Pünktchen und Ampel

Den fehlenden erzieherischen Einfluss der drei Punkte offenbarte im Sommer 2008 auch eine Untersuchung der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg: Die Kennzeichnung spiegelte sich unterm Strich nicht im Verhalten der Studienteilnehmer wider. Vor Einführung solle erst einmal die Wirksamkeit wissenschaftlich untersucht werden, meinte Studienleiter Joachim Westenhöfer, Professor für Ernährungs- und Gesundheitspsychologie. Einige Monate später aber schien auch dieser Wirksamkeitsnachweis für Westenhöfer nicht mehr erforderlich: „Wer meint, diese Art der Verbraucheraufklärung würde zu einer Lösung der Übergewichtsproblematik führen, der setzt auf ein tot gerittenes Pferd.“ So lautete sein Fazit, nachdem er sogar vier unterschiedliche Modelle zur Nährwertkennzeichnung getestet hatte. Auch die DGE in persona Dr. Helmut Oberritter ist übrigens nicht davon überzeugt, dass die Ende 2008 diskutierten Kennzeichnungsmodelle einen Beitrag zur Verringerung des Übergewichts leisten. So seien beispielsweise beim Ampelmodell die Grenzen zwischen den farbigen Pünktchen willkürlich gesetzt. Der verbraucherpolitische Sprecher der FPD, Hans Michael Goldmann, bezeichnete die Ampel im Juni 2009 sogar als „Ernährungsdiktatur“. Goldmann mahnte unsere Bundesministerin für Ernährung, Ilse Aigner, bei der Nährwertkennzeichnung nicht pro Ampel umzufallen. Denn Aigner zeigte sich nach massiver PR einzelner Hersteller, Verbände und Krankenkassen überraschend offen für die Ampel. Aber noch im Februar lehnte sie diese Farbgebung als „absurd“ ab und gab vorher in einem Interview zu bedenken: „Die reine Ampelkennzeichnung finde ich zu wenig aussagekräftig, auch weil erst mal übersetzt werden müsste, was überhaupt,Rot’ bedeutet.“ Die folgende Erkenntnis aus England bringt dieses Dilemma der Punkte auf den Punkt: 73 Prozent der Befragten waren überzeugt, die Kennzeichnung von Lebensmitteln mit der Farbe Rot bedeute, dass sie das Produkt überhaupt nicht essen sollten. Vergleichbare Missverständnisse wird es hierzulande wohl nicht geben, denn im März 2010 stoppte der Umwelt- und Gesundheitsausschuss im Europaparlament die Ampel in der EU: „Nicht verpflichtend.“ Keiner muss, jeder kann. Aber die Lebensmittelindustrie will nicht, also: Adieu Ampel in Allemagne … diese Absage an die Ampel ist übrigens auch für den unabhängigen Verbraucherdienst aid „kein großer Verlust.“ Die Vorstellung, dass alle ihr Essen und Trinken nach Ampelpunkten ausrichten, sei absurd und die Ampel ein Widerspruch in sich.

Vielleicht sind ampelfreie Verpackungen ja sogar „gesünder“, denn die roten Warnpünktchen können folgenden, allzu menschlichen Effekt ausüben: Statt das „böse“ Essen zu meiden, passiert gerne genau das Gegenteil – wir kaufen gerade die „verbotenen“ Produkte. Dieses Verhalten erklärt die psychologische „Reaktanztheorie“: Wird ein Mensch in seiner Freiheit eingeschränkt, selbstbestimmt zu handeln, versucht er, diese Freiheit wiederherzustellen, indem er genau entgegen der Regel handelt. Der rote Punkt löst dann sozusagen eine Trotzreaktion aus, weil sich der Verbraucher nicht von einer „Ampel“ bevormunden lassen möchte. Hinzu kommt, dass der Reiz des Verbotenen die Neugierde unserer Spezies geradezu weckt. Rote Punkte als psychologisches Lockmittel?

„Jetzt mach mal einen Punkt!“ – das würde man am liebsten auch zu den Plänen des EU-Gesundheitskommissars Markos Kyprianou sagen, der neben den Kalorienangaben auch Anteile an Zucker, Salz und gesättigten Fettsäuren einzeln auf die Packung drucken möchte: „Verbraucher müssen ablesen können, in welchem Verhältnis dies jeweils zur empfohlenen Tagesdosis steht.“ Seit Dezember 2010 ist klar: Derartige Pläne werden ab 2014 gelesene Realität auf den Lebensmittelpackungen in der EU … Na dann viel Spaß beim nächsten Einkauf. Belegen Sie besser vorher noch einen Crashkurs für Ernährungsberater, vergessen bitte Ihren Ernährungslaptop nicht und planen Sie ein paar Extrastunden für Ihren Supermarktbesuch ein – sofern Sie die ganzen Packungsangaben überhaupt interessieren.

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