Fleisch, Salz, Ballaststoffe, Milch –
der Glaube verzehrt Berge

Noch immer Zweifel an der Wissensohnmacht? Dann entzaubern wir noch vier populäre Ernährungs(nase)weisheiten im Schnelldurchlauf: Die Europäische Organisation zur Krebsvorbeugung erklärte im Jahr 2000 nach der zusammenfassenden Auswertung aller relevanten Studien, dass kein Zusammenhang zwischen Darmkrebs und Fleischaufnahme bestehe. Auch gemäß der EPIC-Studie ist es nicht erwiesen, dass der Verzehr von rotem Fleisch (Rind, Schwein, Kalb, Lamm) mit einem erhöhten Risiko für Darmkrebs einhergeht. Ganz im Gegenteil, wie die Universität Oxford im März 2009 ergänzte: Die Analyse der Essgewohnheiten von über 60.000 Briten ergab, dass Vegetarier signifikant häufiger an Darmkrebs erkranken als Fleischesser – der Fleischverzicht erhöhte das Tumorrisiko um mehr als ein Drittel. „Solche Ergebnisse würden der bisherigen Auffassung widersprechen, dass Fleischkonsum gefährlich für den Darmkrebs ist“, meint dazu Professor Werner Hohenberger, Präsident der deutschen Krebsgesellschaft.

Einige Tage später erzeugte gleich die nächste Studie der Nationalen Gesundheitsforschungsinstitute der USA ein riesiges Rauschen im Blätterwald der Medien: Fleischesser sterben früher. Was jetzt? Kein Darmkrebs, aber trotzdem früher tot, wer der Fleischeslust frönt? Die amerikanische Studie hat nach Auswertung der Daten von über 500.000 Menschen ergeben, dass zwischen 11 und 16 Prozent der Männer und Frauen vielleicht länger gelebt hätten, wenn sie weniger rotes Fleisch gegessen hätten. Die Autoren kamen zu diesem Ergebnis, nachdem sie zehn Jahre vor der Datenanalyse einmal die Essgewohnheiten abfragten und daraus den Fleischkonsum abschätzten. Einschränkend geben die Forscher auch zu bedenken: Bei den ehemaligen und aktiven Rauchern bestand ein statistischer Zusammenhang zwischen dem Verzehr von verarbeitetem rotem Fleisch und einer erhöhten Sterberate an Krebs, nicht aber bei den lebenslangen Nichtrauchern. Ist vielleicht das (Ex-)Rauchen schuld am frühen Tod – und nicht Currywurst, Schinken und Bolognese? Das wird Ihnen sicher niemand sagen können. Die US-Studie aber sagt Ihnen noch: Wer viel weißes Fleisch isst, verringert sein Sterberisiko. Welch´ Überraschung, dass im Mai 2010 auch erneut eine „Rotfleisch-Entwarnung“ folgte: Wissenschaftler der Harvard School of Public Health kamen nach Analyse von 20 Studien mit 1,2 Millionen Teilnehmern zu der Erkenntnis, dass „unbehandeltes rotes Fleisch“ kein Risikofaktor für Herzerkrankungen und Diabetes sei – Schweineschnitzel, Lammrücken oder Rindersteak sind also „nicht ungesund“. Dafür packen die Harvard-Forscher jetzt aber die Wurst am Zipfel, denn angeblich sollen deren Zusatzstoffe krank machen.

Ist Ihnen der ganze Studiensalat rund ums Fleisch etwa Wurst? Gut so. Denn zur besseren Einordnung dieser Ergebnisse hilft der folgende Hinweis: Alle aufgeführten „Fleischstudien“ sind Beobachtungsstudien – wie übrigens die meisten Ernährungsforschungen (S. 64). Diese Art der Untersuchung erlaubt jedoch keine Aussage über Ursache und Wirkung der isolierten statistischen Zusammenhänge. Denn bei Beobachtungsstudien ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass andere Gewohnheiten aus dem 99,99%igen „Restleben“ abseits des Fleischkonsums die eigentliche Ursache der Forscherentdeckung sind.

