Wissenschaft, die uns zu schaffen macht
Es scheint also ein Fehler im System zu stecken, wenn gelerntes Wissen zu „gesunder“ Ernährung nicht zum entsprechenden Handeln führt: „Wir ernähren uns jetzt gesund!“ Ergo wurde das Ziel der Aktion(en) leider verfehlt, denn die Zahl der Übergewichtigen sinkt nicht. Ganz im Gegenteil: Statistisch betrachtet werden wir Deutschen von Jahr zu Jahr dicker, obwohl wir so aufgeklärt sind wie noch nie. Haben die Kampagnen etwa das Gegenteil erreicht? Kollidiert Wunsch mit Wirklichkeit? Oder sind diese Aktionen Teil einer perfiden Strategie, mit dem unser hoch verschuldetes Land Geld sparen will, indem es „uns dick hält“? Denn Übergewichtige kosten das Gesundheitssystem laut einer holländischen Studie aus dem Jahr 2007 weniger Geld als schlanke Zeitgenossen, weil die Dünnen länger leben und im höheren Alter die Krankenkassen stärker belasten. Was auch immer der Grund für die Diskrepanz zwischen avisiertem Ziel und tatsächlichem Effekt sein mag, eines ist klar: Mit der rein rationalen Vermittlung von Wissen und der gewünschten Kontrolle des Essens über den Verstand wird nichts erreicht – fast nichts, denn diese Kampagnen haben einen gemeinsamen Effekt, der die Menschen von Jahr zu Jahr mehr verunsichert:
Wir wissen zu viel zum Thema „gesunde Ernährung“! Eine der Hauptursachen ist die permanente mediale Beweihräucherung insbesondere durch Fernsehen, Zeitschriften und Internet – laut Nationaler Verzehrsstudie sind die Medien Informationsquelle Nummer eins zum Thema Ernährung, weit vor dem Hausarzt. Aus allen Kanälen dauerberieseln uns Ratschläge zu gesundem Essen, zum Schönheitsideal und vor allem zu Mitteln und Wegen, wie wir schlank werden. Doch woher kommt diese unüberschaubare Fülle an Informationen? Die aufklärerischen „Fünf am Tag“-Bemühungen von Vater Staat sind ein Grund dafür. Hinzu kommt, dass sowohl Hersteller bestimmter Nahrungsmittel als auch wissenschaftliche Institutionen zahlreiche Studien durchführen, die in immer neue, vermeintlich gut gemeinte Handlungsanweisungen münden. Nicht zuletzt stehen große wirtschaftliche Interessen hinter dem Gesundheitspotenzial von Olivenöl, Kaffee, Wein, Sojabohnen, probiotischen Joghurtkulturen und zahlreichen weiteren „gesunden Nahrungsmitteln“. Den Redaktionen wird dieses „Potenzial“ meist per Pressemeldung serviert.
Die daraus resultierenden Artikelserien der von vielen Medien häufig ungeprüft übernommenen Forschungsergebnisse über gesundheitsfördernde Effekte von Kaffee und Wein, Nüssen, Brokkoli oder Tomaten gleichen einer unendlichen Geschichte. Daran beteiligen sich nicht nur Fitness-, Ernährungs- und „Health“-Magazine, sondern auch ein Großteil der Armada aus seriösen Tages- und Wochenzeitungen. Doch die aus dem gesamten Leben herausgelöste Bewertung einzelner Nahrungsmittel oder sogar ihrer Bestandteile als „gesund“ und die daraus resultierenden Ratschläge sind ebenso einfältig wie verantwortungslos. Den Menschen wird vorgegaukelt, Gesundheit sei mit diesem oder jenem Nahrungsmittel einfach essbar. Doch das ist ein Trugschluss: Gesundheitsrelevant ist allein die genetische Veranlagung, eingebettet in den gesamten sozialen und individuellen Lebensstil – und davon ist die komplette Ernährung wiederum auch nur ein Teilbereich. Der zusätzliche Konsum einzelner, als gesund propagierter Nahrungsmittel oder gar isolierter Substanzen wie Vitamine oder bestimmte Fettsäuren liefert sicher keinen gesundheitsfördernden Effekt.