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Es dauerte fast einen Monat, bis ich mich bewegen konnte, ohne zu fluchen oder vor Schmerz aufzuschreien. Als die Wunden verheilt waren und ich nicht mehr so starke Medikamente brauchte, meinte Jane, es sei an der Zeit, dass ich nach Hause kam.
Am 24. Februar, genau einen Monat nach dem Unfall, rollte sie mich, flankiert von Daddy und Dottie, zum Ausgang. Daddy war statt mit seinem Pick-up mit Madelines Auto gekommen, und zu dritt hievten sie mich auf den Rücksitz. Sie schoben mir ein Kissen unter das Korsett und die Halskrause und legten mein Bein hoch. Ich bat Jane, mich in The Point besuchen zu kommen.
»Da gibt’s Hummer umsonst«, sagte ich. »Und die Aussicht obendrein.«
Sie versprach es mir, aber ich wusste, dass sie es nicht tun würde. Engel kommen und gehen.
Stella erwartete uns in der Einfahrt, aber ich weigerte mich, sie anzusehen. Glen und Bud halfen Daddy, mich ins Haus und in mein ehemaliges Zimmer zu verfrachten. Dort erwartete mich ein Krankenhausbett samt Radio, einem kleinen Fernseher und einem Tablett für Essen, Bücher oder was ich sonst brauchte. Auf dem Tablett stand eine schmale Vase mit einer pinkfarbenen Rose und einer »Willkommen zu Hause«-Karte, die alle aus The Point unterschrieben hatten.
Dann gingen die anderen, und Daddy, Stella und ich blieben allein zurück.
»Hast du Hunger?«, fragte Stella.
»Warum hast du Andy und mich verpfiffen?«, entgegnete ich.
»Kann das nicht wenigstens eine Viertelstunde warten?«, sagte Daddy.
»Schon gut, Leeman«, sagte Stella. »Ich nehme an, sie hat ein Recht, danach zu fragen.«
»Allerdings«, sagte ich.
Sie holte tief Luft, und ihre Narbe lief dunkelrot an. »Ich weiß, du bist wütend. Und wenn ich gewusst hätte, was passiert, hätte ich es nicht getan. Aber, Florine, der Junge hat in einem eiskalten Sommerhaus gewohnt. Er hat mit Drogen gehandelt, und er hätte dich schwängern können. Oder ihr hättet verhaftet werden können.«
»Oder wir hätten beinahe bei einem Autounfall ums Leben kommen können, Herrgott noch mal«, sagte ich. »Und ich bin nicht schwanger, und wir hatten es mollig warm in dem Haus. Du hattest kein Recht, dich in meine Angelegenheiten einzumischen.«
»Ich hab doch schon gesagt, wenn ich gewusst hätte, was passiert, hätte ich es nicht getan.« Stellas Augen füllten sich mit Tränen. »Aber deinem Vater ging es nicht gut. Verdammt, Florine, du hast ja keine Ahnung, wie sehr er sich um dich sorgt.«
»Stella, Florine«, sagte Daddy. »Jetzt hört auf, alle beide.«
»Meinst du vielleicht, wenn ich tot gewesen wäre, hätte er sich besser gefühlt? Oder wolltest du mich loswerden?«, brüllte ich Stella an.
»Übertreib doch nicht immer so schamlos«, brüllte sie zurück. »Ich wollte dich nicht loswerden. Ich wollte, dass dir nichts zustößt und dass dein Vater aufhört, sich Sorgen zu machen. Das mit dem Unfall konnte doch niemand vorhersehen. Und wir müssen miteinander auskommen, ob es uns gefällt oder nicht.« Damit marschierte sie hinaus, verschwand im Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. »Ich muss mal«, sagte ich zu Daddy.
»Okay«, seufzte er. Er brachte mich ins Bad, half mir beim Aus- und Anziehen und brachte mich wieder zu meinem Bett.