Wie auch immer: Genauso wenig wie rotes Fleisch studiengemäß Darmtumore verursacht, schützt der Verzehr faserhaltiger Nahrung davor. Die Auswertung von 13 Studien mit fast 800.000 Teilnehmern, die 2005 im renommierten Medizinjournal JAMA veröffentlicht wurde, kam zu folgendem Ergebnis: Ballaststoffe bieten keinen Schutz vor Darmkrebs. Stattdessen soll fetter Fisch vor Darmkrebs schützen, teilte die Universität Jena im März 2009 mit. Lautet also die Schlussfolgerung der hier aufgeführten Studien: „Zum Schutz vor Darmkrebs essen Sie besser Fleisch & Fisch statt Gemüse & Körner“?

Das Salz in der Studiensuppe servieren weit über 50 Studien von Forschern aus aller Welt: Bis heute gelang es nicht, einen eindeutigen und ursächlichen Zusammenhang zwischen Salz und hohem Blutdruck zu beweisen. Die Ursachen für krankhaft erhöhten Blutdruck sind sogar bei rund 90 Prozent der Patienten unklar, erklärt die Deutsche Hochdruckliga. Und das für seine unabhängigen Analysen hoch geschätzte Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) kam im Juli 2009 nach Auswertung von 62 Studien zu der Erkenntnis: Menschen mit Bluthochdruck können durch salzarme Kost ihren Blutdruck zwar etwas senken, aber: Keine der Studien lieferte Belege für einen positiven Einfluss auf Folgeerkrankungen oder Sterblichkeitsrisiko bei dauerhaft erhöhtem Blutdruck. Auch ist nicht bekannt, ob weniger Salz eine Reduktion der Medikamenteneinnahme ermöglicht. Besteht statt des Wunschdenkens „weniger Salz = mehr Gesundheit“ etwa eine Verbindung zur steigenden Zahl depressiver Menschen, die den Salzmythos verinnerlicht haben und daher sorgfältig salzarm essen? Das wäre denkbar, denn Forscher der Universität Iowa verkündeten Anfang 2009, „dass auch ein Salzdefizit und das Verlangen danach zu den wichtigsten Symptomen führen kann, die man mit Depressionen verbindet“. Vielleicht mangelt es Deutschland wegen der Phobie vor dem „weißen Gift“ sogar an Nachwuchs: Eine zu salzarme Ernährung kann die Lust auf Sex dämpfen und Erektionsstörungen auslösen. Daneben leidet wahrscheinlich auch die Fruchtbarkeit darunter, erklärten französische Forscher nach der Analyse zahlreicher Studien fast zeitgleich zu ihren Kollegen aus Iowa. Vielleicht finden sich genau da die eigentlichen Gründe prüder Sittenwächter öffentlicher Institutionen, die einen Salzverzicht propagieren oder, wie in den USA, das Salz gar zu einer „gesundheitsschädlichen Substanz“ erklären möchten: Weniger Salz = weniger „böser Sex“! Aber Achtung: Salz kann von unserem Körper nicht gebildet werden, Salz ist also essenziell, es ist so wichtig wie Flüssigkeit. Zu wenig Salz bringt unseren Körper daher in arge Schwierigkeiten - so wurde Ende 2010 auf dem Kongress der Europäischen Gesellschaft für Bluthochdruck eine Studie vorgestellt, der zufolge eine salzarme Ernährung Infektionen und Entzündungen begünstigt. Und im Frühjahr 2011 überraschten Forscher der niederländischen Universität Löwen die Fachwelt mit einer Studie im angesehenen US-Ärzteblatt JAMA, die folgende Ergebnisse lieferte: Eine salzarme Diät sei nicht nur nutzlos, sondern erhöhe deutlich das Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben …

