16
Bald nachdem Carlie und Daddy geheiratet hatten, baute Daddy einen kleinen Schuppen neben dem Haus, damit Petunia, Carlies Auto, bei schlechtem Wetter geschützt war. Seine Pick-ups standen in Regen und Schnee draußen und rosteten vor sich hin, aber nicht Petunia. Ich bekam nie die ganze Geschichte zu hören, wie Carlie zu dem Auto gekommen war - es hatte irgendwas mit Trinkgeldern und hübschen Augen zu tun -, aber Petunia war ihre Reisegefährtin. Als sie mit Patty in deren Wagen nach Crow’s Nest Harbor aufgebrochen war, hatte sie Petunia in der Einfahrt stehen lassen; es war ja Sommer. Nach ihrem Verschwinden hatten sich die Leute von der Polizei auf das Auto gestürzt wie Möwen auf Fischköder. Aber sie hatten nichts Verdächtiges gefunden, sofern man Kaugummipapier, einen rosa Lippenstift und einen geschmolzenen Schokoriegel (von mir) nicht als Beweismittel ansah. Der Anblick, wie Petunia da draußen stand und genau wie wir auf Carlies Rückkehr wartete, war so traurig gewesen, dass Daddy sie etwa zwei Monate nach Carlies Verschwinden in den Schuppen gefahren, die Flüssigkeiten abgelassen und die Tür hinter ihr zugemacht hatte.
Manchmal ging ich zu ihr, setzte mich auf den Fahrersitz, schaute durch die Windschutzscheibe und weinte, oder ich kletterte nach hinten und schlief ein wenig auf dem weichen, muffigen Rücksitz.
Im Winter 1964 jedoch besuchte ich sie überhaupt nicht. Nach meiner Tour zu den Klippen ging ich nur nach draußen, wenn es unbedingt sein musste, weil die Kälte meinen Fingern und Zehen nicht bekam. Es genügte mir, das Haus gegen eine mögliche Stella-Invasion zu verteidigen.
Petunia war in dem Winter trotzdem nicht einsam.
Eines Samstags, als Daddy in der Stadt war und ich in der Küche saß, sah ich, wie Bud durch den Garten der Butts heraufkam, dann nach links abbog und auf unseren Schuppen zuging. Er blickte sich kurz um und schlüpfte hinein.
Ich warf mir meinen Mantel über, stürmte hinaus zum Schuppen und riss die Tür auf. Bud saß auf dem Fahrersitz, die Hände am Steuer, und sah mich mit verlegener Miene an. Ich ging zur Fahrertür, und er kurbelte die Scheibe herunter.
»Was tust du da?«, fragte ich.
Bud zuckte die Achseln. »Mir dumm vorkommen.«
»So siehst du auch aus. Was machst du im Auto meiner Mutter?«
»Du lachst mich bestimmt aus.«
»Besser, ich lache dich aus, als wenn ich dir eine verpasse, dass du die Sonntagsglocken läuten hörst.«
Bud lächelte. »Würdest du glatt fertigbringen, so wütend, wie du aussiehst. Rück mal ein Stück, damit ich hier rauskomme.«
Ich trat einen Schritt zurück, und er stieg aus und machte die Tür zu. Wir gingen zur Vorderseite des Autos und lehnten uns an den Kühlergrill. Er tätschelte Petunias Motorhaube. »Ein schönes Auto«, sagte er.
»Sie gehört Carlie«, sagte ich.
»Meinst du, Carlie hätte was dagegen, dass ich mich reinsetze und so tue, als würde ich damit fahren?«
»Warum tust du das?«
»Naja, ich weiß, es klingt blöd«, sagte Bud. »Aber ich stelle mir einfach gerne vor, wie ich mit ihr herumfahre und wie die Leute uns angucken und denken, was für ein Prachtstück sie ist.«
Er sah mich mit offenen dunklen Augen und einem leichten Lächeln an, als vertraue er darauf, dass ich ihn schon verstand. Das gefiel mir, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte.