»Tut mir leid, dass ich dir so viel Arbeit mache, Daddy«, sagte ich. »Ich hasse das.«
»Es macht mir nichts aus, dir zu helfen«, sagte er. »Ich bin einfach nur verdammt froh, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich dich verloren hätte. Aber, Florine, du musst irgendwie Frieden mit Stella schließen. Sie ist hier, um dir zu helfen, und ich kann nicht die ganze Zeit zu Hause bleiben. Ich muss arbeiten. Ich habe Kunden, und ich muss das Boot fertig machen. Meinst du, ihr zwei kriegt das irgendwie hin? Denn wenn nicht, weiß ich nicht, was wir machen sollen. Du bist noch nicht wieder gesund genug, um allein zurechtzukommen.«
»Dann muss ich ja wohl«, sagte ich.
»Sieht so aus«, sagte er.
Zwei Tage später ging er, um eine Tischlerarbeit zu erledigen, und ließ Stella und mich allein.
»Brauchst du irgendwas?«, fragte Stella ungefähr zwanzigmal.
»Nein«, antwortete ich und sorgte dafür, dass es auch so war, außer wenn ich zum Klo musste oder dreimal am Tag meine Übungsrunde durch die Küche und das Wohnzimmer drehte. Sie ging neben mir her und sagte: »Heute machst du das schon viel besser«, als wäre sie eine Krankenschwester. »Fühlst du dich besser? Du siehst jedenfalls besser aus.«
»Besser, besser, besser«, äffte ich ihren aufmunternden Tonfall nach, bis sie überhaupt nichts mehr sagte, sondern nur noch in meiner Nähe blieb, für den Fall, dass ich stürzte, was ich zum Glück nie tat.
Sie hatte sich bei Ray zwei Wochen freigenommen, aber der Cocktail, den ich ihr täglich verabreichte - zwei Teile Schweigen, ein Teil Giftigkeit, geschüttelt, nicht gerührt -, bekam ihr offenbar nicht, denn nach einer Woche band sie sich ihre Schürze um und marschierte wieder die schlammige Straße hinauf zum Laden. Sie kam ungefähr alle zwei Stunden, um nach mir zu sehen.
Im Haus war es still, wenn Stella nicht da war. Es steckte voller Erinnerungen an Carlie und an die erste Zeit ohne sie. Obwohl Stella die Küche in einem fröhlichen Apfelgrün gestrichen hatte und neuer, grün gesprenkelter PVC auf dem Boden lag, den sie so sauber hielt, dass man davon essen konnte, war ich plötzlich wieder elf Jahre alt und hoffte und wartete mit meiner ganzen Seele auf eine Nachricht. Als das Telefon klingelte, wurde ich fast verrückt. Ich konnte nicht zum Apparat kommen, und ich fragte mich, ob das der Anruf war, auf den wir gewartet hatten. Ich erinnerte mich, wie ich neben dem Telefon gesessen und nicht gewagt hatte, aus dem Haus zu gehen. Bei der Erinnerung fühlte ich mich so einsam, dass ich beinahe froh war, als ich Stella die Einfahrt heraufkommen hörte.
Eines Tages im März hatten Daddy und ich ein Gespräch, das schon lange fällig war. Er war an dem Tag zu Hause und Stella bei der Arbeit. Er kurbelte das Kopfteil meines Bettes hoch, damit ich aus dem Fenster sehen konnte. Dann setzte er sich neben mich in einen Schaukelstuhl, den er ein paar Jahre zuvor gemacht hatte. Jedes Mal, wenn er zurückschaukelte, knarzte der Stuhl.
»Das muss ich mal reparieren«, sagte er. »Irgendwas ist immer.« Er stand auf und öffnete das Fenster, damit ich die Luft einatmen konnte. Der Frühling kam nach The Point zurückgekrochen wie ein geschlagener Hund. Es regnete, und ich hörte, wie jeder einzelne Tropfen sich in den Winterschnee fraß. Das Licht vom Fenster spiegelte sich in Daddys Gesicht. Früher hatte es gestrahlt wie der Frühling, doch die Zeit hatte es in den dunklen, ledrigen Tönen des Spätherbstes gebeizt.