Fakt ist, dass bei gesunden Menschen in Sachen Salzkonsum gilt: Überdosieren kann man sich in der Regel nicht, denn unser Körper bestimmt seinen Bedarf durch den „Salz-Appetit“. Erstens haben wir unseren guten Geschmack, sodass uns versalzenes Essen nicht mehr mundet. Zweitens reagiert unser Körper im Falle des „Übersalzens“ mit starkem Durst – wir trinken dann mehr und scheiden die überschüssige Menge wieder aus. Es spricht also nichts dagegen, dass das Salz auch das „Salz in der Suppe“ bleibt …

Ein letztes Beispiel für Wissensohnmacht widmet sich dem natürlichen Nahrungsmittel junger Kälber: Das ewige Predigen der Milchpäpste hat uns eingetrichtert, nur Milch- und Milchprodukte liefern das nötige Kalzium für starke Knochen. Vergessen Sie das besser und betrachten stattdessen bitte die Etiketten von Mineralwässern. Dort sehen Sie Kalziumgehalte von bis zu 500 mg pro Liter – die Hälfte des Tagesbedarfs eines Standardmenschen. Interessant: Unser Körper kann das „Wasser-Kalzium“ besser aufnehmen als aus fester Nahrung und teilweise sogar besser als aus Milch, fand Professor Wolfgang Marktl von der Medizinischen Universität Wien heraus. Neben Wasser enthalten auch zahlreiche Gemüse wie Brokkoli, Grünkohl und Hülsenfrüchte nennenswerte Mengen des Knochenminerals. Statt Mangelpropaganda wegen Milchverzicht ist eher Vorsicht geboten: Zu viel Kalzium kann Prostatakrebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Osteoporose (Knochenschwäche) fördern. Fettreiche Milchprodukte stehen außerdem unter Verdacht, das Alzheimer-Risko zu erhöhen. Und einer aktuellen Studie der Bostoner Harvard-University aus 2010 zufolge steigert der vermehrte Konsum fettreicher Milchprodukte auch das Risiko für Herzkrankheiten signifikant. Die University of Maryland gab im gleichen Jahr sogar bekannt, dass Senioren, die viel fetthaltigen Käse und Milch essen, das höchste Sterberisiko aufweisen.

Übrigens: In Japan und China, wo traditionell wenig bis gar keine Milch getrunken wird, sind die Osteoporoseraten deutlich niedriger als hierzulande. Auch in Deutschland beginnt der zelebrierte Zusammenhang „viel Milch = starke Knochen“ zu bröckeln wie Hüttenkäse: „Wir konnten [bei den untersuchten Kindern und Jugendlichen] keinen spezifischen Zusammenhang zwischen Milchkonsum und Knochenmineralgehalt feststellen“, betonte Dr. Lars Libuda, Autor der seit 1985 laufenden Langzeitstudie DONALD des Forschungsinstituts für Kinderernährung (FKE) im Dezember 2008. Diese Aussage stammt aus einer Pressemeldung des FKE, die einen statistischen Zusammenhang zwischen „weichen Knochen und Softdrinks bei Kindern und Jugendlichen“ zur Diskussion stellt. Bewiesen ist nichts, begründet ebenfalls nicht, es gibt nur statistische Hinweise. Alle Medien, die diese Meldung aufgegriffen haben, entfernten konsequent das auf dieser Seite verwendete „Milchzitat“. Aber warum? Vielleicht, weil sich „Böse Limo macht weiche Knochen“ besser in das gelernte Ernährungswissen einfügt als „Gute Milch macht keine starken Knochen“? Auch hätte die Entzauberung der Milch als „Kinderknochenstärker“ die Aufmerksamkeit der Leser wahrscheinlich von den „skelettschmelzenden“ Softdrinks abgelenkt. Wie lautet Ihre Meinung? In Zusammenhang mit dem Thema „Übergewicht bei Kindern“ ist auf jeden Fall die Meinung von Professor Karl Zwiauer von der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde am Landesklinikum St. Pölten sehr interessant, der im April 2011 erklärte: Insbesondere ein erhöhter Konsum von zu viel Milcheiweiß in den ersten Lebensjahren führt zur verstärkten Ausschüttung eines Wachstumsfaktors, der die Bildung von Fettzellen und Fettspeicherung fördert. Dicke Kinder? Die Milch macht’s?! Bei älteren Kindern und Jugendlichen hingegen stehen Milch und Milchprodukte in Verdacht, Akne zu verschlimmern oder gar auszulösen – so das Ergebnis einer umfangreichen Studie der Universitäts-Hautkliniken New York und Chicago.