»Na gut, von mir aus kannst du drin sitzen«, sagte ich schließlich. »Solange du nicht rauchst.«
»Ich rauche nicht, das weißt du doch.«
»Ich hatte auch keine Ahnung, dass du dich hier reinschleichst und im Auto meiner Mutter sitzt. Wer weiß, vielleicht qualmst du ja ‘ne ganze Packung am Tag.«
»Ach Quatsch.« Bud löste sich von Petunia, und wir verließen den Schuppen. »Ich geh dann mal wieder«, sagte er. »Ist das für dich wirklich in Ordnung, wenn ich im Auto sitze?«
»Ja, ist es.«
»Danke«, sagte Bud. »Dann bis bald.« Er ging unsere Einfahrt hinunter, die Arme und Beine zu lang und schlaksig wie bei einer Marionette. An der Straße wandte er sich noch einmal um und winkte. Ich winkte zurück, dann verschwand er hinter dem Haus der Butts.
Das Telefon klingelte, und ich schoss ins Haus.
»Hallo?«, sagte ich.
»Florine, hier ist Parker Clemmons.«
Mein Herz setzte einen Schlag aus. »Habt ihr sie gefunden?«
»Nein, Schätzchen, leider nicht. Aber ich muss mit Leeman sprechen.«
»Du kannst es mir sagen. Er ist in der Stadt, aber ich richte es ihm aus, wenn er nach Hause kommt.«
»Danke, Florine, aber sag ihm, er soll mich anrufen, ja?«
Ich legte auf. Dann lief ich im Haus hin und her, bis ich Daddys Pick-up kommen hörte. Ich war draußen, bevor er den Motor abstellen konnte. »Parker hat gesagt, du sollst ihn anrufen«, sagte ich.
Daddy drückte mir einen Papiersack in die Hand und rannte ins Haus. Er war schwer, voller Nägel. Ich hätte ihn beinahe fallen lassen, als ich hinterherlief.
Daddys Hände zitterten, als er Parkers Nummer wählte. »Hallo, Parker? Florine hat gesagt, du hast angerufen. Ja. (Lange Pause.) Was? Wo haben sie sie gefunden? Wieso denn da? Und, soll ich rauffahren, oder was? Ja. Gut, ich warte, bis sie mich anrufen. Ja. Danke. Vielen Dank.« Mit verwirrter Miene legte er auf.
»Was hat er gesagt?«, fragte ich.
»Sie haben Carlies Handtasche gefunden. Die rosafarbene. Die mit der goldenen Schnalle.«
Ich erinnerte mich, wie sie mit der Tasche über der Schulter in Pattys Auto gestiegen war.
»In Crow’s Nest Harbor?«
Daddy schüttelte den Kopf. »Nein, in Blueberry Harbor. In einem Wald neben einer verlassenen Straße. Ein Mann war mit seinem Hund spazieren. Der Hund hat sie aus dem Schnee gebuddelt, und der Mann hat sie bei der Polizei abgegeben. Da war noch alles drin, Florine. Ihre Papiere, ihre Brieftasche. Geld. Alles.« Während er die Worte aussprach, sah ich, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte, als er begriff, was das bedeutete. Carlies Geld. Carlies Ausweis. Wenn sie noch lebte, hatte sie nichts mehr. Ich dachte genau dasselbe.
Blueberry Harbor lag fast eine Stunde südlich von Crow’s Nest Harbor, in unserer Richtung.
»Wenn du hinfährst, will ich mit«, sagte ich. Mir rauschte das Blut in den Ohren.
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, sagte Daddy.
»Ich komme mit.«
Später an dem Nachmittag fuhr Parker uns nach Blueberry Harbor. Wir betraten die kleine Polizeiwache und wurden in das Büro eines Detective Pratt geführt. Detective Pratt schien ungefähr in Daddys Alter zu sein. Die Haut um seinen Mund war faltig. Auf seiner Nase waren lauter große Poren, und aus seinen Nasenlöchern lugten schwarze Haare hervor. Auf der Stirn zwischen seinen wässrig braunen Augen hatte sich eine tiefe Furche eingegraben.