»Hier zu sein erinnert mich an Carlie«, sagte ich. »Es bringt alles zurück.«
»Ich weiß.«
»Was glaubst du, was passiert ist, Daddy?«
Er schaukelte ein wenig. »Tja, ich weiß es wirklich nicht. Es gibt eine winzige Chance, dass sie noch lebt, aber ich glaube nicht daran. Sie hätte dich nicht verlassen. Dazu hat sie dich viel zu sehr geliebt. Und da sie mir nie gesagt hat, dass sie mich nicht liebt, gehe ich mal davon aus, dass es auch nicht so war.«
»Meinst du, sie war hier glücklich? Ich hab oft gehört, wie ihr euch gestritten habt, weil sie verreisen wollte, mal wegfahren.«
»Ja, das war andauernd Thema«, sagte er. »Glaubst du vielleicht, ich bedaure es nicht, dass ich nie mit ihr verreist bin? Das hat mich schier zerrissen, nachdem sie fort war - all die Dinge, die ich nicht getan habe oder nicht tun wollte oder vor mir hergeschoben habe.«
»Sie konnte nicht stillsitzen, so viel ist klar«, sagte ich.
»Sie hatte keinen Platz, wo sie sich hinsetzen konnte.«
Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Offenbar sah man mir die Verwirrung an, denn Daddy sagte: »Das war nicht wörtlich gemeint. Ich meine, sie konnte sich nicht entspannen. Weißt du noch, wie du immer zu Grand gegangen bist, als ich nach ihrem Verschwinden so durchgedreht bin? Du hattest einen Platz, wo du hingehen konntest, von dem du wusstest, dass du willkommen warst. Wo du dich zu Hause gefühlt hast.«
»Ja.«
»Nun, Carlie hatte das nicht. Carlie hatte keinen Platz, wo sie sich einfach hinsetzen und sicher fühlen konnte. Von dem sie wusste, egal, was sie tut, es ist in Ordnung. So, wie sie aufgewachsen ist, war sie immer auf der Hut. Weißt du noch, wie wir mal bei ihren Eltern waren? Du warst noch ziemlich klein, wahrscheinlich hast du es vergessen.«
»Nein, ich weiß es noch«, sagte ich. »Ich wollte Robin als Schwester haben.«
»Erinnerst du dich an den Mann im Sessel?«
»Der sich den Boxkampf angesehen hat?«
Daddy sah mich erstaunt an. »Meine Güte, hast du ein Gedächtnis!«, sagte er, dann fuhr er fort: »Er war ein gemeiner Mistkerl. Hat sich ständig mit Carlie gestritten, als sie älter wurde. Wenn er betrunken war, hat er sie geschlagen und beschimpft. Die Mutter war keine große Hilfe. Wahrscheinlich war sie sogar eine nette Frau, aber sie hatte Angst vor ihm. Carlie ist abgehauen, wann immer sie konnte. Sie hat mir erzählt, dass sie oft aus ihrem Fenster auf das Dach der Veranda geklettert und dann runtergesprungen ist. Sie ist dauernd in der Stadt gewesen und hat sich jede Menge Ärger eingehandelt.«
»Das habe ich wohl von ihr geerbt«, sagte ich.
»Als sie sechzehn war, ist sie von irgendeinem Jungen aus der Stadt schwanger geworden.« Er senkte den Blick, als er das sagte. Vielleicht betrachtete er seine Füße, die reglos auf dem Boden blieben, während sein Körper hin und her schaukelte. Ich dachte: Ich habe irgendwo auf der Welt einen Bruder oder eine Schwester. Ich rechnete nach. Ich war siebzehn, also musste meine Schwester oder mein Bruder um die zwanzig sein. »Was ist aus dem Kind geworden?«, fragte ich.