Das alles scheint den EU-Bürokraten egal, denn seit Mai 2010 wird in Deutschland eine Kinder-Milchkampagne mit Eurogeldern gefördert, die „täglich drei Portionen Milchprodukte“ propagiert (5-am-Tag ist ja schon belegt). Möchten die fördergeldverteilenden Europapolitiker vielleicht aus rein monetären Gründen den Kuhmilchkonsum ankurbeln, damit börsennotierte Großunternehmen wie die Nordmilch AG nicht länger deutschlandweit die meisten EU-Agrarsubventionen von über 50 Millionen Euro jährlich erhalten?

Doch Vorsicht – vielleicht erhöht der erhöhte Milchkonsum den kindlichen Cholesterinspiegel! Das wäre fatal, oder? Fatal wäre, wenn der „böse Bube“ Cholesterin in diesem Kapitel fehlen würde … daher abschließend ein paar Zeilen zu einem lebenswichtigen Stoff, ohne den in unserem Körper nichts läuft: Das meiste Cholesterin bildet unser Körper je nach Bedarf selbst, denn wir brauchen viel davon. Eine seiner Hauptaufgaben besteht darin, unseren Köper zusammenzuhalten: Cholesterin ist zentraler Bestandteil der Zellwände. Darüber hinaus benötigt insbesondere unser Gehirn viel von diesem unersetzlichen „Zellkitt“ – mit bis zu 20 Prozent Cholesterin in der Trockenmasse ist es das cholesterinreichste Organ des Menschen. Weiter stellt unser Körper aus Cholesterin beispielsweise Vitamin D her sowie die Sexualhormone Östrogen und Testosteron. Soweit, so gut. Seinen schlechten Ruf hingegen hat Cholesterin, weil es sich auch in den Wänden unserer Blutgefäße ablagern und diese dann verengen kann. Daher gilt der Stoff als „Risikofaktor“ für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Einen wissenschaftlichen Beweis aber, dass ein zu hoher Cholesterinspiegel allein einen Herzinfarkt verursacht, den gibt es bislang nicht.

Was es aber gibt, das ist die folgende Erkenntnis: Unsere Ernährung hat nur einen geringen Einfluss auf den Cholesterinspiegel, denn bis zu 90 Prozent des benötigten Cholesterins bildet unser Körper selbst. Wer gesund ist, muss sich also nicht den Kopf zerbrechen, wie viel Cholesterin im Essen drin ist. Unser Körper wird´s schon regeln … und wie er das macht, bestimmt die genetische Veranlagung. Auch diesbezüglich wird weiter fleißig geforscht und so entdeckten deutsche und dänische Wissenschaftler 2010 ein Gen, das maßgeblich an der Regulation des Cholesterinspiegels beteiligt ist. Und Forscher der University of Cincinnati erklärten im selben Jahr, dass das Hungerhormon Ghrelin für eine Steuerung der Cholesterinmenge im Blut sorgt, indem es im Gehirn wirkt. Übrigens ergab jüngst in 2011 die Untersuchung von über 50 Mumien, die bis zu 3.500 Jahre alt waren, dass schon die alten Ägypter an Gefäßverkalkungen litten – und das, obwohl sie sich gesund ernährt und mehr bewegt hatten als wir Menschen der Neuzeit. Wie der Cholesterinspiegel scheint wohl auch die Gefäßverkalkung in den Genen zu liegen und wäre demnach keine Folge des heutigen Lebensstils …

HUNGER & LUST: Das erste Buch zur Kulinarischen Körperintelligenz
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