Er gab Parker und Daddy die Hand und nickte mir zu. »Junge Dame.« Dann setzten wir uns alle um einen kleinen runden Tisch. Er griff hinter sich und holte eine durchsichtige Plastiktüte hervor, in der sich Carlies Handtasche befand. Der »Inhalt«, wie Detective Pratt es nannte, war in einer anderen Tüte. Er öffnete die erste Tüte und legte die Handtasche vor uns auf den Tisch. Dann breitete er den »Inhalt« daneben aus. Carlies rote Brieftasche und ihr rotes Portemonnaie. Ihre kleine hellblaue Bürste. Kaugummi mit Nelkengeschmack und ein kleines weißes Taschentuch mit einem aufgestickten gelben »C« in der Ecke. Eine Puderdose mit Spiegel an der Innenseite. Ein Streichholzbriefchen mit der Aufschrift »Lobster Shack«. Ein Lippenstift in leuchtendem Rosa.
Ich streckte die Hand nach ihrer Brieftasche aus. »Florine«, sagte Daddy.
Ich sah Detective Pratt an. Er nickte, und ich nahm Carlies Brieftasche und klappte sie auf. Auf der linken Seite ein Fach für Wechselgeld, das Carlie nie benutzte, weil es zu klein war. Auf der rechten ein Foto hinter einer durchsichtigen Plastikfolie, auf dem drei Menschen zu sehen waren. Das Foto hatte Wasserflecken, aber ich konnte uns noch erkennen. Madeline Butts hatte das Bild unten am Kai aufgenommen, in dem Sommer, als ich zehn war, ein Jahr bevor Carlie verschwand. Daddy hatte das eine Knie gebeugt, und Carlie saß auf seinem Oberschenkel. Sie hielt mich vor sich in den Armen, und Daddy hatte die Arme um uns beide gelegt. »Das ist meine Frau«, sagte Daddy.
Wir folgten Detective Pratts Wagen zu der Stelle, wo die Tasche gefunden worden war. Er führte uns über einen ausgetretenen, matschigen Weg in einen kleinen Wald oberhalb eines schneebedeckten Teichs.
»Hier hat der Hund sie ausgegraben«, sagte er und zeigte auf einen kleinen, von Absperrband umgebenen Kreis. Überall lagen Erdbrocken, die der Hund beim Graben aufgewühlt hatte. Doch die Erdbrocken und die leere, flache Mulde, in der die Handtasche zwischen halb verrotteten Blättern gelegen hatte, interessierten mich nicht halb so sehr wie der zugefrorene Teich, und nach und nach wanderten sämtliche Blicke dorthin.
»Sie ist nicht da unten«, sagte ich, aber meine Stimme schwankte.
Daddy rief »Herrgott noch mal!« und packte sich an den Kopf. Er ging zu einer Birke und trat mit voller Wucht dagegen. »Warum zum Teufel muss meine Tochter sich über so was Gedanken machen?«, brüllte er in den Wald. Dann riss er sich zusammen und kam zu uns zurück. Ich schaute hinüber zu der Birke. Dort, wo er den Stamm getroffen hatte, war das rohe Holz zu sehen.
»Ist schon gut, Daddy«, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.
»Nein, verdammt noch mal, das ist es nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Nichts ist gut.«
»Gleich am Montag suchen wir den Teich ab«, sagte Detective Pratt.
Der Wind, der vom Teich herüberwehte, war mild für einen Februartag. Ein Blauhäher landete über mir auf einem Ast. Er legte den Kopf schief und musterte uns mit seinen wachen schwarzen Augen. Er stieß ein heiseres Krächzen aus, dann flog er davon, sein leuchtendes Gefieder ein schwirrender Farbklecks über dem Eis des Teichs.
Im Auto auf dem Rückweg fragte Daddy Parker: »Was passiert jetzt?«
»Jetzt versuchen wir rauszukriegen, warum die Handtasche da war, wo sie war«, sagte Parker. »Und wir warten ab, was bei der Durchsuchung des Teichs rauskommt.«
»Sie ist nicht da unten«, sagte ich erneut. Ich weiß nicht, woher ich es wusste, aber ich wusste es. Der Teich war einfach einer aus der wachsenden Sammlung von Orten, an denen Carlie nicht war.