Vitamin D-Dilemma & Kalzium-Katastrophe
Ein letztes Fünkchen Hoffnung für die von Studienrückschlägen gepeinigten„Vitaministen“ gibt es noch: Besondere Aufmerksamkeit widmete die Fachwelt im ersten Halbjahr 2009 dem neuen „In“-Vitamin D, einem gepriesenen Multitalent zur Stärkung des Immunsystems und zum Schutz vor Autoimmunkrankheiten wie Allergien und Rheuma. Die Einnahme von Vitamin D wurde daher von zahlreichen Fachleuten empfohlen. Dabei kann unser Körper die hormonähnliche Substanz als einziges Vitamin selbst herstellen; dazu reichen bereits 15 Minuten Sonnenlicht am Tag. Neben der akut benötigten Dosis produziert unser Körper in den Sommermonaten darüber hinaus ein D-Depot, denn Vitamin D ist fettlöslich und damit speicherbar. Dieser Speicher reicht aus, um uns ganzjährig vor „gefährlichen Mangelerscheinungen“ zu schützen – denn diese sind in Deutschland auch im Winter sehr selten, erklärte die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie Anfang 2011. Stattdessen wird der gerne propagierte Vitamin-D-Mangel oft überbewertet. Die Einnahme von Vitamin-D-Präparaten sei daher nur in ärztlich begründeten Fällen erforderlich, denn eine Überversorgung kann gefährlich für die Gesundheit werden. Das sehen auch die eher Supplement-freundlichen Amerikaner so: Das US-Intsitute of Medicine erachtet die Vitamin-D-Versorgung als ausreichend, sieht jedoch Gesundheitsrisiken bei Überdosierung. Weiter bewerten auch Wissenschaftlicher aus Kalifornien die Nahrungsergänzung als sehr kritisch: Die Einnahme von Vitamin D könnte Rheuma und Allergien nicht bessern, sondern sogar verschlimmern und möglicherweise erst zu deren Entstehung beitragen. Auch die Vitamin-D-Forscherin Dr. Birte Hintzpeter vom Berliner Robert Koch-Institut warnte im Juni 2009 vor übereifriger Begeisterung: „Wir wissen nicht, wie sicher eine jahrelange Gabe ist.“ Hintzpeter fürchtet bislang unerkannte Nebenwirkungen, da die Wirkweise vom Vitamin D der von Steroidhormonen gleicht, zu denen etwa auch Cortisol gehört. Und im Gegensatz zur körperlichen Eigenproduktion besteht bei der zusätzlichen Gabe auch die Gefahr einer Überdosierung. Daher lautet die einstimmige Empfehlung seriöser Experten: Nicht selbst zu Vitamin-D-Produkten greifen, sondern die Substitution nur in Abstimmung mit dem Arzt und erst nach Feststellung eines Mangels von Vitamin D im Blut in Betracht ziehen. Und dass dieser Mangel sehr selten vorkommt, war bereits von deutschen Endokrinologen und amerikanischen Medizinern zu hören. Die US-Forscher sprachen übrigens zusammen mit der Vitamin-D-Warnung auch ihre Sorge hinsichtlich der Verwendung von Kalziumpräparaten aus. Die Einnahme sowohl von Vitamin D als auch von Kalzium sei unnötig und möglicherweise sogar gesundheitsschädlich: Zuviel vom Knochenmineral Kalzium kann zu Nierensteinen führen und die Adern verkalken. Letzteres bekräftigen australische Forscher der Universität Auckland sowohl im Herbst 2010 als auch erneut im April 2011 nach Analyse von 15 Studien: Kalziumpräparate erhöhen das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen und Herzinfarkt um 30 Prozent. Wie immer bei solchen Studien beginnt anschließend die öffentliche Diskussion diverser Fachgruppen, ob und wie gesichert die neuen Erkenntnisse sind. Sie hingegen können sicher sein: Zu den Themen Vitamin D und Kalzium werden sicher noch einige überraschende Erkenntnisse folgen. Es wären nicht die ersten Studien, die so manch gefeierte Vitamine und Nahrungsergänzungen wieder auf den Boden der wirkungslosen Tatsachen zurückholen – zahlreiche aktuelle Beispiele zeigt dieses Kapitel; wie auch abschließend der letzte „Fall Fischöle“:
