerne zum Abendessen kommen. Stella würde sich freuen.«
Das bezweifelte ich, aber ich ging nicht darauf ein. »Ich hab noch Reste von gestern, Daddy, aber trotzdem danke.«
Die Schule hatte auch bei ihm angerufen. »Vielleicht lenkt es dich ja ein bisschen von Grand ab. Es hilft, sich zu beschäftigen. Sie wäre die Erste, die dir das sagen würde.«
»Ich gehe bald wieder hin«, log ich.
An einem Mittwochabend im Dezember sah ich mir gerade die Nachrichten an, als jemand mit dem Fuß gegen die Haustür donnerte. Ich zuckte zusammen, dann rief eine Stimme: »Ich bin’s, Bud.«
Ich machte ihm die Tür auf, und er kam mit einem großen Kochtopf in den Händen herein.
»Ma hat Muscheln gekocht«, sagte er. »Und zwar viel zu viele. Sie wollte sie nicht wegwerfen, deshalb meinte sie, ich sollte sie dir rüberbringen, falls du welche davon möchtest. Mit viel Butter und Knoblauch und einem Schuss Wein. Sind ziemlich lecker.«
Ich war schon so lange nicht mehr hungrig gewesen, dass ich vergessen hatte, wie sich das anfühlte. »Nett von ihr«, sagte ich. Er drückte mir den Topf in die Hand.
»Willst du einen Moment bleiben?«, fragte ich.
»In Ordnung. Aber ich muss gleich Susan abholen. Sie will mit mir ins Kino.«
»Wie geht’s ihr?«
»Gut.«
Ich stellte den Topf auf die Arbeitsfläche in der Küche. »Setz dich«, sagte ich.
Er ließ sich auf einem Küchenstuhl nieder, stand jedoch sofort wieder auf. »Ach, fast hätte ich’s vergessen.« Er griff in die Gesäßtasche seiner Flanellhose. »Magst du?«, fragte er und hielt mir eine Zitrone hin. In seiner dunklen, schwieligen Hand leuchtete sie wie ein Stück Sommersonne.
Als ich die Zitrone nahm, streiften meine Finger Buds Haut. Die Frucht war warm vom Aufenthalt in seiner Tasche, und ich legte beide Hände darum.
»Du solltest die Muscheln essen, bevor sie kalt werden«, sagte Bud.
»Mache ich. Sag Ida vielen Dank.«
Er steuerte auf die Tür zu, drehte sich jedoch noch einmal um. »Ich hab ganz vergessen, dir von dem alten Mann aus dem Krankenhaus zu erzählen. Erinnerst du dich? Seine Frau war gestorben, und er wusste nicht, was er tun sollte. Bert hat sich darum gekümmert, dass er Hilfe bekommt. Er ist jetzt versorgt.«
»Das ist gut.«
»Ma hat gesagt, du brauchst den Topf nicht abzuwaschen.« Und dann war er fort.
Ich warf die leuchtende Zitrone eine Weile von einer Hand in die andere und dachte daran, dass Gelb Carlies Lieblingsfarbe gewesen war. Ich biss in die Schale, und der Duft kitzelte mich in der Nase. Dann schnitt ich sie in der Mitte durch und drückte sie über den Muscheln aus. Ich aß alles auf. In der Nacht träumte ich von Gold und von Zitronen. Von Leuten, die in die Sonne davongingen. Von Buds Händen.
Gegen elf Uhr am nächsten Morgen, als ich noch tief und fest schlummerte, hämmerte jemand an die Tür.
»Florine?«
Stellas Stimme fraß sich durch die sechs Deckenschichten, unter denen ich mich vergraben hatte, und als ich darunter hervorlugte, sah ich sie im Schlafzimmer stehen. Auf der weißen Schürze, die sie im Laden immer trug, waren Fettflecken. Sie sah halb durchgedreht aus.
»Was machst du denn hier?«, fragte ich.
»Ich gehe runter, und ich will, dass du auch kommst«, sagte sie und verschwand.
Wofür hielt die sich? Ich verkroch mich wieder unter der Decke.
»Florine«, rief sie vom Fuß der Treppe. »Ich gehe nicht hier weg, bis du runterkommst. Ich mein’s ernst. Je eher du runterkommst, desto eher bist du mich wieder los.«
Das war ein Grund aufzustehen. Ich schwang meinen Hintern aus dem Bett, zog Carlies altes Popham-Beach-Sweatshirt und eine schmuddelige Jeans an, ging ins Bad und pinkelte. Ich fuhr mit den Fingern durch mein zerzaustes Haar, dann band ich es mit einem Gummi zusammen. Ich überlegte, ob ich mir die Zähne putzen sollte, aber da ich sowieso gleich Tee trinken würde, ließ ich es bleiben und ging nach unten. Der Wasserkessel pfiff bereits. »Was ist los?«
»Setz dich«, sagte sie. »Ich will mit dir reden.«
»Ist mit Daddy alles in Ordnung?«, fragte ich und blieb stehen.
»Was denkst du denn?«
»Als er gestern Abend hier war, sah er okay aus.«
»Ja, natürlich.« Stella stellte zwei Becher auf den Tisch und setzte sich. Ich ging zum Kühlschrank und nahm die Milch heraus.
»Willst du auch?«, fragte ich.