»Sie hat es verloren«, sagte er. Mir sank das Herz. »Im sechsten Monat hat sie Wehen bekommen und ein totes Baby geboren.«
»Wie ist das passiert?«
Daddy schaukelte und sah aus dem Fenster. »Als sie schwanger wurde, hat ihr Vater sie übel beschimpft. Sie war ein nichtsnutziges Stück Dreck, eine Hure und so weiter. Sie musste die Schule abbrechen. Blieb zu Hause und versteckte sich. Niemand durfte was davon wissen. Kaum jemand im Haus hat mit ihr geredet - sie ging ihrem Vater aus dem Weg, blieb in ihrem Zimmer. Und du weißt, wie gern deine Mutter unter Menschen war. Das muss sie halb wahnsinnig gemacht haben. Eines Abends hielt sie es nicht mehr aus und kletterte aufs Dach, wollte in die Stadt. Mal rauskommen. Es war mitten im Winter, sie ist ausgerutscht und gefallen. Dann fingen die Wehen an. Sie traute sich nicht, um Hilfe zu rufen. Sie hat das Baby da draußen gekriegt. Es war tot.
Danach hat sie nur noch gewartet, gearbeitet und Geld gespart, um da wegzukommen. Als sie genug zusammenhatte, hat sie sich Petunia gekauft, ihre Sachen gepackt und ist abgehauen. Dann ist sie hier gelandet, und den Rest kennst du. Ihr Vater hat zu ihr gesagt, sie soll sich nie wieder blicken lassen, und glaub mir, sie hatte auch nicht die geringste Absicht, je wieder dorthin zurückzukehren. Deshalb sind wir nur das eine Mal dahingefahren. Ich dachte, es war gut, wenn du ihre Familie kennenlernst, aber es ist mir wirklich verdammt schwergefallen, ihn nicht grün und blau zu schlagen, als ich ihn da im Sessel sitzen sah. Du wusstest von alldem nichts, aber sie hat deswegen oft geweint. Sie war nicht immer der strahlende Sonnenschein, den sie dir gezeigt hat. Manchmal war sie auch traurig. In manchen Nächten hat sie sich in den Schlaf geweint.«
Ich fragte mich, wie es sein konnte, dass ich von diesem Teil meiner Mutter nichts mitbekommen hatte. Ich dachte, ich hätte von meinem Zimmer aus alles gehört. Wie hatte das meinen aufmerksamen Ohren entgehen können?
Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte Daddy: »Sie hätte mit dir darüber geredet, sobald du älter warst. Sie erinnerte sich nicht gern daran, aber es war ein Teil von ihr.«
Ich dachte zurück an den Nachmittag am Strand, als Carlie mir von ihrer Begegnung mit Daddy erzählt hatte. Ich hörte ihre Stimme, klar und deutlich: »Als ich klein war, stellte ich mir vorm Einschlafen immer vor, ich könnte fliegen. Ich flog an alle möglichen Orte, landete und sah mich um, ob ich dort jemanden kannte. Dann, als ich älter war, fuhr ich hierher, und da war dein Vater. Er ist ein guter Mann, Florine. Einer der besten, denen ich je begegnet bin.«
»Sie hat dich geliebt«, sagte ich zu Daddy. »Das hat sie mir immer wieder gesagt.«
»Freut mich, dass sie es dir gesagt hat. Manchmal, wenn ich draußen auf dem Wasser bin, rede ich mit ihr. Ich denke an all das, worüber wir je gesprochen haben. Meistens tröstet es mich.«
Ich schwieg eine Weile, dann sprach ich es endlich aus. »Sie ist tot, nicht wahr, Daddy?«
»Was auch immer damals passiert ist, es war nichts Gutes«, sagte Daddy. »Ich wünschte nur, wir könnten herausfinden, was geschehen ist. Damit wir endlich zur Ruhe kommen. Und sie nach Hause holen können.«
»Das wünsche ich mir auch, Daddy.« Jemand, den ich sehr geliebt hatte, flüsterte mir etwas ins Ohr. »Grand würde sagen, wir müssen ihrer Seele einen Ort geben, wo sie sich niederlassen kann. Wir müssen eine Art Zeremonie abhalten. Sie irgendwo zur letzten Ruhe betten, wo sie sich immer willkommen fühlt.«
Daddys Augen fingen an zu glänzen, und er fuhr sich mit der Hand darüber. »Im Sommer sind es sieben Jahre. Dann machen wir es, Florine. Was hältst du davon? Kannst du bis dahin warten?«
Das konnte ich. Wir hatten so lange gewartet. Was machten da ein paar Monate schon aus?