Kennen Sie Omega-3-Fettsäuren? Wenn nicht, dann sind Sie wahrscheinlich herzgesund. Denn die vorwiegend in fettem Fisch enthaltenen Öle werden als Nahrungsergänzung häufig zur Vorbeugung und Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen empfohlen. Die fischigen Fette sollen studiengemäß Herz & Adern schützen und vor frühzeitigem Tod bewahren. Aber auch diesbezüglich verengten die Forschungsnetze kritischer Wissenschaftler 2010/11 die Sachlage: Französische Forscher der Université Paris fanden heraus, dass Omega-3-Fettsäuren nach einem Herzinfarkt oder Schlaganfall keinen Schutz vor weiteren Herz-Kreislauf-Erkrankungen bieten. „Der Gebrauch von Nahrungsergänzungsmitteln zur Prävention kardiovaskulärer Ereignisse kann daher weiterhin nicht empfohlen werden“, schlussfolgerte Professor Hans-Christoph Diener von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Diese Untersuchung „bestätigt somit erneut, dass positive Zusammenhänge aus Beobachtungsstudien keine gute Grundlage für Empfehlungen gegenüber Patienten sind.“ Zur Erinnerung: Auf diesen „Beobachtungsstudien ohne Beweiskraft“, die Sie bereits von Seite 64 kennen, basieren zahlreiche Empfehlungen zur „gesunden“ Ernährung und Nahrungsergänzung. Ein vergleichbares Fazit wie Diener zog auch Professor Michael Böhm, Ex-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie, anlässlich einer weiteren Studie an 32 niederländischen Kliniken, die ebenfalls keinen therapeutischen Nutzen der Fischfette nach einem Herzinfarkt beobachten konnte: Diese Studie habe zunächst einmal ergeben, dass man von Beobachtungsstudien mit positiven Ergebnissen „offenbar keine direkten therapeutischen Konsequenzen ableiten darf.“ Ergeben diese so genannten epidemiologischen Studien erst gar keine positiven Ergebnisse, so gerät der Autor auch nicht in den therapeutischen „Konsequenz-Konflikt“ – wie Ende 2010 Forscher aus Boston, die nach Analyse der „Framingham Heart Study“ keinen Effekt von Omega-3-reicher Kost auf das Auftreten von Vorhofflimmern finden konnten. Und eine weitere US-Studie, die auf dem amerikanischen Herzkongress 2010 vorgestellt wurde, spricht ebenfalls nicht für die „therapeutische Konsequenz“ Fischöl: Die Einnahme von Omega-3-Fettsäuren hilft nicht bei Vorhofflimmern (das ist übrigens eine Form von Herzrhythmusstörung). Für den Studienautor ist damit auch keine Wirksamkeit bei der schlimmeren Herzinsuffizienz zu erwarten. Das sehen italienische Forscher aus Brescia anders: ihre Studie habe einen positiven Effekt der Fischöle bei Herzinsuffizienz gezeigt. Auch diese „Studien-Story“ wird wohl weitergehen: „Sie wirken, sie wirken nicht, sie wirken, sie wirken nicht …“ Für alle Patienten, die diesen Produkten ihre Gesundheit anvertrauen, kann man nur auf einen schnellen und klaren Konsens der Forscher hoffen. Und bis dahin, schließen wir mit der Empfehlung der Österreichischen Arbeitskammer, die sich für den Schutz der Konsumenten stark macht: Fischöle am besten nur in Absprache mit dem Arzt einnehmen. Denn eine willkürliche und längerfristige Einnahme von Fischölkapseln in Eigenregie und ohne fachlichen Rat kann das Immunsystem schwächen und die Infektgefahr erhöhen, weil das Risiko einer chronischen Überversorgung besteht, anstatt einen Mangel zu beheben …