»Nein. Setz dich, Florine.« Stellas Stimme zitterte. Im Zeitlupentempo ließ ich mich auf einem Stuhl nieder. Der Beutel in meinem Becher hatte ein Loch, und ein paar Teeblätter schwammen an der Oberfläche. Ich stupste sie an, damit sie nach unten sanken, dann ließ ich den Beutel auf und ab wippen, sodass noch mehr Teeblätter herauskamen.
»Ich bin heute Morgen mit deinem Vater ins Krankenhaus gefahren«, sagte Stella. »Er hatte Schmerzen in der Brust.«
Ich hielt im Wippen inne.
»Es geht ihm gut«, fuhr sie fort. »Aber der Arzt hat gesagt, er muss sich schonen und mit dem Trinken aufhören, und vor allem darf er sich nicht mehr so aufregen.«
»Dann reg ihn halt nicht so auf«, sagte ich.
»Herrgott, du machst mich wahnsinnig. Du bist der Grund, dass dein Vater in diesem Zustand ist.«
»Das ist doch Quatsch.«
»Er macht sich schreckliche Sorgen um dich. Er steht kurz vor einem Herzinfarkt, weil du den ganzen Tag nur noch schläfst und nicht mehr zur Schule gehst.«
»Sag ihm, er braucht sich keine Sorgen zu machen. Mir geht’s gut. Das ist reine Zeitverschwendung.«
Stella stand auf und schob ihren Stuhl an den Tisch. »Nein. Sag du es ihm selbst. Und übrigens, dein Hass auf mich verletzt deinen Vater nur noch mehr. Mir ist es schnuppe, wenn du mich für den letzten Dreck hältst, aber ich sehe nicht zu, wie dein Vater darüber krank wird. Er denkt, er hat dich auch noch verloren.«
»Er kann jederzeit zu mir kommen. Ich bin hier.«
»Oh ja, das bist du. Selbst wenn du nicht vor ihm stehst, bist du immer da. Ich bin’s leid, wie du auf der Tatsache herumreitest, dass du deine Mutter verloren hast. Er denkt, du gibst ihm die Schuld daran. Das tut er selbst schon, du Dummkopf. Und nebenbei bemerkt bist du nicht die Einzige, die jemanden verloren hat. Damit kenne ich mich auch ganz gut aus.« Ihre Hand strich über die Narbe auf ihrem Gesicht.
»Wer reitet denn jetzt auf Tatsachen herum?«, sagte ich.
Sie ging mit ihrem Becher zur Spüle, ließ Wasser hineinlaufen, stellte ihn polternd ab und drehte sich wieder zu mir um. »Ich liebe deinen Vater. Es tut mir sehr leid, dass er das alles durchmachen musste, aber so war es nun mal, und ich bin dankbar, dass ich diese Chance mit ihm bekommen habe. Ich hoffe, du wirst eines Tages mit der Liebe deines Lebens zusammen sein. Und ich hoffe, du musst dich dann nicht mit einer unausstehlichen Göre herumschlagen, die dich hasst, nur weil du nicht diejenige bist, die sie sich wünscht.«
»Ich wünschte, du wärst tot«, sagte ich. »Das ist es, was ich mir wünsche.«
Sie atmete tief ein. »Ich muss zurück zur Arbeit«, sagte sie. »Ich bin vorbeigekommen, um dir das mit deinem Vater zu sagen. Grand hätte sich geschämt für die Art und Weise, wie du mit mir geredet hast. Wenn du nicht mit diesem Unsinn aufhörst und es Leeman schlechter geht, werde ich dir jeden verdammten Tag die Hölle heißmachen, bis eine von uns die andere umbringt. Willst du, dass ich jeden Tag hier aufkreuze?«
Ich ballte die Hände in meinen Taschen zu Fäusten.
Dann stiegen ihr plötzlich Tränen in die Augen, und sie sagte: »Es war nicht meine Schuld, Florine.«
Sie ging, und ich schüttete den Rest von meinem Tee in den Ausguss. Die Teeblätter breiteten sich im Becken aus. Ich wusste, dass sie ein Schicksal verkündeten, aber ich konnte es nicht lesen, deshalb drehte ich den Wasserhahn auf und spülte sie weg.
Gegen fünf kam Daddy vorbei. »Was kochst du?«, fragte er. »Käsemakkaroni«, sagte ich. »Nach Grands Rezept.«
»Schön. Kommt Dottie?«
»Das ist nicht für Dottie.«
»Ah.«
»Hattest du vor, mir von dem Arztbesuch zu erzählen?«, fragte ich.
»Ich hatte Stella gebeten, dir nichts davon zu sagen. Aber es gibt keinen Grund zur Sorge.« Ich sah ihn an. Sah ihn mir genau an. Die Schatten unter seinen Augen brachen mir das Herz. Er trat von einem Fuß auf den anderen und sagte: »Ich geh dann besser mal.«
Ich griff nach der Auflaufform. »Ich komme mit.«
Er stutzte. Dann sagte er: »Na, dann mal los.«
Als wir ins Haus kamen, stand Stella am Herd. Der Gesichtsausdruck, mit dem sie sich umdrehte und Daddy begrüßte, ließ sie wie siebzehn aussehen. Doch als sie mich bemerkte, hielt sie inne und starrte mich an.
»Ich dachte, du könntest mal etwas Nachhilfe gebrauchen, wie man anständige Käsemakkaroni macht«, sagte ich. »Deine sind furchtbar.«